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Franz Mehring 19000613 Die wahren Sieger

Franz Mehring: Die wahren Sieger

13. Juni 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Zweiter Band, S. 321-324. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 335-339]

Die erste Tagung des Reichstags seit den Wahlen von 1898 ist gestern geschlossen worden, nach mehr als zweihundert Sitzungen, die sich fast über zwei Jahre erstreckt haben. Überblickt man das Gesamtergebnis, so mag man an das Dichterwort erinnert werden: Wir hörten das Geklapper einer Mühle, doch sahen wir kein Mehl. Nicht zwar als ob es ganz an Lichtblicken gefehlt hätte, aber sie gehörten überwiegend der sozusagen negativen Seite der Politik an. Einige allzu dreiste Ausfälle der Reaktion sind zurückgeschlagen worden, so das Zuchthausgesetz und die gemeingefährlichsten Auswüchse der lex Heinze, jedoch was der Reichstag positiv geleistet hat, war eben nur „positiv" im Sinne der Reaktion. Seine letzten Beschlüsse fassten gewissermaßen epigrammatisch die ganze traurige Zerfahrenheit der deutschen Dinge zusammen: Der Sieg, den angeblich der Industrialismus in der Annahme des Flottengesetzes gefeiert hat, war tatsächlich ein Sieg des ostelbischen Junkertums, das nun schon seit reichlich hundert Jahren wie ein unheimlicher Alp auf die historische Entwicklung der deutschen Nation drückt.

Herausgefordert durch eine sozialdemokratische Kritik, die wie gewöhnlich den Nagel auf den Kopf traf, hat sich kein Geringerer als der greise Reichskanzler selbst in der dritten Lesung des Flottengesetzes bemüßigt gesehen, die Flottenbegeisterung der Nation als eine echte und greifbare Tatsache nachzuweisen. Er hat dabei auf sehr olle Kamellen zurückgegriffen, besonders auf die Revolution von 1848 und den in ihr verkörperten Einheitsdrang, was alle freisinnigen Biedermänner bis zu Tränen rührt; eine obrigkeitlich anerkannte Revolution ist gerade ihr Fall. Ohne diese Rührung mitzuempfinden, verkennen wir nicht den Zwang der Notwendigkeit, der den Fürsten Hohenlohe so weit in die Vergangenheit zurückgeführt hat: In der Gegenwart etwas von einer nationalen Flottenbegeisterung zu entdecken, geht über die Kräfte eines ehrlichen Mannes, und auf den Ruhm eines ehrlichen Mannes legt der Reichskanzler einigen Wert, wie er wiederholt gezeigt hat. Außer dieser notgedrungenen Apotheose der neuen Flotte haben wir nur einen freiwilligen Schrei des Entzückens über die „weltgeschichtliche Wendung", über den Abschied des „größeren Deutschland" von dem alten preußischen Junkerstaat gehört, und der kam aus den nationalsozialen Reihen, wo man von dem alten Vorrecht aller politischen Schwärmer, immer das zu sehen, was nicht ist, einen nachgerade etwas ausschweifenden Gebrauch macht.

Allen Respekt vor der Überfülle der politischen Talente, woran nach dem glaubwürdigen Zeugnis eines deutschen Professors die nationalsoziale Richtung erstickt, aber dass diese Talente die Interessen der großen Industrie besser verstehen sollen als die Unternehmer und die Arbeiter der großen Industrie selbst, das glauben wir vorläufig nicht. Die industriellen Arbeiter haben ohne Schwanken und Wanken den uferlosen Flottenplänen einmütigen Widerstand entgegengesetzt, und wenn der Widerstand der industriellen Unternehmer sich nicht gleich offenkundig gezeigt hat, so lag das teils daran, dass eine kleine, aber mächtige Minderheit unter ihnen unmittelbar mit Riesenprofiten an dem Bau der neuen Flotte beteiligt ist, teils aber auch daran, dass die industriellen Kapitalisten längst entwöhnt sind, gegenüber dem „Druck von oben" eine ebenso klare und konsequente Politik zu treiben wie die industriellen Proletarier. Eben dadurch aber wird bewiesen, dass sie die neue Flotte durchaus nicht für notwendig oder auch nur für brauchbar halten, um der deutschen Industrie einen großen Aufschwung zu geben. Wäre dem so, dann hätten sie ein wirkliches Interesse ihrer Klasse im vollen Sonnenschein der kaiserlichen Gnade verfechten können, indem sie die neue Flotte verfochten, dann wären sie ganz anders ins Zeug gegangen, als sie ins Zeug gegangen sind. So ließen sie die Dinge an sich kommen, wozu dann als der letzte, aber nicht der leichteste Grund kam, dass sie lieber noch mit den reaktionären Klassen paktieren, die ihnen helfen sollen, das Proletariat zu bändigen, als dass sie gemeinsam mit dem Proletariat die revolutionierenden Konsequenzen der großen Industrie ziehen, die auf die Dauer unaufhaltsam mit den reaktionären Klassen aufräumen.

Wer sich selbst foppt, muss sich gefallen lassen, von aller Welt gefoppt zu werden. Die große Industrie, die sich mit sauersüßer Miene die für sie im günstigsten Falle ganz nutzlose, im wahrscheinlichen Falle sehr schädliche Flotte hat aufhalsen lassen, muss das Danaergeschenk mit einem neuen Aufschwung der agrarischen Reaktion bezahlen. Diese Reaktion trägt die ganze Beute des Flottenfeldzugs triumphierend unter ihre strohgeflickten Dächer. Im Fleischbeschaugesetz hat sie vorläufig eine ganz nette Abschlagszahlung erhalten, und für die Erneuerung der Handelsverträge sind ihr noch viel fettere Bissen verheißen worden. Sie hat für diesen großen Fischzug schon eine ganz sichere Reichstagsmehrheit in der Tasche. Nationalliberale wie Ultramontane versprechen ihr wetteifernd allen Beistand, den sie nur wünschen mag, um der „Not leidenden Landwirtschaft" auf die Beine zu verhelfen. Ein förmliches Wettrennen um die Gunst des ostelbischen Junkertums leitet den neuen Abschnitt der Weltgeschichte ein, der das „größere Deutschland" zur ersten Weltmacht erheben soll. Ein anmutiges Bild fürwahr, aber kein überraschendes Bild für den, der nicht in nationalsozialen Wolken, sondern auf ebener Erde wandelt.

Der Umfall des Zentrums in der Flottenfrage ist einer jener entscheidenden Schritte, die sich nicht mehr zurücktun lassen. Die besseren Überlieferungen ihrer Vergangenheit verpflichteten die Partei zu unerschütterlichem Widerstand gegen eine Vorlage, an der sie nicht einmal ein parteitaktisches Interesse hatte, während die allgemeinen Interessen der Nation eine unbedingt ablehnende Haltung erheischten. Am wenigsten kann sich das Zentrum durch die Rücksicht auf seine Wähler entschuldigen, die, wenn es um der Flotte willen zur Auflösung des Reichstags gekommen wäre, ihm nur das Rückgrat gesteift haben würden. Hat der Umfall des Zentrums überhaupt einen Sinn, so eben nur den, dass eine innerlich reaktionäre Partei, die eine gewisse Machtstellung erlangt hat, diese Machtstellung nicht als Einsatz in einem Kampfe wagen darf, der unter Umständen zu sozusagen revolutionären Konsequenzen führen kann. Als eine reaktionäre Partei hat sich das Zentrum bei seinem Umfall denn auch durch die Lösung der Deckungsfrage bewährt; statt die Gelegenheit wenigstens zu einer räsonabeln Reichssteuerreform zu benützen, hat es vielmehr durch sein widersinniges und – trotz aller entgegengesetzten Verheißungen – die Tasche des kleinen Mannes keineswegs schonendes Steuerbouquet seinen gänzlichen Mangel an Prinzipien bekundet, vorausgesetzt, dass man in der blöden Rückwärtserei der lex Heinze nicht etwa ein erhebendes Prinzip erblicken will. Diese ganze Entwicklung drängt das Zentrum unwiderstehlich dahin, immer engere Fühlung mit der agrarischen Reaktion zu suchen, die ohnehin in seinen eigenen Reihen sehr stark vertreten ist; es ist jetzt auf dem besten Wege dazu, Bambergers Wort wahr zu machen, dass es sich nur deshalb in die Mitte des Reichstags gesetzt habe, weil hinter der äußersten Rechten kein Platz mehr gewesen sei.

In seinem Werben um die junkerliche Gunst hat es nun aber einen Konkurrenten bekommen, und zwar in der – Nationalliberalen Partei, deren berufene Vertreter sich eben bereit erklärt haben, bei der Erneuerung der Handelsverträge dem Brotwucher der agrarischen Reaktion einen gleich willigen Vorspann zu leisten wie das Zentrum. Die Gründe dieser selbstmörderischen Politik werden von der nationalliberalen Presse keineswegs verheimlicht; ihre Organe sagen ganz; offen, die Gefahren des konservativ-ultramontanen Bündnisses müssten durch ein konservativ-nationalliberales Bündnis überwunden werden, durch ein neues Kartell, dessen den Volkslasten so förderliche und den Volksrechten so verhängnisvolle Tätigkeit in den Augen des richtigen Nationalliberalen noch immer eine unvergleichliche Zeit nationaler Glorie ist. Um diesen edlen Zweck zu erreichen, antichambrieren die nationalliberalen Großindustriellen vor den konservativen Junkern; sie wissen wohl, dass sie schwer zahlen müssen, ehe sie wieder zu Gnaden angenommen werden, aber sie möchten gar so gern wieder ein wenig aus der Schüssel mitessen, und so lassen sie es sich etwas kosten; man müsste ihnen sogar zustimmen, wenn sie diese Selbstschändung damit rechtfertigen sollten, dass sie an politischer Ehre ja doch nichts mehr zu verlieren hätten.

Eher könnte man ihnen vorhalten, dass sie sich ganz nutz- und zwecklos prostituieren. Denn es sieht durchaus nicht danach aus, dass sie im Wettrennen um die junkerliche Gunst mit den Ultramontanen erfolgreich wetteifern könnten. Mit dem neuesten Umfall in der Flottenfrage hat das Zentrum unseres Erachtens seinem Ansehen in den Wählermassen einen unverwindlichen Stoß gegeben, aber vorläufig hat es noch viel zuzusetzen, ehe es auf die Stufe moralisch-politischer Abwirtschaftung gelangt, worauf sich die Nationalliberalen schon lange befinden. Wer sich noch der Kartellwahlen von 1887 erinnert, der weiß, wie schwer es schon damals war, wie gewaltsame und zugleich wie gehässige und unwürdige Mittel aufgeboten werden mussten, um den nationalliberalen Leichnam zu galvanisieren; seitdem sind noch ein Dutzend Jahre dahingegangen, in denen die nationalliberale Versumpfung immer nur weiter vorgeschritten ist, und man kann sich nur schwer eine Vorstellung von einer Korruption der Wählermassen machen, die weit genug gediehen wäre, um abermals die Wahl einer Kartellmehrheit zu ermöglichen. Das ist auch recht gut so, denn wenn es allzu schmeichelhaft wäre, der konservativ-ultramontanen Mehrheit nachzurühmen, dass sie erträglicher sei als eine Kartellmehrheit, so darf man doch der Kartellmehrheit nachsagen, dass sie noch unerträglicher sein würde als eine konservativ-ultramontane Mehrheit. Solange das Zentrum eine „maßgebende" Hand im Spiele hat, muss es als geborene Minderheitspartei sich vor gewissen alleräußersten Reaktionsstreichen hüten, mit denen eine Kartellmehrheit sich in erster Reihe gütlich tun würde.

Wie aber immer dieses Wettrennen um die Gunst der Junker auslaufen mag, so gibt es ihnen selbst alle Trümpfe in die Hand, und sie werden nicht verfehlen, diese Trümpfe auszuspielen. Blödigkeit darf ihr schroffster Gegner nicht zu ihren Fehlern rechnen. Sie gehen als die wahren Sieger aus der Flottenschlacht hervor, die sich eben dadurch, wie die Sozialdemokratische Partei immer vorhergesagt hat, als eine durch und durch volksfeindliche, die nationale Entwicklung in verhängnisvollster Weise zerrüttende Machenschaft offenbart. Eine neue Befestigung der rückständigen und überlebten, allen modernen Tendenzen todfeindlichen Junkerherrschaft, das ist der erste Auftritt des „größeren Deutschland" auf der Bühne der Weltpolitik, und höchstens nationalsoziale Schwärmer können sich täuschen über das, was darnach kommen wird.

Ein Glück wenigstens, dass die ökonomische Entwicklung, wie sie sich in der rauen Wirklichkeit vollzieht und nicht wie sie sich in patriotischen Luftspiegelungen darstellt, die junkerlichen Bäume nicht in den Himmel wachsen lassen wird.

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