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Franz Mehring 19010515 Die Ära Bülow

Franz Mehring: Die Ära Bülow

15. Mai 1901

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Zweiter Band, S. 193-196. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 402-406]

Nicht viel weniger unvermutet als der preußische Landtag, hat auch der deutsche Reichstag seine Sitzungen geschlossen; für ein halbes Jahr ist das parlamentarische Leben in Berlin erloschen. Freilich ging der Reichstag nicht mit einem harmlosen Knalleffekt auseinander wie der Landtag; die Räder seiner parlamentarischen Maschine standen sozusagen von selbst still; seine Beschlussunfähigkeit war nicht mehr zu kurieren, und es blieb nichts übrig, als seine Sitzungen bis in den Winter hinein zu vertagen. Ob er an der Schwelle des Weihnachtsfestes unter günstigeren Auspizien wiederkehren wird, ist fraglich, wenigstens wenn man die Möglichkeit ins Auge fasst, dass es besser werden könnte; viel eher dürfte man mit aller Bestimmtheit sagen, das alte Elend werde im Winter einen neuen Anfang nehmen.

Wollte man eine Politik der Bosheit treiben, so wäre man versucht, das traurige Schauspiel nicht ohne eine gewisse Schadenfreude anzusehen. Die Reaktion hat sich in ihr eigenes Fleisch geschnitten, und es ist possierlich genug zu beobachten, wie ein Teil ihrer Presse nach Diäten und dreijährigen Legislaturperioden schreit, also nach dem Umsturz eines Zustandes, der vor einer noch sehr absehbaren Zeit als die Sicherung der heiligsten Volksgüter von denselben Blättern gepriesen wurde. Es ist aber bezeichnend für das hartnäckige und kurzsichtige Wesen der Reaktion, dass mit der besseren Einsicht noch lange nicht die praktische Besserung kommt; wann dürfte auch die deutsche und namentlich die preußische Bürokratie einen Zweifel an ihrer Gottähnlichkeit aufkommen lassen! Sie kann sich noch nicht einmal zu dem kurzen Federstrich entschließen, der zur Bewilligung der Diäten nur noch notwendig ist, geschweige denn, dass an eine Abkürzung der Legislaturperioden zu denken wäre. Lieber quält man sich mit dem gegenwärtigen Elend weiter, solange es irgend geht.

Auf der anderen Seite ist freilich auch kein Grund zu der Hoffnungsseligkeit vorhanden, womit liberale Blätter von diesen und ähnlichen Mitteln einen neuen Aufschwung des deutschen Parlamentarismus erwarten.

Eine gewisse Besserung würde dadurch allerdings erzielt werden, aber sie würde weder dauernd noch gründlich sein. Dass die Versagung von Diäten kein Mittel ist, die parlamentarische Aktionsfähigkeit kräftiger Parteien lahm zu legen, hat die deutsche Sozialdemokratie seit drei Jahrzehnten zur Genüge gezeigt; recht eigentlich gegen sie gerichtet oder doch gegen die Klasse, die sie vertritt, ist ihr die Diätenlosigkeit zu einer scharfen Waffe gegen ihre Feinde geworden; vom parteitaktischen Standpunkt aus braucht sie die Einführung von Diäten nicht zu wünschen, da die Erleichterung ihrer Parteikasse durch ihre verschlechterte Stellung im Reichstag mehr als aufgewogen werden würde. Ebenso lässt sich die Länge der Legislaturperioden wettmachen; sie wird vollkommen überwunden, wenn eine Partei ihre parlamentarischen Vertreter unter strenger Kontrolle hält und durch stetige Agitation die verhältnismäßige Seltenheit der aufrüttelnden Wahlbewegung auszugleichen bemüht ist.

So täuscht die liberale Kurzsichtigkeit sich selbst, wenn sie in der Einführung von Diäten oder der Verkürzung der Legislaturperioden die Vorboten einer parlamentarischen Blütezeit erblickt. Der wirkliche Sitz des Übels liegt viel tiefer, er liegt in der ganzen Verworrenheit unserer öffentlichen Zustände, die sich durch äußerliche Mittel nicht kurieren lässt. Wir haben uns darüber erst kürzlich ausgelassen und wollen uns nicht wiederholen, dagegen mag es nützlich sein, am Schlusse der parlamentarischen Verhandlungen einen Augenblick der Betrachtung an die Ära Bülow zu wenden, die nach den Versicherungen ihrer Lobredner, wenn nicht eine neue Ära, so doch eine Wiederherstellung der bismärckischen Glorie sein sollte. Überflüssig zu sagen, dass diese Glorie in der Wirklichkeit nichts weniger als eine Glorie war; im Gegenteil, wenn Bismarck an Autorität und Begabung mehr einzusetzen hatte als seine Nachfolger, so war die natürliche Folge nur, dass der Reichskarren zu seiner Zeit noch mehr holperte und stolperte; so elende und klägliche Tage wie unter dem Sozialistengesetz haben wir trotz alledem noch nicht wieder gesehen. Aber in den Augen derer, die in Bismarck nun einmal einen übermenschlichen Heros bewundern, wurden wahre Wunderdinge angekündigt mit dem Kompliment an den neuen Reichskanzler, dass er die bismärckischen Zeiten erneuern werde; mindestens müsste man erwarten, dass es nun so oder so mit dem Zickzackkurs sein Ende haben werde.

In der Tat schien es anfangs so, als ob Graf Bülow seine Aufgabe nicht ohne einiges Geschick angreifen wolle. Er nahm nach der einen Seite hin seine Position so, dass er als Reichskanzler seiner politischen Verantwortlichkeit bewusst sein wollte und somit den Herrn im Hause spielte, nach der anderen Seite aber so, dass er gegen den Reichstag einen konzilianten Ton anschlug, etwa in der Tendenz, dass kleine Geschenke die Freundschaft erhalten. Von vornherein ließ sich nicht erkennen, dass damit je nach den Umständen eine viel gefährlichere Reaktion angebahnt werden konnte, als unter Hohenlohe geherrscht hatte, aber nach dem alten Erfahrungssatz, dass ein Ende mit Schrecken immer noch einem Schrecken ohne Ende vorzuziehen sei, war eine gewisse Spannung auf die Taten des neuen Reichskanzlers gerechtfertigt. Was hat sich nun aber tatsächlich unter dem Grafen Bülow geändert? Offenbar nicht das Geringste, es sei denn, man nehme es für etwas, dass die stenographischen Berichte des Reichstags mit einigen netten Feuilletons in Gestalt von Reden bereichert sind, die Graf von Bülow gehalten hat und Fürst Hohenlohe in dieser Weise nicht hätte halten können. Sonst ist wirklich alles beim alten geblieben; der Zickzackkurs dreht sich immer noch im Kreise, und das gänzliche Streiken der parlamentarischen Maschine quittiert hinlänglich über die Wundertaten des neuen Wundermannes.

Nach unserer ganzen historischen Auffassung machen wir ihn dafür nicht verantwortlich; wir laden ihm nicht einmal die Schuld daran auf, dass ihm das bescheidene Experiment missglückt ist, das er versuchen konnte und wirklich versucht hat. Für die kleinen bonapartistischen Kunststückchen ist die ökonomisch-politische Situation im Deutschen Reiche zu weit entwickelt, und das ist bei aller Unbehaglichkeit dieser Situation doch immer ein Fortschritt. Der Glücksstern des Bonapartismus strahlt nur, wenn das proletarische Klassenbewusstsein noch nicht erwacht oder wieder eingeschläfert ist, wie in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts; sobald die französischen Arbeiter in den sechziger Jahren sich wieder auf sich selbst besannen, begann jener Stern unaufhaltsam zu sinken. Aller Bonapartismus beruht darauf, dass sich die Bourgeoisie gegen das Proletariat, aber auch das Proletariat gegen die Bourgeoisie ausspielen lässt; wo es ein Proletariat gibt, das überhaupt nicht mehr mit sich spielen lässt, da ist es vorbei mit aller bonapartistischen Weisheit, wie sich abermals an den staatsmännischen Schicksalen des Grafen Bülow studieren lässt.

Es ist oft gesagt, aber es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass es keinen größeren politischen Fehler gibt, als die Gefahren und Leiden des Zickzackkurses auf einzelne Personen zurückzuschieben. Die Meinung dazu liegt um so näher und ist um so erklärlicher, je mehr sich einzelne Personen darin gefallen, in einer heftig aufreizenden Weise aufzutreten, aber man würde diesen Gegnern selbst nur einen Gefallen tun, wenn man sich von ihnen über die wirkliche Sachlage täuschen ließe. Der Zickzackkurs entsteht dadurch, dass sich im Deutschen Reiche die großen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft in einem gewissen Gleichgewicht halten, dass keine ein unbestrittenes Übergewicht über die andere besitzt und auch die Koalitionen der Mehrzahl gegen die Minderzahl immer unmöglicher werden. Daraus ergibt sich jenes Hin- und Herschieben, jenes Hin- und Herrucken, das man in dem kurzen Worte des Zickzackkurses zusammenfasst. Die exekutive Gewalt hat keinen Schwerpunkt mehr, um den sie sich in ruhigen Geleisen bewegen könnte; sie wird tatsächlich aufrechterhalten, indem sie bald von hier einen Puff und bald von dort einen Stoß erhält und so am Umfallen verhindert wird. Die psychologisch leicht erklärliche Rückwirkung dieser Situation ist dann, dass sich die exekutive Gewalt in großen Worten um so mehr übernimmt, je unsicherer der Boden unter ihren Füßen wird, woraus dann aber nur die logische Schlussfolgerung gezogen werden darf, dass ihre Ohnmacht in Taten auf gleicher Höhe mit ihrer Übermacht in Worten steht.

Wie die Regierung, so der Reichstag. Er mag in jeder anderen Beziehung so wenig wie möglich das Ideal einer Volksvertretung sein, aber in dem einen Punkte ist er es allerdings, dass seine Zusammensetzung ziemlich getreu die Schichtung der Klassen widerspiegelt, wie sie sich im Deutschen Reiche darstellt, dass seine politische Zersetzung der ökonomischen Zersetzung der deutschen Gesellschaft entspricht. Das ist ein Verdienst des allgemeinen Stimmrechtes, dessen Mängel einigermaßen durch den Hecht im Karpfenteich ausgeglichen werden, durch die Sozialdemokratie, die durch dies Wahlrecht befähigt wird, große Wählermassen auf die Beine zu bringen, und dadurch die bürgerlichen Parteien zwingt, auch ihrerseits an Mannschaften aufzubieten, was sie können. Indem nun aber die ökonomischen Klassen der Bevölkerung im Reichstag eine im großen und ganzen genaue Vertretung finden, hemmen und stoßen sich die parlamentarischen Parteien bis zum völligen Versagen der parlamentarischen Maschine, und es ist nicht ohne tieferen Zusammenhang, dass, soweit die Geschäfte des Reichstags noch geführt werden, diese Führung von einer Partei besorgt wird, die ein buntes Gemisch von allen möglichen sozialen Bevölkerungselementen darstellt. Insoweit passt das „maßgebende" Zentrum zum „bahnbrechenden" Staatsmann Bülow wie der Handschuh zur Hand, und es ist auch mehr als ein anmutiger Zufall, dass Graf Bülow mit dem Zentrumsführer Lieber um die Palme des gemeinplätzlichen Schönredners ringt, während kein anderer Redner der Regierung und des Reichstags darin mit einem von beiden rivalisieren kann.

Im Übrigen ruft dieser Zustand am Reichstag dieselbe psychologische Folge hervor wie an der Regierung. Je unfähiger er zum Handeln wird, desto bereiter wird er zum Reden; eine Statistik, die kürzlich durch die Zeitungen lief, zeigt in wahrhaft unheimlicher Weise, zu welcher Ausdehnung die Reichstagssessionen angeschwollen sind im Vergleich zu den siebziger Jahren, wo der Reichstag in seiner Art wirklich positive Arbeit gemacht hat. Nur glaube man nicht, diesem Siechtum mit einigen Heilmitteln abhelfen zu können, auch wenn sie an und für sich ganz annehmbar sein mögen. Man denkt vom bürgerlichen Parlamentarismus höher als seine eigenen Bewunderer, wenn man sich von Diäten und dergleichen mehr nichts oder doch nicht viel verspricht. Den Reichstag bringt das herunter, was relativ das Beste an ihm ist: seine getreue Widerspiegelung der in der Nation vorhandenen Klassengegensätze. Wir überlassen es der Dummenjungenmanier der bismärckischen Tintenkulis, über das „Wallotbräu" herzuziehen; uns ist eine parlamentarische Körperschaft, die durch das allgemeine Stimmrecht gewählt ist, eine ernsthafte Sache, aber man muss von ihr nicht mehr verlangen, als sie leisten kann, und der Münchhausen ist sie nicht, der sich am eigenen Zopfe aus dem Sumpfe ziehen könnte.

Soll die politische Stagnation des Zickzackkurses überwunden werden, so gilt es, ihre wirkliche Ursache zu beseitigen, das Machtverhältnis, das gegenwärtig zwischen den verschiedenen Klassen der Nation besteht. Das kann weder die Regierung noch der Reichstag vollbringen, sowenig wie irgendeine politische Partei; das ist vielmehr die Sache der ökonomischen Entwicklung. Aber diese Entwicklung zu fördern, liegt in der Macht jeder Partei, die sich wissenschaftlich klar geworden ist über die Bedingungen des historischen Fortschritts, und dadurch sind die gegenwärtigen Aufgaben der Sozialdemokratischen Partei klar gestellt. Mit dem Zickzackkurs in irgendeiner Form zu paktieren, hieße einen Zustand der Versumpfung noch mehr versumpfen; es wäre die verhängnisvollste Täuschung von der Welt, sich durch die verhältnismäßige Ruhe und Stille des Sumpfes in den Wahn wiegen zu lassen, dass er der geeignete Boden sei, eine Schäferidylle aufzuführen. Niemals mag es schwieriger gewesen sein, aber niemals war es auch notwendiger als in unseren Tagen, sich gegenwärtig zu halten, worin das Wesen einer proletarischen Kampfpartei besteht.

Wie ihre Taktik keine andere sein kann, als vorwärts zu drängen und zu treiben, so ist der mütterliche Boden, aus dem sie immer neue Kraft schöpft, nicht die Tribüne irgendeines Parlaments, sondern das nationale Leben in all seiner politischen und sozialen Mannigfaltigkeit; auch daran mögen die trübseligen Umstände erinnern, unter denen der Reichstag eben auseinander gegangen ist.

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