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Franz Mehring 19010116 Der Tanz auf der mittleren Linie

Franz Mehring: Der Tanz auf der mittleren Linie

16. Januar 1901

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Erster Band, S. 481-484. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 374-377]

Im preußischen Landtag hat der neue Reichskanzler nunmehr das Programm seiner inneren Politik entwickelt: Die Junker sollen die Kanalvorlage genehmigen, wofür ihnen die Bourgeoisie höhere Getreidezölle bewilligen soll; Graf Bülow hält „die mittlere Linie" inne, indem er den ostdeutschen Junkern und den westdeutschen Industriellen hintereinander je eine tiefe Verbeugung macht. Wenn das des Pudels Kern sein soll, so kann einen der Kasus lachen oder, wenn man zu den Bewunderern des Grafen Bülow gehört hat, weinen machen.

Sie vergießen denn auch strömende Tränen, die guten Liberalen und die guten Nationalsozialen und wer sonst von dem Grafen Bülow den Beginn einer neuen Ära in der inneren Politik erwartet hat. Wir müssten heucheln, wenn wir irgendwelches Mitleid mit den enttäuschten Biedermännern kundgeben wollten: Politik macht man nicht mit dem Herzen, geschweige denn mit der Zunge, sondern mit dem Hirn. Wer sich noch eine schwache Fähigkeit logischen Denkens gerettet hat, konnte sich keinen Augenblick einbilden, dass der Macher des – im historischen Sinne – durch und durch reaktionären Chinaabenteuers die junkerlichen Brotwucherer zu Paaren treiben würde, selbst wenn man die Möglichkeit zugeben will, die tatsächlich eine Unmöglichkeit ist, dass ein schönredender Diplomat die Klassengegensätze, die das Deutsche Reich zerreißen, aus dem Handgelenk herumwerfen kann.

Immerhin: Wenn man mit den betrübten Lohgerbern, denen die Programmrede des Grafen Bülow die Felle weggeschwemmt hat, auch kein Mitleid haben darf, so könnte man sie doch ihren melancholischen Betrachtungen über die Vergänglichkeit ihrer Illusionen überlassen, wenn sie nur nicht die unschöne Dreistigkeit besäßen, die Sozialdemokratie zum Prügelknaben ihrer Torheit zu machen. Blätter wie die „Nation" und die „Hilfe" koramieren den „Vorwärts" und die „Neue Zeit" wegen angeblicher Lässigkeit im Kampfe gegen die Getreidezölle; mit pathetischer Gebärde donnern sie gegen den schlafenden Brutus der Sozialdemokratie und spielen mit augenscheinlich großem Behagen die schnatternden Gänse vom Kapitol, die das eingeschlummerte Kriegsvolk gegen den Einbruch der Gallier aufwecken möchten. Das sind dieselben Blätter, die noch dampfen von der Begeisterung für die Hunnenfahrt nach China, die, befangen in der beiläufigsten Personenpolitik, auf den Irrwegen dieser Politik so unbeholfen einher tappen, dass sie uns vorgestern den Herrn v. Rheinbaben und gestern den Grafen Bülow als schmetternde Lerchen des Völkerfrühlings aufreden wollten und die Sozialdemokratie verhöhnten, weil sie für diese angenehmen Scherze höchstens ein flüchtiges Achselzucken übrig hatte.

Mehr hat sie auch nicht übrig für die neuesten Appelle der „Nation" und der „Hilfe". Diese Renommierfüchse des Volksrechtes mögen es nötig haben, mit überhitztem Eifer die Arbeiterfreunde zu spielen, weil sie eben erst die Düpes der arbeiterfeindlichen Politik gewesen sind, zumal da sie sonst nichts hinter sich haben und nur durch klatschendes Plätschern in dem Strome, worin sie gerade schwimmen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenken können. Die Sozialdemokratie braucht aber glücklicherweise nicht im Kampfe gegen den agrarischen Brotwucher die Manieren eines Renommierfuchses nachzuahmen. Sie hat schon vor mehr als zwanzig Jahren, als Bismarck zuerst „die mittlere Linie" einschlug, zu der sich nunmehr auch Graf Bülow bekennt, willig die Lasten eines Ausnahmegesetzes auf sich genommen, um diese volksverderbliche Politik zu bekämpfen, und sie hat seitdem ununterbrochen im Vorkampf gegen die Getreidezölle gestanden. Sie darf vielleicht mit einigem Rechte ein sachverständiges Urteil darüber beanspruchen, wie dieser Kampf am wirksamsten zu führen ist; in jedem Falle aber hat sie das unantastbare Recht, alle Belehrungen darüber von Seiten solcher Blätter zurückzuweisen, die heute mit demselben flackernden Strohfeuer gegen den Brotwucher ins Feld ziehen, mit dem sie gestern für die Hunnenpolitik ins Feld gezogen sind.

Für uns bietet die Programmrede des Grafen Bülow natürlich nicht die geringste Überraschung; was darüber zu sagen wäre, ist im Grunde schon vor vierzehn Tagen an dieser Stelle ausgeführt worden. Nur in einem Punkte haben wir die offizielle Reichspolitik nicht ganz richtig beurteilt; wir hatten in der Tat nicht geglaubt, dass sich der neue Bund zwischen agrarischem Junkertum und industrieller Bourgeoisie so glatt und leicht vollziehen würde, wie er sich tatsächlich vollzogen zu haben scheint. Wir sind einigermaßen dem alten Fehler verfallen, die Lebenskraft und die Lebenslust, die politische Einsicht und das historische Verständnis der deutschen Bourgeoisie höher einzuschätzen, als sie verdienten. Die überaus klägliche Stellung des deutschen Handelstages zu den Getreidezöllen belehrte uns bald eines Besseren. Beiläufig – weshalb brechen die liberalen und die nationalsozialen Blätter, die in einer Erhöhung der Getreidezölle das größte Unheil für die deutsche Arbeiterklasse erblicken und dies Unheil durch Stürme der Entrüstung beschwören zu können hoffen, nicht in einen solchen Sturm gegen den Handelstag aus? Etwa deshalb nicht, weil im Handelstag sehr potente Leute sitzen? Das wollen wir doch nicht hoffen. In der Tat aber sitzt hier die wirkliche Wurzel des Übels. Da wir nicht zu den enttäuschten Bewunderern des Grafen Bülow gehören, so brauchen wir ihm auch nicht größere Vorwürfe zu machen, als er wirklich verdient. Die ostelbischen Junker sind sehr halsstarrige und noch immer sehr mächtige Leute, und ein Reichskanzler, der mit ihnen einen Kampf auf Leben und Tod beginnt, tut wohl daran, vorher sein Haus zu bestellen. Entbindet ihn aber die Bourgeoisie von diesem Kampfe und bringt sie ihm auf dem Präsentierteller den Pakt entgegen, der ihm erlaubt, zugleich ein Liebling des großen Grundbesitzes und der großen Industrie zu sein, dann müsste er schon ein Engel vom Himmel sein, um nicht mit beiden Händen zuzugreifen, und Engel vom Himmel sind deutsche Reichskanzler nun einmal nicht.

Ein nationalsozialer Weiser deutet an, die Sozialdemokratie führe den Kampf gegen den Brotwucher so lässig, weil sie aus der Auspowerung der Volksmassen parteitaktisches Kapital zu schlagen beabsichtige. Das ist so recht im Geiste jener Hintertreppenpolitik gedacht, die den Nationalsozialen Verein auszeichnet, der nach seiner glaubwürdigen Versicherung die Sozialdemokratie abzulösen bestimmt ist. Will man aber einen Augenblick bei dem nationalen Gedanken verweilen, der etwa auf dem Grunde dieser Verdächtigung schlummern mag, so sind wir nicht auf orthodoxe Formeln eingeschworen und halten in gewissem Sinne die Frage für ganz diskutabel, ob es alles in allem für die nationale Entwicklung Deutschlands nicht günstiger gewesen wäre, wenn die Bourgeoisie jemals mit dem Junkertum ernsthaft anzubinden sich getraut hätte, was ins Parteitaktische übersetzt heißt, wenn der deutsche Liberalismus heute stärker und die deutsche Sozialdemokratie heute schwächer sein würden, als sie sind. Man kann darüber wohl eine akademische Diskussion führen, die auch ganz anregend sein mag, soweit eine Diskussion über historische Wenn und Aber; die tatsächlich nun einmal nicht eingetroffen sind, überhaupt anregend sein kann. Aber wann hat die deutsche Arbeiterklasse ihr parteitaktisches Interesse je über die allgemeinen Interessen der Nation gesetzt? Wann hat sie es speziell in der Frage der Getreidezölle getan, die zunächst doch eine Frage zwischen Bourgeoisie und Junkertum ist? Die englischen Arbeiter der vierziger Jahre waren darin rücksichtsloser; sie warfen die freihändlerischen Bourgeoisagitatoren, die sie zum Kampfe gegen die Kornzölle aufriefen, einfach von der Tribüne, weil sie wussten, dass die politische Freiheit und der Zehnstundentag, die ihnen die Bourgeoisie vorenthielt, für sie ungleich mehr bedeutete als die Abschaffung der Kornzölle. Das haben die deutschen Arbeiter nie getan, sie wussten aus der Geschichte zu lernen, und sie haben nie vor einer, in parteitaktischem Interesse sozusagen selbstmörderischen Politik zurückgescheut, wenn diese Politik sonst nur die allgemeinen Interessen der Nation zu fördern geeignet war.

Fällt die Bourgeoisie aber bei der Erfüllung dieser historischen Pflichten wieder und wieder um, so bleibt der Arbeiterklasse nichts übrig als der rücksichtsloseste Prinzipienkampf. Sie kann sich dann nicht daran genügen lassen, den Karren herauszuziehen, den Bourgeoisie und Junkertum gemeinsam in den Dreck schieben, sondern sie muss mit dem ganzen Dreck aufräumen, in den der Karren überhaupt geschoben werden kann. Da hört dann freilich alles Gaukeln und Schaukeln auf, wie es die „Nation" und die „Hilfe" treiben, und von hier fließen alle Tränen dieser würdigen Blätter. Sie wissen sehr gut, dass es die Sozialdemokratie im Kampfe gegen die Getreidezölle niemals an sich fehlen lassen wird, aber was sie wollen, sind so einige loyal ersterbende und bei allem äußerlichen Spektakel harmlose Demonstrationen, damit, wie es einer dieser wunderbaren Politiker mit wunderbarer Phantasie ausgemalt hat, Graf Bülow zum Kaiser sagen kann: Sehen Sie, Majestät, so regt sich das Volk über die Getreidezölle auf, also schaffen wir sie ab! Für diese Politik der Kinderstube ist die Sozialdemokratie freilich nicht zu haben, aber wenn die „Nation" und die „Hilfe" der bürgerlichen Klasse, zu der sie ja selbst gehören, ihre Moralpauken halten wollen und diese Klasse zu einem energischen Kampfe gegen die Getreidezölle auf die Beine bringen können, so werden sie es nicht erleben, dass die Sozialdemokratie aus parteitaktischem Interesse scheel sieht zu einer historisch-legitimen Restauration des verendenden Liberalismus.

Dazu aber wird es nicht kommen, und die Arbeiterklasse wird in den Stürmen, die der Tanz auf der mittleren Linie für sie herbeiführen kann und muss, auf sich selbst angewiesen sein. Deshalb braucht sie diese Stürme nicht zu fürchten; sowenig sie Prinzipienreiterei treibt, so hat sie immer ihre stärkste Kraft geschöpft aus der Prinzipienpolitik, die ihre Pflicht wie ihr Recht war. Sie hat den Meister Bismarck von der „mittleren Linie" hinab geworfen, dahin wo Heulen und Zähneklappern ist, und mit dem Schüler Bülow wird sie nicht umständlicher verfahren.

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