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Franz Mehring 19010320 Dreißig Jahre Reichstag

Franz Mehring: Dreißig Jahre Reichstag

20. März 1901

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Erster Band, S. 769-771. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 383-386]

Mit dem heutigen Tage hat der deutsche Reichstag sein dreißigstes Lebensjahr vollendet, er hat also nach der üblichen Rechnung ein Menschenalter hinter sich. Er wurde am 21. März 1871 zum ersten Male eröffnet, unter viel prunkenden Reden und mit den überschwänglichsten Hoffnungen; so mag der heutige Tag wohl die Frage anregen, wie viele oder wie wenige dieser Hoffnungen sich erfüllt haben.

Wir denken dabei nicht an die landesübliche sentimentale Auffassung der Dinge, wir ergehen uns nicht in melancholischen Betrachtungen darüber, dass damals der Nationalliberalismus die „maßgebende" Partei war, während es heute der Ultramontanismus ist, dass damals der Liberale Simson auf dem Präsidentenstuhl saß, auf dem sich heute der Ultramontane Ballestrem mit Würde zu fassen weiß. Der Kampf der Parteien ist das Leben des modernen Staates, und es hat immer seine guten Gründe, wenn die eine nach oben und die andere nach unten kommt. Man kann die ultramontanen Erfolge noch viel lebhafter beklagen und noch viel heftiger bekämpfen, als es der Liberalismus tut, und sie gleichwohl als ganz legitim anerkennen von dem einfachen logischen Gesichtspunkt aus, dass wenn der Liberalismus unten durch ist, der Ultramontanismus obenauf kommen muss.

Anders steht es um die Frage, ob die Machtstellung des Reichstags als solche sich seit dreißig Jahren verstärkt hat oder nicht, ob die Volksvertretung innerhalb des Reichsorganismus mehr oder weniger zu sagen hat als vor einem Menschenalter. Über diese Frage selbst wird es schwerlich verschiedene Meinungen geben, sosehr das Urteil über sie auseinander gehen mag, sosehr die einen eine Tatsache beweinen mögen, die von den anderen laut bejubelt wird. Die Tatsache an und für sich, dass der Reichstag in drei Jahrzehnten seine Machtstellung nicht verstärkt und eben dadurch verschlechtert hat, wird kaum bestritten werden, und wenn irgendwer sie bestreiten sollte, so wäre es leicht, ihn vom Gegenteil zu überführen.

Die entscheidende Frage des Parlamentarismus ist immer die, ob und welchen Anteil die Volksvertretung an der exekutiven Gewalt, ob und welche Verfügung sie über die Machtmittel des Staates hat. In naiver Ungeschminktheit spricht der Paragraph 61 der englischen Magna Charta diesen Zusammenhang aus, und er mag deshalb nach der gewiss getreuen und loyalen Übersetzung Lothar Buchers hier angeführt werden: „Sintemalen wir zur Ehre Gottes und zur Verbesserung unseres Königreichs, und zur besseren Beruhigung der Zwietracht, die zwischen uns und unseren Baronen ausgebrochen ist, alle diese vorbesagten Dinge zugestanden haben, gewillt, sie fest und dauernd zu machen, so geben und bewilligen wir unseren Untertanen die nachfolgende Sicherheit, nämlich, dass die Barone fünfundzwanzig Barone des Königreichs wählen mögen, die sie gut finden, und die Sorge tragen sollen, mit aller Macht für die Erhaltung und Beobachtung des Friedens und der Freiheiten, die wir ihnen bewilligt und durch diese Charte bestätigt haben, also dass, wenn wir, unser Justitiarius, unsere Amtleute und andere unserer Beamten in irgendeinem Punkte in der Beobachtung derselben es sollten fehlen lassen, oder irgendeinen dieser Friedens- und Sicherheitsartikel brechen, und das Vergehen vier der erwähnten fünfundzwanzig Barone angezeigt wird, diese vier Barone sich zu uns oder, wenn wir außer Landes sind, sich zu unserem Justitiarius begeben, die Beschwerde vorstellen und auf unverzügliche Abhilfe antragen, und wenn binnen vierzig Tagen keine Abhilfe erfolgt, den fünfundzwanzig Baronen vorlegen, und diese zusammen mit der ganzen Gemeinde des Reiches uns auf alle mögliche Weise zwingen und verkümmern sollen durch Beschlagnahme unserer Schlösser, Ländereien und Besitzungen, und auf welche andere Weise sie können, bis die Beschwerde zu ihrer Zufriedenheit abgestellt ist, jedoch ohne Harm für unsere Person, unsere Gemahlin und Kinder, und wenn die Beschwerde abgestellt ist, werden sie uns gehorchen wie zuvor. Und jede Person im Königreich mag schwören, dass sie den Befehlen der fünfundzwanzig Barone gehorchen und uns mit ihnen verkümmern will nach bestem Vermögen." Nimmt man diesem Paragraphen die mittelalterliche Form, so enthält er noch heute das Geheimnis allen Konstitutionalismus und Parlamentarismus; hat ein Parlament nicht die Macht, im Falle eines Konfliktes seinen Willen dem Willen der Krone aufzuerlegen, so ist es nur das Scheinbild eines Parlaments.

Die deutsche Reichsverfassung hatte von vornherein den Reichstag mit so spärlichen Rechten ausgestattet, dass sie nach dem gewiss kompetenten und loyalen Zeugnis des gegenwärtigen preußischen Finanzministers Miquel nur zur „Aufhelfung eines kurzlebigen Militärstaats" tauglich war. Wenn nun aber dieser Militärstaat doch recht langlebig geworden ist, wenn er bereits über dreißig Jahre zählt, ohne irgendeine Spur von Altersschwäche zu verraten, so ist die Ursache davon, dass der Reichstag selbst von seinen spärlichen Rechten nicht einmal den gehörigen Gebrauch zu machen gewagt hat. Er hat der Regierung fort und fort mit unerschöpflichen Händen neue Machtmittel gespendet, selbst wenn sie nach der Überzeugung seiner Mehrheit dem allgemeinen Wohle schädlich waren, nur aus Angst vor einem jener „Konflikte", in denen der Parlamentarismus, der etwas bedeuten will, gerade seine Bedeutung zu zeigen hat. Indem der Reichstag immer die Flagge strich, ehe es zum Kampfe kam, hat er seine paar Waffen gänzlich verrosten lassen und darüber mehr und mehr auch an moralischem Ansehen verloren, das zwar an sich noch keine Macht ist, aber wo es hinschwindet am sichersten die wachsende Ohnmacht bekundet.

An dieser Ohnmacht tragen alle bürgerlichen Parteien ihr Teil der Schuld, die einen größere, die anderen geringere, doch ganz unschuldig ist keine. Es besteht auch nicht die geringste Aussicht, dass sich eine von ihnen bessern wird, und für absehbare Zeit ist an einen Aufschwung des Parlamentarismus im Deutschen Reiche nicht zu denken. Man kann froh sein, wenn er nicht noch tiefer sinkt, wenn wenigstens dies äußerste Maß der Erniedrigung von dem Reichstag fern gehalten wird, dass er sich, wie einst beim Erlass des Sozialistengesetzes, auch den ausschweifendsten Angriffen der Regierung auf die Grundlagen eines verfassungsmäßigen Lebens fügt. Gegen solche Attentate hat der Reichstag allerdings im letzten Jahrzehnt eine gewisse Widerstandskraft gezeigt, ebenso wie gegen absolutistische Auswüchse, die allzu tief in das ökonomische Interesse der bürgerlichen Klassen geschnitten hätten. Allein dabei ist er kaum über die Grenzen hinausgegangen, die auch im absolutistischen Staate oft genug von bürokratischen Körperschaften gegen allzu unbedenkliche Gelüste der Krone gezogen worden sind. Im absolutistischen Staate gilt das sic volo, sic jubeo1 keineswegs unbedingt, und ein Parlament, dessen einziges Verdienst darin besteht, gewissen äußersten Zumutungen gegenüber Fuß beim Male zu halten, ist kein Parlament im wirklichen Sinne des Wortes, sondern eine Körperschaft, die sich an Leistungsfähigkeit nicht viel über einen vormärzlichen Staatsrat erhebt.

Indem wir diesen Stand der Dinge ohne alle Voreingenommenheit betrachten, wissen wir uns frei von jeder Schadenfreude. Der moderne Parlamentarismus ist ein notwendiges Durchgangsstadium der historischen Entwicklung, und wir haben nicht das Geringste mit den Reaktionären zu tun, die das gesunkene Ansehen des Reichstags benützen, um zu feudalständischem oder sonstigem historisch vermoderten Unwesen zurückzukehren. Solchen Leuten gegenüber muss man durchaus zum Reichstag stehen, mag er sonst sein, wie er will. Aber in aller Politik ist klare und scharfe Erkenntnis der tatsächlichen Lage immer das oberste Erfordernis; und die Frage nach der tatsächlichen Macht des Reichstags ist keineswegs ohne Bedeutung für die Taktik der Arbeiterklasse. Entschließt man sich, auf einem bestimmten Gelände zu kämpfen, so muss man seine Natur genau studieren, um nicht auf diesem Kampfplatz ein Maß von Kraft nutzlos aufzureiben, das auf jenem Kampfplatz mit größerer Wirkung eingesetzt werden könnte.

Das Wort Parlament kommt von parlieren, von reden, und je ärmer ein Parlament an Macht ist, umso mehr pflegt es sich in Reden genugzutun. Es ist aber der Fluch des bloßen Redens, hinter dem keine wirkliche Tatkraft ist, dass es auf die Dauer entnervend und ermattend wirkt, auf die Hörer wie auf den Redner selbst, dass es den Schein einer fruchtbaren und großen Tätigkeit hervorruft, die in Wirklichkeit weder fruchtbar noch groß ist. Je schwächer der deutsche Reichstag geworden ist, je weniger sich die Hoffnungen erfüllt haben, die vor dreißig Jahren auf ihn gesetzt wurden, umso länger dehnen sich seine Verhandlungen aus. An dem wachsenden Umfang der stenographischen Berichte über diese Verhandlungen mag man sein abnehmendes Ansehen sozusagen mit der Elle messen.

Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion kann als eine geborene Minderheit den parlamentarischen Verfall nicht aufhalten oder doch nur insoweit aufhalten, als sie dem Reichstag den Rücken steift, um wenigstens das äußerste Maß von Reaktion abzuwehren. Glücklicherweise gibt es für die Arbeiterklasse viele Wege nach Rom, und wenn Johann Jacoby einst sagte, die Gründung des kleinsten Arbeitervereins sei historisch wichtiger als die Schlacht bei Sadowa, so gilt das heute noch, auch wenn man für die Schlacht bei Sadowa gleich einige Dutzend parlamentarische Hauptschlachten in das geflügelte Wort einstellt.

1 sic volo, sic jubeo (lat.) - so will ich es, so heiße ich es gut.

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