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Franz Mehring 19000131 Flottenfrage und Reichstag

Franz Mehring: Flottenfrage und Reichstag

31. Januar 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 577-580. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 320-324]

Das neue Flottengesetz liegt seit einigen Tagen der öffentlichen Kritik vor, und man wird ihm wenigstens das eine Verdienst nicht abstreiten können, in drei kurzen Paragraphen dem Reichstag mehr an groben und verletzenden Herausforderungen zu bieten, als je einer Volksvertretung sozusagen in der Nussschale von einer Regierung geboten worden ist. Hätten wir bürgerliche Parteien, deren Konstitutionalismus die Feuerprobe bestehen könnte, so möchte es überflüssig sein, noch ein Wort der Kritik über diese Vorlage zu verlieren oder ihr auch nur eine Grabrede zu halten; sie würde dann ohne Sang und Klang in den Papierkorb fliegen oder höchstens dazu dienen, als Fidibus die Pfeife der Philister anzuzünden.

Man erwäge nur: Der Reichstag soll sich auf einen „Gesamtplan" festlegen, der für die deutsche Marine von 1901 bis 1920 einen Gesamtaufwand von 5.773.600.000 Mark beansprucht, wovon 2.396 Millionen auf die Mehrkosten aus dem neuen Flottenplan entfallen würden. Bismarck wollte 1871 die französische Kriegsentschädigung auf 8 oder wenigstens 6 Milliarden Francs festsetzen, aber als man ihm vorstellte, dass selbst der besiegte und niedergeworfene Landesfeind nicht so unbarmherzig ausgebeutet werden dürfe, begnügte er sich mit 5 Milliarden Francs, gleich 4 Milliarden Mark. Man vergleiche damit, dass den durch Militär- und Marinelasten bereits zu Boden gedrückten Volksmassen, rein um einer phantastischen Laune, um einer „Weltpolitik" willen, deren greifbare Ziele noch kein Mensch hat nachweisen können, mit einem einzigen Federzug eine neue Last von nahezu Milliarden aufgebürdet werden soll, und dann versage man sich, eine Satire zu schreiben!

Um einer rein phantastischen Laune willen, denn in der „Begründung" der Vorlage stehen nur dieselben inhaltlosen Redensarten, mit denen die Flottenschwärmer seit Wochen ihre unglücklichen Mitmenschen regalieren. „Sicherung des Friedens auch gegen den seemächtigsten Gegner", nicht eines Friedens „um jeden Preis, sondern eines Friedens in Ehren, der Deutschlands berechtigten Bedürfnissen Rechnung trägt", „Deutschland muss eine so starke Schlachtflotte haben, dass ein Krieg auch für den seemächtigsten Gegner mit derartigen Gefahren verbunden ist, dass seine eigene Machtstellung in Frage kommt" – mit diesem mark- und knochenlosen Phrasenbrei soll sich der Reichstag abspeisen lassen und daraufhin ungeheure Lasten auf die Schultern seiner Wähler wälzen. Vor zwei Jahren wurde mit derselben feierlichen Miene versichert, das damals bewilligte Flottengesetz „trüge" den „berechtigten Bedürfnissen" Deutschlands „Rechnung"; heute ist diese „Rechnung" schon ziemlich Milliarden Mark teurer, in abermals zwei Jahren wird sie, wer weiß? schon 5 Milliarden teurer sein. Besonders da der „seemächtigste Gegner" auch nicht faul sein und gemäß diesen angenehmen Ankündigungen auch seinen „berechtigten Interessen Rechnung tragen" wird, um einen „Frieden in Ehren" zu sichern. Eine glorreiche Politik in der Tat, die wieder einen überzeugenden Beweis von der Weisheit liefert, womit die Welt regiert wird!

Da die Regierung unter so tröstlichen Umständen darauf bedacht sein muss, in zwei Jahren weitere 2 oder 5 oder 10 Milliarden für die Marine zu fordern, je nach dem Belieben des „seemächtigsten" und leider auch finanzmächtigsten „Gegners", so ist sie mit staatsmännischer Umsicht darauf bedacht, den Reichstag möglichst festzulegen, ihre eigenen Hände aber möglichst frei zu behalten. Sie macht das in jener verwünscht gescheiten Weise, auf die der deutsche Spießbürger immer noch hineingefallen ist und nach den Erfahrungen der letzten Tage wieder hineinfallen zu wollen scheint. Die Regierung sagt: „Ich bin bescheiden, ich verlange nichts, als den ‚berechtigten Bedürfnissen' der nationalen Verteidigung ‚Rechnung zu tragen'; ist meine bangende Seele darüber beruhigt, hat der Reichstag im Prinzip die ‚starke Schlachtflotte' beschlossen, so trete ich gern in den Hintergrund und überlasse alles andere seiner Weisheit. Ich komme ihm zwar gern entgegen, indem ich ihm unmaßgebliche Vorschläge unterbreite, aber nur in der Begründung der Vorlage, nicht in ihrem Texte. Im Gesetz selbst soll nichts verfügt werden, als dass die erforderlichen Mittel alljährlich durch den Reichshaushaltsetat festzustellen sind; dem hohen Hause wage ich darin nicht vorzugreifen, wie und womit die neuen Schiffe gebaut werden sollen." Man sollte es nicht glauben, dass dieses Locklied des Finklers noch einmal die Gimpel anziehen könnte, aber sie kommen in ganzen Scharen angeflattert; man lese beispielsweise nur die neueste Nummer des nationalsozialen Flottenmoniteurs1, worin Herr Maurenbrecher auf den Knien vor den „feinen" und „vorzüglichen" Plänen dieser grundgütigen Regierung liegt, die dem Reichstag in edler Bereitwilligkeit gestattet, jedes neue Jahr „Volksrechte gegen Kanonen" auszutauschen. Darnach wäre das deutsche Volk im Jahre 1920 nicht bloß um 2½ Milliarden ärmer, sondern auch um mindestens 20 Volksrechte reicher, aus reiner Güte der Regierung, die mit Vergnügen abdankt, wenn der Reichstag nur patriotisch genug ist, das Vaterland zu retten. So was lassen die Flottenschwärmer allen Ernstes drucken, und diese Kinder, die mit Papierschiffchen in ihren Waschschüsseln spielen sollten, führen in der bürgerlichen Presse das große Wort als geborene Erbpächter der „Weltpolitik".

Selbstverständlich würde die Flottenvorlage, falls der Reichstag sie annehmen sollte, der Volksvertretung alles Recht über den Kopf wegnehmen. Es ist eine unerhörte Zumutung an ein Parlament, nicht einen bestimmt und klar formulierten Gesetzentwurf, sondern ein allgemeines Programm genehmigen zu sollen, worin es sich verpflichtet, eine Last von 2½ Milliarden auf sich zu nehmen, ohne jede nähere Bestimmung darüber, woher diese Summe genommen, wann und wie sie ausgegeben werden soll. Geht ein Parlament darauf ein, so liefert es sich selbst der Regierung mit gebundenen Händen aus. Erkennt es der Reichstag im allgemeinen als eine patriotische Notwendigkeit an, soundso viele Schiffe zu bauen, dann hat er im einzelnen von vornherein sein Spiel verloren, und eine Regierung, die ihm dann nicht bei der geringsten Widersetzlichkeit in der Ausführung des Flottenplans nach Noten mitzuspielen wüsste, müsste geradezu aus Idioten bestehen. Der einzige selbständige Genuss, den sich der Reichstag in Marinesachen dann noch leisten könnte, wäre höchstens, den tatsächlichen Verlauf der Dinge mit jenem impotenten Genörgel zu begleiten, womit die Fortschrittspartei vor bald vierzig Jahren die Blut- und Eisenpolitik Bismarcks akkompagnierte. Damals war das preußische Abgeordnetenhaus in eine ganz ähnliche Grube gefallen, wie sie mit der neuen Flottenvorlage jetzt dem deutschen Reichstag gegraben wird.

Ganz besonders auch in der Deckungsfrage hätte die Regierung dann weiße Karte. Welcher Klasse der Bevölkerung sie die Milliardenlast aufhalsen würde, bedarf umso weniger einer weitläufigen Auseinandersetzung, als sie in der „Begründung" schon jetzt ganz unbedenklich zugibt, dass die Arbeiter berufen sind, die Leidtragenden zu werden. Es sollen 769 Millionen auf Anleihe genommen und die übrigen Aufwendungen aus den ordentlichen Reichseinnahmen bestritten werden; „sollte sich dies vorübergehend in dem erforderlichen Umfang nicht ermöglichen lassen, so erübrigt nur, wenn neue Einnahmequellen nicht erschlossen werden, in solchen Fällen den Anleihebetrag zu erhöhen". Nach diesem erfreulichen Programm haben auch jetzt schon die Arbeiter die neuen Flottenlasten zu tragen, denn sie müssen die Zinsen der geplanten Anleihe aufbringen wie auch die ordentlichen Reichseinnahmen. Aber in einem „Kulturstaat" wie dem Deutschen Reiche versteht es sich schon ganz von selbst, dass höhere Erträge aus den indirekten Steuern und Zöllen, also in weit überwiegendem Maße aus den Taschen der Arbeiter, für neue Mordwerkzeuge verpulvert werden müssen und ja nicht auf Kulturaufgaben verwandt werden dürfen; erst wenn es sich darum handelt, dem Proletariat neue Schröpfköpfe anzusetzen, kommen die Flottenschwärmer voll Phrase und murmeln halblaut etwas in den Bart von Einkommen- und Erbschaftssteuern, woraus die Mehrkosten der Flotte bestritten werden sollen. Nun, auch mit diesem Hokuspokus macht die Flottenvorlage ein gründliches Ende, was übrigens nicht ihre schlechteste Seite ist. Reichen die ordentlichen Reichseinnahmen nicht aus und kann nicht mehr ins Aschgraue fortgepumpt werden, nun, so müssen neue Einnahmequellen erschlossen werden, und wer da glaubt, dass nach Annahme dieser Vorlage Reichsregierung und Reichstag sich einigen werden über eine den besitzenden Klassen aufzuerlegende Steuer, der glaubt noch an Wunder oder, prosaischer ausgedrückt, der täuscht sich selbst oder will andere täuschen.

In gewissem Sinne ist die ganze Flottenfrage durch diese Vorlage sehr vereinfacht: Sie stellt den Reichstag vor eine Situation, die ihm nur die Wahl lässt zwischen moralisch-politischem Selbstmord oder stolz-verächtlicher Abweisung solcher unglaublichen Zumutungen. Die weltpolitischen Phantastereien treten dabei zunächst in zweite Linie, denn selbst wer darin befangen, aber sonst ein konstitutioneller Politiker ist, darf diese Vorlage unter keinen Umständen genehmigen. Will die Regierung, ungeachtet all ihrer bindenden Versprechungen von vor zwei Jahren, mit neuen Flottenforderungen an den Reichstag herantreten, so mag sie wenigstens die Rechte des Reichstags gebührend achten, so mag sie ihre Forderungen nicht in Formen kleiden, die aus der deutschen Volksvertretung für zwei Jahrzehnte eine Vogelscheuche machen müssen. Wir wissen wohl, dass die Regierung unter einem gewissen Zwange der Not steht; wollte sie auch nur mit mittelmäßiger Einsicht und Sorgfalt ihren Flottenplan begründen, so würde das phantastische Unding sofort aus seinen Nähten gehen, so würde sich bald ein Widerstand erheben, der nicht zu biegen und nicht zu brechen wäre! Daraus erklärt sich das Vorgehen der Regierung, abenteuerlich wie es sonst sein mag, aber um so mehr sollte der Reichstag auf seiner Hut sein und den Kampf aufnehmen, den er mit leichter Mühe zum Siege führen kann, wenn er Fuß beim Male hält, aber den er nie wieder herstellen wird, wenn er die Flottenvorlage einmal angenommen hat, mag sie ihm scheinbar auch eine noch so freie Bahn der Umkehr lassen. Diese freie Bahn ist die reine Luftspiegelung, und wer sie betreten will, stürzt in den Abgrund, wie es die Fortschrittspartei vor vierzig Jahren zu ihrem Schaden erfahren hat.

Gleichwohl lässt sich noch mit keinerlei Sicherheit darauf rechnen, dass der Reichstag seine ganz einfache und selbstverständliche Pflicht tun wird. In allen bürgerlichen Parteien rumort die Flottenratte; gänzlich seuchenfest ist keine mehr, auch nicht die Freisinnige [Partei] oder die Deutsche Volkspartei. Möglich, dass diese Fraktionellen dennoch mit Nein stimmen, weil sie wissen, dass sie sich den Luxus gönnen dürfen, ohne irgendeine tatsächliche Verantwortung zu übernehmen, aber ebendeshalb kommt nichts auf ihre Stimmen an. Bei der Rechten liegt es bis zu einem gewissen Grade umgekehrt wie bei der Linken; sie möchte wohl gern Nein sagen, aber sie wagt es wenigstens vorläufig noch nicht und spekuliert auf niedliche Kompensationen, wie die Erhöhung der Getreidezölle, die den Säckel des Junkertums wie den Säckel der Marineverwaltung gleicherweise füllen sollen. Auch das Zentrum, bei dem die schließliche Entscheidung liegt, ist von mancherlei widerstreitenden Gefühlen bewegt; umsonst will es die heikle Arbeit nicht tun, und noch ist der Kuhhandel nicht geschlossen, jedoch überwiegt die schlimme Aussicht, wenn zwar die „Kölnische Volkszeitung" nach wie vor ziemlich tapfer gegen die Flottenvorlage ins Zeug geht, aber der neue Erzbischof von Köln sein segnendes Weihwasser auf die Wasserpatrioten spritzt.

Nur die Sozialdemokratie steht, so schreibt ein bürgerliches Blatt, der Flottenvorlage völlig ablehnend gegenüber. Es soll anscheinend kein Lob sein, aber es ist doch eine Wahrheit. Heiserer als je krächzen die Unglücksraben, die Stellung der Arbeiterklasse zur offiziellen „Weltpolitik" des Deutschen Reiches sei ein schwerer und verhängnisvoller Fehler; nur diesmal solle die Partei nicht den richtigen Anschluss verfehlen; es sei eine Frage auf Leben und Tod. Man kennt ja den Text, und man kennt auch die Verfasser. Ihre Meinung mag vielleicht ehrlich sein, aber sie ist sicherlich grundfalsch; vom praktischen Standpunkt gibt es für das Proletariat keine vorteilhaftere Politik als ehrliche Konsequenz, und ein gutes Gewissen ist doch auch nicht ganz zu verachten, selbst in dieser „realpolitischen" und „weltpolitischen" Zeit nicht.

1 Gemeint ist die national-soziale Wochenschrift „Die Hilfe, 1900, VI. Jg., Nr. 5.

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