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Franz Mehring 19010227 Eine phantastische Rechnung

Franz Mehring: Eine phantastische Rechnung

27. Februar 1901

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Erster Band, S. 673-676. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 378-382]

Am vorigen Sonntag hat in Offenburg die elfte Landesversammlung der sozialdemokratischen Partei Badens getagt, wobei die Genossen Fendrich und Dreesbach einige Äußerungen getan haben, die von der gegnerischen Presse als Beweise für die Rechtsschwenkung der Partei ausgebeutet werden. Hierdurch veranlasst, kommt der Berichterstatter des „Vorwärts" ausführlicher auf das zurück, was die beiden Genossen gesagt haben, und wenigstens an die Rede Dreesbachs möchten wir einige orientierende Bemerkungen knüpfen.

Genosse Dreesbach meinte, das fortgesetzte Zurückschrecken vor den, mit den parlamentarischen Präsidialämtern verbundenen Repräsentationspflichten schädige die Machtstellung der Partei insofern, als jene Ämter auf die Arbeiten der Parlamente weit reichenden Einfluss ausübten, der ohne Vertretung der Partei zu deren Nachteil ausgenützt werde. Mit einer derartigen Abstinenzpolitik erfreue die Partei lediglich ihre Gegner, die sie deshalb auch durch den Spott über die „sozialistische Hoffähigkeit" auf ihrer falschen Taktik festnageln möchte. Die Erfüllung der parlamentarischen Repräsentationspflichten usw. gegenüber den Höfen bedinge, sofern sie sich auf die verfassungsmäßig vorgeschriebenen Beziehungen der Parlamente zu dem Monarchen beschränke, keinerlei Verletzung und Verleugnung der sozialistischen Prinzipien; alle anderen Beziehungen zu den Höfen, wie zum Beispiel die Teilnahme an Hoffestlichkeiten usw., könne ohne Verletzung der übernommenen Verpflichtungen und müsse natürlich auch abgelehnt werden.

Diese genaue Wiedergabe dessen, was Genosse Dreesbach wirklich gesagt hat, verdirbt den bürgerlichen Blättern, die in ihrem Sinne politisches Kapital aus seinen Ausführungen zu schlagen versuchen, einigermaßen den Spaß; grundsätzlich ist nichts darin enthalten, was nicht seit zwanzig, ja in gewissem Sinne schon seit fünfzig Jahren Gemeingut der Partei ist. Als Liebknecht im Anfang der achtziger Jahre in die sächsische Kammer gewählt wurde, leistete er dem König den verfassungsmäßig vorgeschriebenen Treueid, worüber Most gewaltigen Lärm schlug und auch manche treue Anhänger der Partei bedenklich den Kopf schüttelten. Damals ist die Frage sehr eingehend innerhalb der Partei diskutiert worden mit dem Endresultat, dass, wo die deutschen Verfassungen das Hersagen irgendeiner feudalen Formel zur Vorbedingung der Ausübung staatsbürgerlicher Rechte machen, derartige Formeln ohne alles moralische oder politische Bedenken hergesagt werden können. Dieser Zustand mag seine Schattenseite haben, aber sie fällt allein auf die, die den deutschen Verfassungen solches mittelalterliches Schnörkelwerk angekleckst haben, nicht aber auf die, die sich an einer leeren Hülse nicht stoßen, um das bisschen wirklichen Volksrechtes wahrzunehmen, das in den deutschen Verfassungen enthalten ist.

Im Grunde ist die Frage schon von Lassalle in seiner Assisenrede vom Jahre 1849 beantwortet worden. Es handelte sich damals darum, ob das Volk ein widerrechtlich verkümmertes Wahlrecht anerkenne, indem es sich dieses Wahlrechtes bediene, um zu retten, was noch zu retten sei. Lassalle sagte darüber: „Sollte das Volk sich des verkümmerten Überbleibsels von Wahlrecht, welches ihm nach der königlichen Novemberrevolution geblieben war, nicht bedienen? Sollte es seinen Gegnern ganz freies Feld lassen und gar nicht mehr auf dem Kampfplatz erscheinen? Durch welchen Trugschluss will man den Unsinn uns plausibel machen, dass, weil das Volk wählte, um Organe, um Vorkämpfer zu haben, die ihm die geraubte Freiheit wiedererkämpfen helfen, es den Raub dadurch anerkannt habe? Ich nehme das erste beste Beispiel, das mir in die Hände fällt. Wenn mir ein Räuber im Schlummer eine kostbare Damaszenerklinge von der Seite reißt und mir seine schlechte Keule dafür liegen lässt, wenn ich auffahre, die Keule ergreife, dem Räuber nachsetze, um ihn damit totzuschlagen und mein Eigentum wieder zu erlangen – habe ich, weil ich die Keule gebrauchte, damit anerkannt, dass sie rechtmäßig gegen jenen Damaszener eingetauscht worden sei?" Diese Argumentation Lassalles trifft vollkommen genau auf die feudalen Redefloskeln zu, womit in der Reaktionszeit der fünfziger Jahre die Türen der deutschen Kammern gegen den Ansturm der Volksmassen zu verrammeln gesucht wurden. Durch welchen Trugschluss will man den Unsinn plausibel machen, dass ein sozialdemokratischer Abgeordneter, weil er gezwungen wird, eine feudale Floskel herzusagen, wenn er die ihm von seinen Wählern übertragenen Pflichten erfüllen will, durch diese Floskel sein Gewissen in Zeit und Ewigkeit bindet?

Genosse Dreesbach hebt nun vollkommen richtig den entscheidenden Gesichtspunkt hervor, wenn er sagt: Verfassungsmäßig vorgeschriebene Repräsentationspflichten kann auch der sozialdemokratische Abgeordnete gegenüber den Höfen erfüllen, aber darüber darf er nicht hinausgehen. Jedoch ist in seiner Argumentation insofern eine Lücke, als er sich nicht darüber ausgelassen hat, ob solch ein Fall ein Faktum oder eine Hypothes', wie der Klosterbruder im „Nathan" sagt. Tatsächlich ist er nur eine Hypothese, und indem der Genosse Dreesbach von dieser Hypothese als von einer praktischen Möglichkeit spricht, ist er nicht ganz schuldlos an dem Triumphgeschrei der bürgerlichen Presse über seine Rede.

Allerdings haben wir die badische Landesverfassung nicht zur Hand, und obwohl wir es für unwahrscheinlich halten, so können wir es nicht für ganz unmöglich erklären, dass diese Verfassung der badischen Volksvertretung im Allgemeinen oder den badischen Volksvertretern im Besonderen höfische Repräsentationspflichten vorschreibt. Dann aber hätte Genosse Dreesbach seine Beweisführung dahin einschränken sollen, dass für das badische Musterländle gilt, was im übrigen Deutschland und ganz besonders für die deutsche Volksvertretung nicht gilt. Man suche in der deutschen Reichsverfassung und selbst in der preußischen Landesverfassung solange man will, und man wird auch nicht ein Atom darin finden, das dem deutschen Reichstag oder auch nur dem preußischen Abgeordnetenhause höfische Repräsentationspflichten auferlegt. Wäre das der Fall, schriebe etwa die deutsche Reichsverfassung vor, dass kein Reichstagsabgeordneter sein Mandat ausüben dürfe, ohne in Kniehosen und Wadelstrümpfen einen höfischen Fackeltanz mitgemacht zu haben, so würden wir mit dem Genossen Dreesbach sagen, dass auch die sozialdemokratischen Abgeordneten sich dieser schmerzlichen Prüfung unterziehen müssten. Aber da die deutsche Reichsverfassung weder diese noch sonst eine höfische Repräsentationspflicht dem Reichstag vorschreibt, so greift die Argumentation des Genossen Dreesbach durch, dass alle Beziehungen zum Hofe, die ohne Verletzung der gegen die Wähler übernommenen Verpflichtungen abgelehnt werden können, natürlich auch abgelehnt werden müssen.

Noch in einer anderen Beziehung scheinen uns die tatsächlichen Voraussetzungen des Genossen Dreesbach nicht zu stimmen. Er meint, nur die Parteigegner hätten ihre Freude daran, dass die sozialdemokratischen Abgeordneten vor der Erfüllung höfischer Repräsentationspflichten zurückschreckten; deshalb versuchten sie den Arbeitervertretern durch die Verspottung der „sozialistischen Hoffähigkeit" die einladende und nahrhafte Suppe zu verekeln. Diese Ansicht ist unseres Erachtens vollkommen unrichtig. Vielmehr haben es die bürgerlichen Mehrheitsparteien des Reichstags durchaus ehrlich gemeint, als sie der sozialdemokratischen Fraktion einen Sitz im Präsidium anboten, vorausgesetzt, dass der glückliche Inhaber dieses Sitzes sich bereit erklärte, mit zu Hofe zu gehen. Wir halten die bürgerlichen Mehrheitsfraktionen weder für so furchtsam, um sich vor einem einzelnen Sozialdemokraten im Präsidium zu ängstigen, noch für so töricht, den Triumph auszuschlagen, den es ihnen allen gewähren müsste, wenn sich die Sozialdemokratische Partei zum ersten Male auf eine Eventualität einließe, die sie seit vierzig Jahren immer zu vermeiden gewusst hat, nämlich auf die Eventualität, nicht mehr ernsthaft genommen zu werden.

Wie liegen denn tatsächlich die Dinge? Man mag unter den obwaltenden Umständen von niemandem eine besondere republikanische Raubeinigkeit verlangen, aber so viel ist klar, dass prinzipiell ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen Monarchie und Sozialdemokratie besteht. Die Emanzipation der Arbeiterklasse ist unmöglich im Klassenstaat, und die Monarchie ist nur möglich als Klassenstaat. In dem Augenblick, wo die Sozialdemokratische Partei prinzipiell die Monarchie anerkennt, wird das sozialdemokratische Programm mittendurch zerrissen. Nun sagen die bürgerlichen Mehrheitsparteien, indem sie der sozialdemokratischen Fraktion einen Sitz im Reichstagspräsidium anbieten: Wir wollen euch als gleichberechtigt anerkennen, wenn ihr anders mit zu Hofe geht, das heißt, wenn ihr in freiwilliger Huldigung die Monarchie anerkennt, das heißt, wenn ihr euer Parteiprogramm für einen wertlosen Fetzen Papier erklärt. Ginge die sozialdemokratische Fraktion auf diesen angenehmen Handel ein, so wüssten wir wirklich nicht, weshalb die Konservativen oder die Ultramontanen oder die Liberalen darüber betrübt sein sollten; sie würden vielmehr alle mit beiden Händen zugreifen, womit gewiss nicht ausgeschlossen wäre, dass sich darnach, wenn die Sozialdemokratie erst einmal hineingefallen wäre, ein geschwollener Strom von Hohn und Spott über ihre „Hoffähigkeit" ergießen würde. Wer den Schaden hat, der braucht allerdings nicht für den Spott zu sorgen.

Den kapitalistischen Neigungen entspräche dieser Handel umso mehr, als die bürgerlichen Parteien einen ihnen noch nie gelungenen Sieg über die Sozialdemokratie sozusagen mit nichts erkaufen würden. Auch darin irrt Genosse Dreesbach, dass er den Einfluss der Präsidialämter auf die Arbeiten der Parlamente gewaltig überschätzt. Bis zu einem gewissen Grade besteht ein solcher Einfluss gewiss, aber in verhältnismäßig so ohnmächtigen Parlamenten, wie die deutschen Volksvertretungen sind, ist es damit nicht weit her. In solchen Parlamenten ist die Opposition vielmehr umso einflussreicher und stärker, je enger sie mit dem Volke und je loser sie mit der offiziellen Welt zusammenhängt. Das wussten die Ultramontanen in den siebziger Jahren recht gut, als ihnen das Präsidium des Reichstags hermetisch verschlossen wurde und sie auf diese ihnen versagte Ehre einfach pfiffen. Die Mallinckrodt und Windthorst haben nie auch nur eine Sekunde daran gedacht, auch nur ein Titelchen ihrer damals prinzipiellen Opposition preiszugeben, um in das Reichstagspräsidium zu gelangen. Heute freilich haben die Ultramontanen dies Präsidium in der Hand, um einfach nach der Pfeife der Regierung zu tanzen und politisch nur noch von dem Kapital zu zehren, das sie sich als parlamentarische Pariapartei erworben haben. Aber nicht nur die Ultramontanen, sondern auch die anderen bürgerlichen Parteien haben ihre geringschätzige Meinung von den Präsidialämtern tatsächlich bekundet: so die Konservativen und die Nationalliberalen, als sie sofort aus dem Reichstagspräsidium schieden, weil die Mehrheit keine Huldigungsadresse zu Bismarcks achtzigstem Geburtstag erlassen wollte, also wegen eines sehr geringfügigen Anlasses, wegen dessen so erfahrene Geschäftsparteien keine wirklich schmerzlichen Opfer zu bringen pflegen. Man kann darnach ermessen, mit welchem Hochgenuss alle diese Parteien einen sozialdemokratischen Abgeordneten ins Präsidium nehmen würden, wenn damit eine moralische und politische Niederlage der Sozialdemokratie erkauft werden könnte.

Aus dem gleichen Grunde erklärt es sich, dass die Äußerungen, die der Genosse Dreesbach auf der badischen Landesversammlung getan hat, von der bürgerlichen Presse begierig aufgeschnappt worden sind, natürlich in einer für den Geschmack ihrer Leser zurechtgestutzten Form. Umso lieber ersieht man aus dem ausführlichen und wahrheitsgetreuen Bericht, dass Genosse Dreesbach prinzipiell vollkommen richtig argumentiert hat. Er hat nur in einigen tatsächlichen Voraussetzungen geirrt, was jedem passieren kann und nach dem allgemeinen Menschenlose auch jedem passiert. Darüber braucht weiter kein Wort verloren zu werden, und sonst genügt es zu sagen, dass eine phantastische Rechnung alles andere eher ist als praktische Politik.

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