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Franz Mehring 19000321 Die Obstruktion der Linken

Franz Mehring: Die Obstruktion der Linken

21. März 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 801-804. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 325-329]

Die Erwartung, dass die klerikal-konservative Mehrheit des Reichstags allen Protesten zum Trotze die kunst- und theaterfeindlichen Paragraphen der lex Heinze1 annehmen würde, hat sich erfüllt, gleichwohl aber ist die traurige Missgeburt noch nicht ans Licht der Welt gelangt, da es der Linken des Reichstags, der sozialdemokratischen und der freisinnigen Fraktion, durch eine geschickte Obstruktionstaktik gelang, den formellen Abschluss der Beratung zu vereiteln. Es kam darüber zu so stürmischen Szenen, wie sie der Reichstag kaum jemals früher erlebt hat, und die Philister, auch liberale Philister genug, sind deshalb ein wenig aus dem Häuschen. Aber man braucht die Obstruktionstaktik durchaus nicht zu lieben, um anzuerkennen, dass sie als Mittel zum Zwecke diesmal durchaus am Platze, ja absolut notwendig gewesen ist.

Zunächst war ihre formelle Berechtigung über jeden Zweifel erhaben. Die Macher der lex Heinze hatten ihr Machwerk seit Wochen fix und fertig, enthielten es aber absichtlich der Öffentlichkeit vor, weil sie die Kritik fürchteten und den Reichstag zu überrumpeln gedachten. Für einige Tage sollten alle Reaktionäre im Reichstag zusammengetrommelt und dann sollte mit aller Gewalt der hinter den Kulissen zurechtgemachte Entwurf durchgedrückt werden. Schon dieser taktische Plan genügte vollkommen, um der Minderheit das Recht zu geben, ihn mit jedem geschäftsordnungsmäßigen Mittel zu hintertreiben, allein in ihrer Ungeduld, früh fertig zu werden, erlaubte sich die klerikal-konservative Mehrheit auch noch, der Minderheit die Redefreiheit in der ungebührlichsten Weise zu verkürzen, so dass es geradezu nicht sowohl ein Recht wie eine Pflicht der Notwehr wurde, diesem frivolen Übermut die Wege zu weisen. Wer selbst im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen; wer ein angeblich so hoch-heiliges Werk, wie die lex Heinze, fertig stellen will, soll ihm auch ein paar Tage opfern können und sich nicht erdreisten, auf anderer Leute Kosten sein persönliches Behagen zu sichern, selbst auf die Gefahr hin, dass dabei das hochheilige Werk in die Brüche kommen könnte. Die Freunde der lex Heinze haben sich selbst die Grube gegraben, in die sie gestürzt sind; mit ein wenig Besonnenheit und Geschicklichkeit hätten sie vermutlich ihr holdes Kind aus der Taufe gehoben.

Sie sagen nun zwar: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben; nach den Osterferien kommen wir mit frischen Kräften wieder, und dann soll uns keine Obstruktion hindern, an unser herrliches Ziel zu gelangen. Dieser Einwand führt auf die Frage, ob die Obstruktion der Linken, formell berechtigt, wie sie unzweifelhaft war, auch praktisch zweckmäßig gewesen ist. Hätte es sich nur darum gehandelt, den viel zu spät aufgestandenen Künstlern noch einige Wochen zur Agitation zu verschaffen, so möchte es vielleicht zweifelhaft erscheinen, ob der Zweck den immerhin großen Aufwand gelohnt hätte. Es ist möglich und in höchstem Grade zu wünschen, dass die Künstler den ihnen gewährten Aufschub reichlich ausnutzen, aber es ist wenigstens nicht ausgeschlossen, dass sie, sei es aus taktischem Ungeschick, sei es aus anderen Gründen, die günstige Gelegenheit nicht auszubeuten verstehen und damit den Dunkelmännern die willkommene Gelegenheit verschaffen, sagen zu können, dass die Obstruktion ein Schlag ins Wasser gewesen sei. Allein die Rücksicht auf die Künstler ist weder der alleinige noch auch nur der entscheidende Grund der Obstruktion; sie war neben dem Gebot der Selbstachtung und der Pflicht der Notwehr namentlich auch deshalb nicht abzuweisen, weil es augenblicklich zum dringendsten Interesse der Nation im allgemeinen und der Arbeiterklasse im besonderen geworden ist, der ultramontanen Politik den möglichsten Abbruch zu tun.

In gewissem Sinne ist es nicht unrichtig, wenn viele Leute sagen: Wozu der Lärm um eine schließlich doch sehr gleichgültige Sache? Wird die lex Heinze fertig, so gibt es ein Polizeigesetz mehr im preußisch-deutschen Reiche, und was kommt darauf so sehr viel an in einem an Polizeigesetzen so überaus reichen Gemeinwesen? Die Polizei tut heute doch schon alles, was sie will, ganz besonders auch in Sachen der Kunst und des Theaters; was sie noch einschränkt, ist allein die Furcht vor einem allzu großen Übermaß von Lächerlichkeit, und diese Furcht wird auch dafür sorgen, dass die Bäume der lex Heinze nicht in den Himmel wachsen. Die einzige Wirkung des lieblichen Gesetzes wird also sein, dass die polizeiliche Willkür in höherem Grade als bisher die gesetzliche Weihe erhält, was für den deutschen Patrioten sicherlich sehr schmerzlich sein muss, aber übrigens den Kohl weder fett noch mager macht. In dieser Argumentation steckt ohne Zweifel viel Wahres; nur dass sie nicht erklärt, weshalb aus der lex Heinze, die in ihrem Ursprung gewiss ein beiläufiges Polizeigesetz war, eine Haupt- und Staatsaktion ersten Ranges geworden ist. Über ihre tatsächlichen Wirkungen werden sich auch die Ultramontanen schwerlich großen Illusionen hingeben, wenigstens die gescheiteren Ultramontanen nicht, zu denen schließlich doch die Führer der Partei gehören. Ihnen ist vielmehr die lex Heinze mit ihrer frechen Herausforderung der modernen Kunst und Literatur in erster Reihe wichtig als das Siegel, das auf die ultramontane Herrschaft im Reiche gedrückt wird, als die sozusagen offizielle Anerkennung des Satzes: Katholisch ist Trumpf. Sie sind müde, en canaille behandelt zu werden; sie wollen endlich einmal eine Quittung über die Dienste sehen, die sie der Regierung bisher mit patriotischer Uneigennützigkeit geleistet haben.

Es ist eine etwas schäbige Quittung, gewiss. Aber vielleicht liegt darin gerade ein Reiz mehr für die Ultramontanen, die Regierung, die ihnen nicht einmal das Jesuitengesetz preisgeben will, dem doch kein verständiger Mensch eine Träne nachweinen würde, unter das kaudinische Joch gerade dieses Gesetzes zu jagen. Die Annahme der lex Heinze wäre der erste rein ultramontane Triumph innerhalb der deutschen Gesetzgebung, und deshalb ist das Zentrum bereit, auch einen hohen Preis dafür zu zahlen, um so mehr, als es wohl weiß, dass es seinen Wählern endlich einmal ein Augenverblenden anrichten muss, wenn sie nachgerade nicht über die für sie so sehr kostspieligen Umfalle dieser glorreichen Führer ungeduldig werden sollen. Soweit es auf den Willen des Zentrums ankommt, segelt die neue Flotte mit der lex Heinze in den Hafen; geht dagegen die lex Heinze in Scherben, so hat auch die Pauke der Flottenpatrioten ein großes Loch erhalten. Es ist nicht unmöglich, dass die Ultramontanen, von denen man nachgerade alles erwarten kann, auch dann noch umfallen werden, aber wahrscheinlich ist es nicht, während mit der Annahme der lex Heinze auch die Annahme der Flottenvorlage so gut wie besiegelt gewesen wäre.

Nach alledem wäre die Obstruktion der Linken auch dann notwendig und nützlich gewesen, wenn die klerikal-konservative Mehrheit späterhin wirklich noch die lex Heinze fertig bringen sollte. Die von Anfang an etwas schäbige Quittung ist jetzt so schäbig geworden, dass sie auch von den ultramontanen Wählern nicht mehr wohl als kursfähiges Papier betrachtet werden kann. In ungleich höherem Grade als die Revolte der Künstler2, hat die Obstruktion der Linken die Aufmerksamkeit der weitesten Volkskreise auf die ganze Abgeschmacktheit und Albernheit der ultramontanen Machenschaft gelenkt und überhaupt eine sehr wohltätige Aufrüttelung der Geister herbeigeführt. Bis in die antisemitischen und konservativen Kreise hinein beginnt man von der lex Heinze abzurücken; sogar die „Post" findet ein Haar darin, und es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass der vorläufig ausgesetzte Wechselbalg gar nicht wieder in die Wiege gelangt, sondern nach Verdienst auf der Straße verendet, auf die er geworfen worden ist. Aber auch in dem ungünstigeren Falle wäre ein Erfolg erreicht worden: Der Stempel, den die herrschende Partei auf ihre Herrschaft drückte, würde so verräterisch ausschauen, dass die ultramontane Partei schon von selbstmörderischen Neigungen geplagt sein müsste, um ihn mit einem halben Dutzend Milliarden für die neue Flotte zu bezahlen.

Wie sehr die Pläne des Zentrums durch die Obstruktion der Linken gekreuzt worden sind, zeigt die blinde Wut der ultramontanen Presse. Ganz in der Manier des „diokletianischen Christenverfolgers" Bismarck droht sie, die „Klinke der Gesetzgebung" zu ergreifen, um sich für die verdiente Niederlage zu rächen; sie will die Geschäftsordnung revidieren und so dem reaktionären Klüngel, der augenblicklich die Mehrheit im Reichstag hat, die ungestörte Ausführung seiner Intrigen sichern. Soweit ist das Zentrum nun schon glücklich gelangt, bis zur Drohung mit denselben kindisch-reaktionären Mitteln, deren gänzliche Unwirksamkeit es vor ein paar Jahrzehnten am eigenen Leibe erprobt hat. Wenn es diesen gloriosen Politikern aber sonst Spaß machen sollte, nur immerzu! Je eher sich das Zentrum abwirtschaftet, umso besser; seine Schacherpolitik fängt an, ebenso gemeingefährlich zu werden, wie die Schacherpolitik des ostelbischen Junkertums nur je gewesen ist. Wir glauben nur noch nicht recht daran, dass die Ultramontane Partei schon so verblendet ist, um durch eine Revision der Geschäftsordnung die Minderheit ein für allemal zu vergewaltigen, nicht weil wir diese Möglichkeit fürchteten, sondern weil sie uns sozusagen zu verlockend erscheint; wäre das Zentrum schon eines Streiches fähig, der von seinem Standpunkt aus der reine Tollhäuslerstreich sein würde, so könnte es nicht mehr viel Unheil anrichten.

Auf keinen Fall wird sich die Linke, zum mindesten in ihren sozialdemokratischen Bestandteilen nicht, durch Drohungen abschrecken lassen, die nicht den Bedrohten, sondern nur den Bedrohenden gefährlich werden können. Man braucht den Erfolg nicht zu überschätzen, den die Obstruktion der Linken erzielt hat, aber man wird ihn mit Befriedigung registrieren können als erste Probe dessen, was mit einer geschickten und rücksichtslosen Taktik gegen den anscheinend so fest geschlossenen Gewalthaufen der Reaktion ausgerichtet werden kann. Je ruppiger die Gegenrechnungen gemacht werden, die der Regierung von den reaktionären Parteien als Preise für die Genehmigung der Flottenvorlage präsentiert werden und aus dem einfachsten Selbsterhaltungstrieb präsentiert werden müssen, um so mehr geht es der Flottenvorlage an Kopf und Kragen. Es hat nicht nur einen äußerlichen Zusammenhang, dass, seitdem sich die lex Heinze und das Fleischbeschaugesetz in den Vordergrund drängen, die Flottenpatrioten sehr still geworden sind. Sie sehen schon den Hagel in ihre noch sehr grünen Saaten schlagen.

Hoffentlich bleibt die Obstruktion der Linken nicht das einzige Hagelwetter, wie es das erste war. Es ist die gute Seite der Flottenvorlage, dass sie mit ihren ungeheuren Forderungen die Leistungsfähigkeit der reaktionären Maschine in höchstem Maße anspannt, so dass alle ihre Räder tadellos ineinander greifen müssen, wenn kein Malheur passieren soll. Gelingt es, nur ein paar Räder so unbrauchbar zu machen, wie die lex Heinze, so mag der Krach da sein, ehe man es denkt.

1 Lex Heinze wurde die am 25. Juni 1900 angenommene Novelle zum Reichsstrafgesetzbuch genannt, die durch einen Prozess gegen einen Berliner Zuhälter namens Heinze angeregt wurde. Die Novelle ergänzte und verschärfte die gesetzlichen Vorschriften gegen Kuppelei, Zuhälterei und gegen die Verbreitung unzüchtiger Schriften. Das Zentrum und die Konservativen versuchten bei den Reichstagsdebatten auch Bestimmungen in die Novelle einzufügen, die zur weitgehenden Beschränkung der noch bestehenden künstlerischen und literarischen Freiheit geführt hätten. Diese reaktionären Machenschaften wurden durch den Protest weiter Kreise der Bevölkerung, vor allem auch der Künstler und Schriftsteller, besonders aber durch den Kampf der Sozialdemokratie vereitelt.

2 Gemeint sind die oppositionellen künstlerischen Bestrebungen vor allem einiger Berliner Schriftsteller, die mit den „Kritischen Waffengängen" (1882) der Brüder Heinrich und Julius Hart als theoretischer Kampfschrift den Naturalismus in der Literatur auf den Schild hoben. 1883 folgte die Gründung des „Friedrichshagener Kreises" durch die Brüder, dem unter anderen Arno Holz, Otto Erich Hartleben, Wilhelm Bölsche, Gerhart Hauptmann, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Scherer angehörten. Es folgten 1885 Karl Bleibtreus „Revolution der Literatur" und die Gründung des Literatenvereins „Durch". (Siehe auch Franz Mehring: Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel, S. 134-140 u. Anmerkungen 22 bis 28, 69. - Franz Mehring: Aufsätze zur ausländischen Literatur. Vermischte Schriften, Bd. 12 der „Gesammelten Schriften", Dietz Verlag, Berlin 1963, S. 241-245.)

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