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Franz Mehring 19010724 Die Hungerblockade

Franz Mehring: Die Hungerblockade

24. Juli 1901

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Zweiter Band, S. 513-516. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 412-416]

Der Zipfel, den der Stuttgarter „Beobachter" vor einigen Wochen von dem Hunger- und Wuchertarif lüftete, der unter der Herrschaft des genialen Staatsmanns Bülow dem deutschen Volke beschert werden soll, hat ein Attentat auf den Magen der Massen und zugleich ein Attentat auf die Zukunft der Nation enthüllt, wie es verhängnisvoller selbst in den schlimmsten Tagen des beschränktesten Absolutismus nicht vorgekommen ist.

Die einzige analoge Erscheinung der preußischen Geschichte wäre etwa die Regiewirtschaft in den letzten Jahrzehnten des alten Fritz, die ebenso den geliebten Untertanen das letzte Mark aus den Knochen sog, wie sie den Bankrott von Jena vorbereitete. Immerhin war die Sache damals nicht so arg wie heute; wenigstens eine teilweise Ermäßigung der Brotsteuer wurde unter der Regie für notwendig gehalten, um die ungeheuerliche Belastung aller sonstigen Genuss- und Lebensmittel erträglich zu machen. Jetzt soll umgekehrt der Brotwucher in erster Reihe betrieben, der Roggenzoll von 3,50 auf 6 Mark gesteigert werden. Höchstens insofern ist die berühmte friderizianische Tradition noch nicht ganz erloschen, als der Brotwucher sich äußerlich gewissermaßen bescheiden ausnimmt neben dem Fleischwucher. Der Zoll für Stiere und Kühe soll von 9 auf 25, der Zoll für Wurst von 17 auf 45, die Abgabe auf Eier von 2 auf 6 Mark erhöht werden!

Welche holden Geheimnisse der neue Zolltarif sonst noch enthält, ist bisher nicht ans Tageslicht gekommen, aber was wir davon wissen, genügt vollkommen, um zu sagen, dass eine vollkommene Hungerblockade über die Nation verhängt werden soll, eine Hungerblockade, wie sie annähernd, aber auch nur annähernd in den Tagen der friderizianischen Regie bestanden hat, um in der Schlacht von Jena ihr verdientes Urteil zu erhalten. Dabei renommierte der alte Fritz auch noch nicht mit einer Weltpolitik, die in zwecklosen Abenteuern Gut und Blut der Nation verschwendete, und das Volk selbst hatte wenigstens den kümmerlichen Trost, sich als Opfer einer Bande ausländischer Spitzbuben zu betrachten, während es sich heute gestehen muss, dass es von den „Edelsten und Besten" der Nation ans Kreuz geschlagen werden soll. Es wird für die Tausende, die unter der Herrschaft dieses Tarifs die Sense des Todes dahin mähen würde, gewiss ein erhebendes Bewusstsein sein, dass sie für ein hohes Ziel sterben, dass sie sterben sollen, damit die v. Itzenplitz und die v. Zitzewitz auch fernerhin „standesgemäß" Austern und Sekt frühstücken können.

Es war nicht unbegreiflich, dass die Enthüllungen des Stuttgarter „Beobachters" zunächst wenig beachtet oder etwa als ein Versuchsballon aus bürgerlich-demokratischem Lager betrachtet wurden, der durch ungeheuerlich übertriebene Zollsätze die offiziöse Dementiermaschine reizen solle, wobei dann vielleicht einige Angaben über die wirkliche Lage der Dinge herausspringen könnten. Man kannte zwar längst die Unersättlichkeit des ostelbischen Junkertums, aber man traute, auch in Kreisen, die sonst eben nicht an Vertrauensseligkeit leiden, dem Reichskanzler noch ein gewisses Maß politischen Verantwortlichkeitsgefühls, ein gewisses Maß auch politischer Einsicht oder, wenn das zu viel gesagt sein sollte, rechnerischer Fähigkeit zu. Da er mit der Möglichkeit rechnet, neue Handelsverträge abzuschließen, so glaubte man nicht, dass er sich zu solchen, wie ein bürgerlich-demokratisches Blatt nicht mit Unrecht sagt, Wahnsinnszöllen bequemen würde. Aber man hat den Grafen Bülow überschätzt; er treibt wirklich die, höflich ausgedrückt, naive Politik, mit diesem Hungertarif noch auf Handelsverträge zu spekulieren. An der Richtigkeit der Enthüllungen, die der Stuttgarter „Beobachter" gebracht hat, besteht heute kein Zweifel mehr; die offiziösen Blätter schweigen, und die junkerlichen Organe helfen sich über die vorzeitige Offenbarung ihres beispiellosen Attentats mit dem verlegenen Trotze der Ausrede hinweg: Was der neue Tarif biete, könne den Agrariern noch lange nicht genügen. Die Sache stimmt unbedingt, und es heißt sogar, dass Graf Bülow selbst nunmehr mit der ganzen Wahrheit herausrücken wolle. Ob dem so ist oder nicht, wird sich bald genug zeigen; es wäre ein rechtes Pech für den sonst so erfolgreichen Kanzler, wenn er nicht einmal sein gewiss nicht großartiges, doch sonst ganz pfiffiges Programm durchführen könnte, wonach eine Hungerblockade um so größere Aussicht hat zu gelingen, je unvermuteter sie über das Volk verhängt wird.

Sind die Enthüllungen des Stuttgarter „Beobachters" zutreffend, so ist es wahrscheinlich genug, dass sie ihm von der württembergischen oder sonst einer Regierung zugesteckt worden sind. Wir müssen aber gestehen, dass wir für diese Opposition gegen das preußische Junkertum und dessen Protektor Bülow nicht dasjenige Maß von Bewunderung und Sympathie aufbringen können wie manche liberale Gegner des neuen Zolltarifs. Im Gegenteil, diese heimliche Opposition von hintenherum ist recht geeignet, die junkerlichen Unverschämtheiten zwar nicht zu rechtfertigen, aber doch zu erklären. Gewiss haben die süddeutschen Regierungen, und hat überhaupt jede deutsche Regierung, die sich nicht, wie die preußische, in der Macht der Junker befindet, den dringendsten Anlass, wegen des neuen Zolltarifs mit dem Reichskanzler anzubinden. Aber jede deutsche Regierung hatte und hat auch die Möglichkeit, diese Opposition ehrlich, nachdrücklich, wirkungsvoll zu vertreten; jede deutsche Regierung, die von dieser verfassungsmäßigen Möglichkeit einen verfassungsmäßigen Gebrauch gemacht hätte, würde sich ein wirkliches Verdienst um die Nation erworben haben. Aber wann wird sich denn je eine deutsche Regierung ein wirkliches Verdienst um die Nation erwerben? Das ist nach der Natur der deutschen Regierungen ein für allemal ausgeschlossen; so haben sie in aller Untertänigkeit mit dem Grafen Bülow heimlich gemunkelt, und nur weil diesem oder jenem hypochondrischen Geheimrat doch ein wenig angst und bange wird bei dem Gedanken an die Schrecken der Hungerblockade, kommt das düstere Geheimnis in versteckter und verstohlener Form ans Tageslicht.

Auf gleicher Höhe mit dieser Courage der deutschen Regierungen steht die Courage, die der bürgerliche Liberalismus eben bei der Stichwahl in Memel-Heydekrug beweist. Er sah mit Recht in dem Ausfall der Hauptwahl, in dem gewaltigen Stimmenzuwachs des sozialdemokratischen Kandidaten, ein Menetekel für die Brotverteuerer; die einfachste Logik musste ihm also sagen, dass wenn der sozialdemokratische Kandidat in der Stichwahl mit dem Konservativen siegte, dieser Schlag von der Regierung und vielleicht selbst von den ostelbischen Junkern schmerzlich empfunden werden und ihren brotwucherischen Trutz ein wenig dämpfen würde. Es lag somit in der Hand des bürgerlichen Liberalismus, der angeblich vom Scheitel bis zur Zehe sittlichste Entrüstung gegen die drohende Hungerblockade ist, der guten Sache einen wesentlichen Dienst zu leisten, ohne irgendeine besondere Anstrengung oder Gefährdung; die paar tausend liberalen Stimmen brauchen in der Stichwahl nur für den sozialdemokratischen Kandidaten abgegeben zu werden, und die Brotwucherer haben ein erstes Vorpostengefecht verloren.

Aber statt zu tun, was politische Ehre und politische Vernunft gebieten, treibt der Liberalismus wieder das alte faule Spiel. Die einfache Fahnenflucht ins Lager des Todfeindes, wie einst bei den Septennatswahlen, wagt er freilich nicht mehr; dazu sind die Hiebe der Junker denn doch zu tief ins Fleisch des Spießbürgers eingedrungen. Er spielt sich vielmehr auf den Genius neutraler Überlegenheit hinaus; in der keuschen Reinheit seiner politischen Überzeugung kann er sich nicht für den Brotwucher engagieren, aber beileibe auch nicht für den entschlossensten oder vielmehr den einzig entschlossenen Gegner des Brotwuchers. Von Partei wegen darf also kein Entschluss gefasst werden, und da das Nichtfassen eines Entschlusses am Ende noch ein Entschluss ist, so soll jeder Wähler stimmen, wie ihm beliebt. Man mag zu Ehren des Freisinns annehmen, dass ihn nicht sowohl der Genuss an schrankenloser Molluskenhaftigkeit zu dieser famosen Taktik bestimmt hat, sondern der Wunsch, den Brotwucherern wenigstens heimlich ein Bein zu stellen; jedenfalls hat er selbst dann, wenn die freisinnigen Wähler im Wahlkreis Memel-PIeydekrug sozusagen bei Nacht und Nebel für den sozialdemokratischen Kandidaten stimmen und dessen Sieg entscheiden sollten, wieder die günstige Gelegenheit verpasst, dem Junkertum einen schmerzhaften Schlag zu versetzen. Hätte er ehrlich erklärt: Auch mein unendlicher Geduldsfaden hat endlich sein Ende erreicht, und um die Hungerblockade abzuwehren, werde ich selbst mit dem sonst dreimal verfluchten Sozialdemokraten zusammengehen, so wäre das immerhin eine Sache gewesen, aber diese versteckte und verstohlene Opposition von hintenherum, die der Freisinn im Wahlkreis Memel-Heydekrug gewählt hat, ist politisch ebenso wertlos wie das gleichartige Verhalten der deutschen Regierungen. Über solche Velleitäten zucken die Junker in ihrem Kämmerlein einfach die Achseln und sagen mit ihrem alten Gönner Bismarck: Dor lach' ick öwer!

Es gibt nur einen Weg, den frechen Angriff der Brotwucherer abzuschlagen: Das ist eine mächtige Volksbewegung, bei der, wenn auch nicht den abgebrühten Junkern, so doch jeder verantwortlichen Stelle Hören und Sehen vergeht, und diese Volksbewegung kann nur von der Sozialdemokratischen Partei erweckt, organisiert und geleitet werden. Die Partei braucht sich deshalb nicht feindselig oder gehässig gegen die bürgerlichen Elemente zu stellen, die in ihrer Art auch den Brotwucher bekämpfen; weshalb sollten in dem allgemeinen Landsturm, der gegen die Hungerblockade aufgeboten werden muss, nicht auch die Invalidenkompanien oder die Krüppelgarde mit marschieren? Allein man gewinnt keinen Feldzug, ohne sich vorher über die Strategie und Taktik klar zu sein, die man befolgen muss; man besiegt am wenigsten auf's Geratewohl so verzweifelte Gegner wie die ostelbischen Junker, die um die künstliche Erhaltung ihrer verkrachten Existenz ringen und sicherlich alles daransetzen werden, um nicht alles zu verlieren.

Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, wenn jetzt nicht endlich mit all den Trödeleien gründlich aufgeräumt würde, die unter günstigeren Zeitverhältnissen einen harmlosen oder doch verhältnismäßig harmlosen Zeitvertreib bilden mochten: mit der Phantasie, als ob von München oder Stuttgart oder Karlsruhe her dem ostelbischen Junkertum ein gebieterisches Halt zugerufen werden könnte, oder mit der Utopie jener großen demokratischen Partei, in der die deutschen Arbeiter als linker Flügel mit marschieren sollen. Derartige Trödeleien haben auch ihr Teil dazu beigetragen, den junkerlichen Übermut bis zur Höhe der Hungerblockade zu steigern; um so notwendiger ist es, den Itzenplitzen und Zitzewitzen so bald und so gründlich wie möglich einzupauken, dass alle angeblichen „Mauserungen" die energische Schlagkraft der Partei nicht im geringsten geschwächt haben.

Eine günstigere Gelegenheit, die Massen des Volkes in ihrer wirklichen Massenhaftigkeit ins Gefecht zu bringen, hat sich noch niemals geboten. Wird sie ausgenutzt, wie sie ausgenützt werden kann, wenn auch freilich nur von der Sozialdemokratischen Partei ausgenützt werden kann, so ist die Niederlage des Junkertums gewiss. Man kann freilich sagen, das sei sie ohnehin, denn ein Raubzug, wie ihn das ostelbische Junkertum in einem Lande mit einer hoch entwickelten Industrie und einem riesenhaften Arbeiterheer wage, sei zum Scheitern verdammt, und gerade wenn die Junker zunächst auf der ganzen Linie siegten, würden sie um so tiefer in ihr Verderben rennen. Das ist an sich ganz richtig, aber es ist ein sehr schlechter Trost, wenn manche liberalen Blätter so argumentieren, um dann voll arglosen Gottvertrauens die Hände in den Schoß zu legen. Gewiss, vor dem schließlichen Bankrott können die Junker auch durch keine Hungerblockade gerettet werden, aber es macht einen gewaltigen Unterschied, ob der Bankrott des Junkertums zugleich der Bankrott der Volksmassen oder aber ihr Triumph über ihre ältesten und ruchlosesten Feinde sein soll. Es wäre sündlich, vor dieser Entscheidung auch nur einen Augenblick zu schwanken.

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