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Franz Mehring 19000704 Die reifende Ernte

Franz Mehring: Die reifende Ernte

4. Juli 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Zweiter Band, S. 417-420. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 345-349]

Die neuen Hiobsposten aus China, in erster Reihe die Ermordung des deutschen Gesandten in Peking, sind den noch nicht ganz übergeschnappten Wasserpatrioten heillos in die Glieder gefahren. Um im patriotischen Zeitungsjargon zu sprechen, so ist jetzt an dem Ernste der Lage kein Zweifel mehr möglich. Die reaktionäre Weltpolitik, die in der „Pachtung" von Kiautschou ein diplomatisches Meisterstück vollbracht zu haben glaubte, hat die deutsche Nation an die Schwelle blutiger und zweckloser Abenteuer und vielleicht selbst an die Schwelle eines, alle Errungenschaften moderner Kultur bedrohenden Weltkriegs gebracht.

Von dem hereinbrechenden Verhängnis geben zwei Reden des Kaisers den handgreiflichsten Beweis. In der einen, die bei der Abschiedsparade der nach China ausrückenden Seebataillone in Wilhelmshaven gehalten worden ist, sagt der Kaiser, mitten in den tiefsten Frieden hinein sei die Brandfackel des Krieges geschleudert, die deutsche Fahne beleidigt und dem Deutschen Reiche Hohn gesprochen worden, das verlange exemplarische Bestrafung und Rache. Die schwere Aufgabe werde nur durch geschlossene Truppenkörper aller zivilisierten Staaten gelöst werden können. Er werde nicht eher ruhen, als bis die deutschen Fahnen, vereint mit denen anderer Mächte, siegreich über den chinesischen wehen und, auf den Mauern Pekings aufgepflanzt, den Chinesen den Frieden diktieren würden. Schließlich ermahnt der Kaiser die ausrückenden Bataillone, mit den russischen, englischen, französischen und anderen europäischen Truppen gute Kameradschaft zu halten; sie alle föchten für die Zivilisation und noch für etwas Höheres, für die Religion usw.

Man kann billig diese Wendungen der Rede auf sich beruhen lassen. Ob die europäischen Mächte in China für den Kapitalprofit oder die Religion kämpfen, das ist Sache der verschiedenen Auffassung, und der Kaiser braucht sowenig unserer Meinung zu sein, wie wir seiner Meinung zu sein brauchen. Das gleiche gilt von der Frage, wodurch die Brandfackel des Krieges mitten in den tiefsten Frieden geworfen worden ist, ob durch die Ermordung des deutschen Gesandten in Peking oder nicht vielmehr durch ihre Ursache, die „Pachtung" Kiautschous, die von den Chinesen als eine nationale Schmach empfunden wurde, mit demselben Rechte, womit die Deutschen des siebzehnten Jahrhunderts nach dem unzählige Male geführten Nachweis der patriotischen Historiker die Verschmelzung des Elsass mit Frankreich durch die Reunionskammer Ludwigs XIV. als nationale Schmach hätten empfinden müssen. Politisch bemerkenswert ist an dieser Rede des Kaisers, dass sie einerseits zwar das gemeinsame Vorgehen aller europäischen Mächte gegen China anerkennt, andererseits aber in offenem Widerspruch mit der augenblicklich beobachteten Politik dieser Mächte den Kriegszustand mit China proklamiert und das Ziel des Krieges bezeichnet, die Eroberung der chinesischen Hauptstadt. Damit war denn auch nicht nur ein Problem der auswärtigen Politik, sondern auch ein Problem der inneren Verfassung angeschnitten; verfassungsmäßig hat der Kaiser nicht das Recht, Krieg zu erklären, es sei denn mit Zustimmung des Bundesrats; die einzige Ausnahme, die dabei zugelassen ist, ein Angriff auf das Bundesgebiet und dessen Küsten, liegt in diesem Falle nicht vor.

Nach hergebrachter Weise suchten die bürgerlichen Blätter die Bedenken, die bereits diese Rede des Kaisers erwecken musste, durch allerlei Interpretationskünste zu zerstreuen, die ihnen zwar den Schweiß aus allen Poren trieben, aber eben dadurch ihre unerschütterliche Loyalität umso rühmlicher beleuchteten. Man begreift jedoch, dass die ausländische Presse von diesem schätzbaren Artikel nicht allzu viel übrig hat und die anfechtbaren Sätze in der Rede des Kaisers einer um so schärferen Kritik unterzog, als die Politik der europäischen Mächte dahin übereingekommen ist, den Kriegszustand mit China noch nicht als vorhanden zu betrachten. Das mag eine diplomatische Fiktion sein, aber es ist jedenfalls nicht die schlimmste ihrer Art; es ist möglich, dass sich nur ein Teil Chinas im Aufruhr befindet, es ist möglich, dass die Behörden in anderen Teilen des Reiches die Ausländer zu schützen bereit sind; solange noch so große Unklarheit über die chinesischen Vorgänge und Zustände herrscht, wie gegenwärtig, scheut die europäische Diplomatie vor Schritten zurück, die sich, einmal getan, nicht zurück tun lassen und, wie eine formelle Kriegserklärung an China, ganz unabsehbare Konsequenzen haben würden. In der Tat bekennt sich auch die deutsche Regierung zu dieser Auffassung, da sie dem chinesischen Gesandten in Berlin noch nicht seine Pässe geschickt hat. Unter solchen Umständen musste aber die Ansprache des Kaisers an die Seebataillone im Ausland böses Blut machen, und der Reflex dieser Tatsache ist sehr deutlich zu erkennen in einer neuesten Ansprache, die der Kaiser nach dem Stapellauf eines neuen Kriegsschiffs an einen bayerischen Prinzen gerichtet hat.

Darin spricht der Kaiser nicht mehr von solidarischem Vorgehen der europäischen Mächte, sondern von wichtigen Entschlüssen und historischen Augenblicken, die einen Markstein in der Geschichte unseres Volkes bedeuteten. Mächtig klopfe der Wellenschlag des Ozeans an unseres Volkes Tore und zwinge es, als ein großes Volk seinen Platz in der Welt zu behaupten, nämlich zur Weltpolitik. Der Ozean sei unentbehrlich für Deutschlands Größe. Aber der Ozean beweise (?) auch, dass auf ihm und in der Ferne jenseits von ihm ohne Deutschland und ohne den deutschen Kaiser keine große Entscheidung mehr fallen dürfe. Das deutsche Volk habe nicht vor dreißig Jahren gesiegt, um sich bei großen auswärtigen Entscheidungen beiseite schieben zu lassen. Geschähe das, so wäre es ein für allemal mit der Weltmachtstellung des deutschen Volkes vorbei, und dazu werde er, der Kaiser, es nicht kommen lassen. Hierfür die geeigneten, und wenn es sein müsse, auch die „schärfsten Mittel rücksichtslos anzuwenden", sei seine Pflicht und sein schönstes Vorrecht. Er sei überzeugt, dass er hierbei Deutschlands Fürsten und das gesamte Volk fest geschlossen hinter sich habe.

Was nun zunächst diesen Schlusssatz anbetrifft, so wissen wir selbstverständlich nicht, ob „Deutschlands Fürsten" hinter der vom Kaiser proklamierten Weltpolitik stehen. Es kommt auch nicht eben viel darauf an, und unsere melancholische Ansicht, dass mit dem gelegentlichen Räsonnieren bayerischer Prinzen über die Berliner Vorsehung dem Volke auch nicht die magerste Suppe geschmalzt wird, erfährt eine neue Bestätigung durch die Tatsache, dass der bayerische Prinz, an den diese Ansprache gerichtet war, nicht den leisesten Widerspruch gegen sie gewagt hat, sosehr solch Widerspruch im Interesse des Volkes gelegen hätte. Dagegen ist die Ansicht des Kaisers, dass er das gesamte Volk bei der von ihm betriebenen Weltpolitik hinter sich habe, ein verhängnisvoller Irrtum. Es scheint dem Kaiser von seinen verantwortlichen Beratern vorenthalten worden zu sein, dass die gesamte Arbeiterklasse der Weltpolitik der Regierung einen geschlossenen und unerschütterlichen Widerstand entgegensetzt, und das ist zunächst einmal schon die Mehrheit des gesamten Volkes. Jedoch wenn man auch davon absehen wollte, so ist das dann noch übrige Volk mit dieser Rede des Kaisers so wenig einverstanden, dass die allezeit getreue Börse mit einer heftigen Panik geantwortet hat und selbst sehr zahme liberale Blätter mit einer an ihnen ganz ungewohnten Entschiedenheit verlangen, dass kaiserliche Reden, die nicht von den verantwortlichen Ministern gezeichnet werden können, nicht mehr der Öffentlichkeit übergeben werden sollen.

Nicht minder kühl verhält sich die konservative Presse, und außer der politisch gesinnungslosen Schacherpresse, deren oberstes Gebot byzantinisches Bauchrutschen ist, macht sich nur noch die „Germania" zum Echo der kaiserlichen Rede. Das ist aber auch gerade keine erhebende Unterstützung; denn das führende Blatt derjenigen Partei, die durch ihren Umfall in der Flottenvorlage eben einen schamlosen Verrat an den nationalen Interessen begangen hat, muss natürlich um jeden Preis die ultramontanen Wähler über die fatale Kritik hinwegtäuschen, die der Verrat ihrer Führer sofort durch die Ereignisse gefunden hat.

Um die allgemeinen Bedenken zu erklären, denen die neueste Rede des Kaisers begegnet, sind nicht viele Worte nötig. Bietet das chinesische Problem an und für sich schon Schwierigkeiten genug, so wird es in unabsehbarster Weise kompliziert durch die internationale Herrenstellung, die der Kaiser für sich beansprucht. Seit fünfzig Jahren, seit den Tagen des Zaren Nikolaus, hat kein europäischer Souverän ähnlich gesprochen, und es ist ganz unausbleiblich, dass eine Sprache dieser Art den Widerspruch und, falls den Worten auch Taten folgen sollten, den Widerstand ganz Europas erwecken wird. Und das in einem Augenblick, wo das einmütige Vorgehen der europäischen Mächte allein noch einen glimpflichen Ausgang der chinesischen Wirren sichern kann. Sind die Worte des Kaisers ernst gemeint – und es hieße sich einer Majestätsbeleidigung schuldig machen, wenn man sie nicht ernsthaft nehmen wollte –, so klopft nicht der für Deutschland unentbehrliche Ozean, sondern der für Deutschland sehr entbehrliche Weltkrieg an die Tore des Deutschen Reiches. Das ist es, was die gesamte bürgerliche Presse, soweit sie noch ein Gefühl politischer Verantwortlichkeit besitzt, völlig lähmt und sogar ihre schüchternsten Organe zu der entschiedenen Forderung drängt, die verantwortlichen Minister sollten endlich darauf halten, dass die rednerischen Kundgebungen des Kaisers sich im Rahmen der ministeriellen Politik bewegten.

Dazu wird es nun gewiss nicht kommen; hätten die Minister die Courage, die jetzt von ihnen beansprucht wird, so hätten sie längst davon den nötigen Gebrauch gemacht. Umso notwendiger ist aber die schleunige Einberufung des Reichstags, damit die Stimme des gesamten Volkes, auf das sich der Kaiser beruft, nun auch wirklich von dem Aus- und Inland gehört werde. Die leider ganz überwiegend nach dynastischen Interessen zugeschnittene Reichsverfassung gibt dem Reichstag kein Recht der Mitbestimmung über Krieg und Frieden, aber sein Budgetrecht gibt ihm den unanfechtbaren Anspruch darauf, einberufen zu werden, wenn Schiffe über Schiffe nach China gesandt und Truppen über Truppen dorthin geworfen werden. Genügt schon dieser formelle Anspruch, so muss eine Politik, die neue Marksteine der historischen Entwicklung errichten will und sich dabei auf den Willen der Nation beruft, doch auch darauf bedacht sein, diesem Willen die Möglichkeit der Äußerung zu geben; verzichtet sie darauf, trotz des dringendsten Anlasses, so ruft sie gegen sich selbst den Verdacht wach, als bewege sie sich in einem fehlerhaften Kreise und als sei es mit dem angeblichen Willen der Nation nicht weit her. Leider hat aber die bürgerliche Presse, wie gewöhnlich, nicht die Kraft, konsequent zu sein; trotz ihres großen Unmuts über die neueste Rede des Kaisers verwirft sie entweder überhaupt die Einberufung des Reichstags oder fordert sie wenigstens nicht mit dem gehörigen Nachdruck. Sogar ein so unentwegter Politiker wie Herr Eugen Richter wiegelt ab, indem er meint, der Reichstag werde nichts zu tun vorfinden, ehe sich die chinesischen Verhältnisse nicht besser übersehen ließen. Das ist denn einmal wieder jener bornierte Standpunkt parlamentarischer Bürokratie, der in erster Reihe dazu beigetragen hat, den deutschen Parlamentarismus zu ruinieren; ehe die parlamentarische Karre mit Akten voll gestopft ist, darf sie nicht geschoben werden, mag inzwischen auch die auswärtige Politik des Deutschen Reiches durch kaiserliche Kundgebungen in einer Weise festgelegt werden, die ihrer Natur nach den lautesten Widerspruch und den rücksichtslosesten Widerstand der Volksvertretung hervorrufen müsste.

Einstimmig und energisch, so wie es sich gehört, fordert nur die sozialdemokratische Presse die Einberufung des Reichstags. Es ist sehr möglich, um nicht zu sagen gewiss, dass ihre Stimme ungehört verhallt, und gerade auch deshalb ungehört verhallt, weil es ihre Stimme ist. Indessen das braucht sie wenig zu kümmern. Ihre Stärke und Unbesiegbarkeit besteht darin, immer die prinzipiell richtige Politik zu treiben. In den letzten Jahren mochte es manchmal scheinen, als seien „praktische" Konzessionen doch nützlicher, und an kurzsichtigen Ratschlägen, es einmal auf diesem Wege zu versuchen, hat es der deutschen Sozialdemokratie nicht gefehlt. Zu ihrem Glücke dachte sie klar und sah sie scharf genug, um sich von derartigen Irrlichtern nicht in den Sumpf locken zu lassen, so staubig und steinig mitunter die Straße der prinzipiellen Politik ausschauen mochte. Nunmehr jedoch scheint sie eine gewaltige Wendung aufwärts zu nehmen. Von Tag zu Tag mehren sich die Anzeichen, dass der modernen bürgerlichen Gesellschaft furchtbare Stöße bevorstehen, und dann werden der Arbeiterpartei von Tag zu Tag die praktischen Früchte ihrer prinzipiellen Politik in reicherem Maße zufallen. Es ist schwerlich zu früh, die Sichel zu schleifen für die reifende Ernte.

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