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Franz Mehring 19011211 Die Zolltarifdebatte

Franz Mehring: Die Zolltarifdebatte

11. Dezember 1901

[Die Neue Zeit. 20. Jg. 1901/02, Erster Band, S. 321-324. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 437-441]

Der Reichstag hat bereits sieben Tage an die erste Lesung des Zolltarifs gewandt und wird noch einige Tage daran wenden, ohne dass man behaupten könnte, die Welt sei durch diese Verhandlungen viel klüger geworden. Ultra posse nemo obligatur, Unmögliches zu leisten kann niemand verpflichtet werden, und es ist unmöglich, neue Argumente für oder gegen den Brotwucher vorzubringen; dies Gebiet ist von der Presse längst bis auf den letzten Halm abgeerntet worden.

Gleichwohl wäre es sehr töricht zu sagen, dass die siebentägige Debatte des Reichstags zwecklos gewesen sei. Das Wort Parlament kommt zwar von parlieren, vom Sprechen her, und der bürgerliche Parlamentarismus ist oft als eine Sprechmaschine, als ein Schwatzklub gekennzeichnet worden, allein wenn er nur das wäre, so hätte die Arbeiterklasse kein Interesse, sich daran zu beteiligen. Ein Schwatzklub im schlimmsten Sinne des Wortes war ihrer Zeit die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 und 49, weil sie gar keinen festen Boden unter den Füßen hatte und auch durchaus keinen ernsthaften Versuch machte, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Parlamente aber wie der deutsche Reichstag stehen bei all ihren noch so spärlich bemessenen Befugnissen doch nicht in der Luft; sie marschieren auf ebener Erde, und sowenig sie der Ort sind, wo man sich über die Fragen belehren kann, die augenblicklich auf der Tagesordnung der nationalen Entwicklung stehen, sosehr sind sie der Ort, das richtige Urteil zu gewinnen über die Stellung der einzelnen politischen Faktoren zu der brennenden Frage des Tages.

In dieser Beziehung aber hat die bisherige Debatte des Reichstags mancherlei wertvolle Aufschlüsse gebracht. Der Brotwucher ist von den offiziellen Vertretern aller möglichen deutschen Regierungen verteidigt worden, jedoch so, dass die preußische Junkerklasse als sein eigentlicher Urheber unzweideutig hervortrat. Bekanntlich war es im Jahre 1879, als das Prohibitiv- und Protektionssystem seinen ersten großen Erfolg errang, wenn auch nicht umgekehrt, so doch anders. Damals war der allmächtige Reichskanzler Bismarck die treibende Kraft, und die Junker, die ihn eben erst bis aufs Blut mit den infamierendsten Beschuldigungen verfolgt hatten, strömten ihm als jubelnde Gefolgschaft zu. Heute werden die Regierungen als politisches Futter fürs Pulver von den Junkern vorausgeschickt; im Dienste dieser edlen Klasse lassen sie sich moralisch zusammenmetzeln, aber politisch halten sie ihr gleichwohl die Machtmittel des Staates bereit.

Man braucht an den Begriff des preußisch-deutschen Staatsmannes nur einen mittelmäßigen Maßstab zu legen, und man wird doch zu der Erkenntnis gedrängt, dass es einen geringwertigeren „leitenden Minister" als den Grafen Bülow sogar in Ostelbien noch niemals gegeben hat. Wir wollen hier nicht zu tief in der preußischen Geschichte zurückgehen, um den Nachweis zu führen, dass selbst in vormärzlicher Zeit die preußischen Minister die Interessen des Staates im Sinne des Gemeinwohls mehr oder weniger gegen den grenzenlosen Eigennutz des Junkertums zu wahren gesucht haben; halten wir uns nur an die bisherigen Reichskanzler, so haben alle Vorgänger des Grafen Bülow sich doch eine gewisse Widerstandsfähigkeit gegen die maßlosen Ansprüche der preußischen Junker zu sichern gewusst, eine Widerstandsfähigkeit, die niemals entfernt genügte und allzu oft in würdelose Nachgiebigkeit umschlug, aber die bis zu einem gewissen Grade doch immer vorhanden war. Auch Bismarck hat zeitweise den Junkern den Daumen aufs Auge gedrückt; Caprivi hat ihnen manches Wasser in ihren Wein oder vielmehr, wie es bei diesen Schnaps brennenden Stützen von Thron und Altar heißen muss, in ihren Schnaps geschüttet, und Fürst Hohenlohe lag wenigstens in einem heimlichen Kleinkrieg mit ihnen. Es war dem Grafen Bülow vorbehalten, dieser unersättlichen Rasse das nationale Gemeinwesen mit Haut und Haaren auszuliefern, und das sichert ihm in den Jahrbüchern preußischer Staatskunst einen Platz, der stets von schwefelgelber Glorie strahlen wird.

Allerdings versuchte Graf Bülow diese Glorie mit der strahlenden Glorie des Patrioten zu verhüllen. Er verteidigte im Reichstag den Brotwucher mit „nationalem Pathos"; wie elend, wie feige, wie landesverräterisch sei es von der tariffeindlichen Presse, immer auf das Ausland zu schielen und die Repressalien des Auslandes zu fürchten! Bei dieser Sorte von Argumentation geht aber nichts flöten als der letzte Ruhm, den die Bewunderer des Grafen Bülow ihm gern noch retten möchten, nämlich der Ruhm des Diplomaten. Was ist denn der Beruf des Diplomaten anderes als auf das Ausland zu schielen und die auswärtige Politik so zu leiten, dass keine gefährlichen Repressalien der auswärtigen Mächte eintreten können? Wenn das elend und feige und landesverräterisch sein soll, nun, so wollen wir zunächst einmal unsere so überaus kostspielige Diplomatie zur Türe hinaus spedieren, was Graf Bülow jedoch als ein nationales Unheil ersten Ranges betrachten würde. Was will er also mit patriotischen Fadaisen? Glaubt er wirklich, dass es noch stockdumme Philister gibt, die mit patriotischem Hochgenuss die redlich verdiente Prügelsuppe auslöffeln würden, die ihnen der Wuchertarif vom Ausland einbringen müsste, wenn er im Selbstbewusstsein nationaler Autonomie durchgehen sollte. Nach dieser wunderbaren Theorie des Grafen Bülow hätten die preußischen Junker nach der Schlacht bei Jena in einem wahren Meere patriotischer Wonne schwimmen müssen; sie hätten mit Recht sagen können: In dem edlen Selbstbewusstsein unseres altfritzischen Dünkels haben wir es verschmäht, auf das Ausland zu schielen und dessen Repressalien zu fürchten, dafür haben wir zwar die fürchterlichsten Prügel besehen und das ganze Land ins größte Unglück gestürzt, aber gegen unseren Patriotismus soll mal einer ankommen!

In der Tat wehte die Luft von Jena in der Zolldebatte um den Grafen Bülow und seine junkerlichen Treiber. So gedacht, wie der Graf Arnim-Muskau in seinem Hohnruf über ein verhungerndes Kind verriet, haben die preußischen Junker von jeher, aber so gesprochen doch nur in den Jahren von Jena, und selbst damals vielleicht nicht so frech wie heute. Am Ende würden selbst sie manches darum geben, wenn ihnen der Graf Arnim, ihr eigener Klassengenosse, dies Denkmal der Schande nicht errichtet hätte; nicht aus innerem moralischen Abscheu über das Wort, denn unter sich sprechen sie immer so, aber weil dadurch die Heuchelei unmöglich gemacht wird, deren Maske ihnen nötig ist, um ihre Raubzüge glücklich durchzuführen. Umso dankbarer müssen wir dem Schreckenskind des Brotwuchers für sein unwillkürliches Bekenntnis sein, zumal da wir ihm, eben wegen der Unfreiwilligkeit dieses Bekenntnisses, diesen Dank nicht persönlich abzustatten brauchen. Er gebührt vielmehr dem Manne, der durch die zornige Wucht seiner Anklage den Mitschuldigen des geplanten Massenmordes zum Geständnis brachte.

Es gibt keine größere Schmeichelei für Bebel, als dass die „Konservative Korrespondenz" gestern ihre Parteigenossen ermahnte, sie möchten sich von den sozialdemokratischen Rednern nicht zu Zwischenrufen provozieren lassen. Natürlich stellt sich das würdige Organ nur in eitel Schwindel so an, als ob Bebel in komödiantischer Eitelkeit auf solche Zwischenrufe ausgehe, um seine Reden interessant zu machen; was die Herzenskündigerin der konservativen Politik wirklich fürchtet, ist das heiße persönliche Temperament, womit Bebel und die sozialdemokratische Agitation überhaupt den Kampf um den Brotwucher führt. Diese Kampfesweise fürchten die Junker mit Recht, so sicher sie den Reichskanzler in der Tasche und so viel heimliche Verbündete sie in allen bürgerlichen Parteien haben mögen: sie sind ihrer Niederlage sicher, wenn die hungernden Volksmassen die Frage des Brotwuchers in dem Stile traktieren, wie es die sozialdemokratischen Redner Bebel und Molkenbuhr im Reichstag getan haben. Die Junker sind dann mit ihrer Weisheit am Ende oder denunzieren selbst, wie es Graf Arnim getan hat, die Gemeingefährlichkeit ihrer Plünderungspläne in geflügelten Worten, die schließlich noch aufreizender sind und die hungernden Volksmassen noch tiefer aufwühlen als selbst die sozialdemokratische Agitation. Deshalb ist die „Konservative Korrespondenz" auf den naiven Vorschlag verfallen, die Junker, die im Reichstag sitzen, möchten sich, sobald Bebel zu sprechen beginne, ein Schloss vor den Mund hängen, um nur ja nicht ihres Herzens holde Geheimnisse unter dem suggestiven Eindruck einer ungestümen Beredsamkeit zu verraten.

So lächerlich dieser Vorschlag ist, so lehrreich ist er doch auch. Er zeigt, was und wen die junkerlichen Brotwucherer wirklich fürchten. Kein Zweifel, dass auch die freisinnigen Redner in der siebentägigen Debatte des Reichstags recht gut und treffend gegen den Zolltarif gesprochen haben, und in ihrer Presse kann man sogar lesen, ihre ruhigere und sachlichere Art der Diskussion habe die Pläne der Brotwucherer stärker durchkreuzt als die leidenschaftliche Sprache der sozialdemokratischen Redner. Nichts aber kann irriger sein als diese Meinung, die vom parlamentarischen Kretinismus mehr als nur angekränkelt ist. Möglich, dass die freisinnigen Reden mehr „sachliches Material" enthalten haben als die sozialdemokratischen Reden, wobei unter „sachlichem Material" die technisch-volkswirtschaftlichen Gründe gegen den Zolltarif verstanden werden, aber wer sich davon die praktisch größere Wirkung verspricht, der muss in der Tat der Illusion huldigen, dass der politische Erfolg einer Partei abhängt von der Stärke der vernunftgemäßen Gründe, die sie für ihre Auffassung vorbringt. So sollte es wohl sein, aber so ist es leider nicht in den harten Kämpfen der Klassen, zumal in einer von Klassengegensätzen so zerrissenen Zeit, wie die unserige ist. Die Junker pfeifen auf alle Logik, die gegen den Wuchertarif aufgeboten wird, wenn sie anders nur die Macht haben, ihn durchzusetzen. So manches treffende Wort deshalb auch die freisinnigen Reden enthielten, so sind sie doch so gut wie in den Wind gesprochen, eben weil sie sich in „ruhiger" und „sachlicher" Bescheidenheit an Logik und Vernunft genügen ließen.

Logik und Vernunft sind erst dann unwiderstehlich, wenn sie die nötige Macht hinter sich zu sammeln wissen; erst dann flößen sie dem Unrecht und der Unvernunft den nötigen Respekt ein und tragen auf die Dauer den Sieg über sie davon. Das wissen die Junker sehr genau, und deshalb fürchten sie die sozialdemokratische Kampfweise viel mehr als die freisinnige, weil jene allein den Heerbann auf die Beine zu bringen vermag, an dem überhaupt nur noch der Brotwucher scheitern kann, nämlich die hungernden Volksmassen. Es ist das weitaus wertvollste Ergebnis der siebentägigen Reichstagsdebatte, klipp und klar gezeigt zu haben, dass nach der ganzen Lage der Dinge die Frage um Sein oder Nichtsein des Zolltarifs einfach die ist, ob der Erfolg, den die Junker schon mit Händen zu greifen hoffen, am Widerstand der Arbeiterklasse scheitert oder nicht.

Immer unzweideutiger zeichnet sich die Situation ab, auf die der Gang der preußischen Geschichte schon seit lange hinarbeitet: Der Bund der Landwirte und die Sozialdemokratische Partei, Junkertum und Proletariat stehen sich als die entscheidenden Mächte gegenüber, und so groß die Frage des Wuchertarifs ist, so hängen doch noch größere Fragen davon ab, ob der Brotwucher über die Sozialdemokratie hinweg schreitet oder aber sie über ihn.

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