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Franz Mehring 19011002 Einige Ketzerei

Franz Mehring: Einige Ketzerei1

2. Oktober 1901

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Erster Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 422-426]

In den kritischen Rückblicken der Parteipresse auf den Lübecker Parteitag kommt die Kritik unseres Erachtens etwas zu kurz. Dazu tragen verschiedene Umstände bei: die alte Erfahrung, dass die Parteitage erfreuliche Fortschritte der Parteientwicklung zu sein pflegen, das viele Rühmenswerte, das auch dem Lübecker Parteitag nachgesagt werden kann, endlich und nicht zuletzt die durchaus berechtigte Abwehr der läppischen Angriffe, die von gegnerischer Seite gegen den Parteitag gerichtet werden. Immerhin wird es notwendig sein, auch einmal die Kehrseite der Medaille zu betrachten.

Umso notwendiger, als das unbedingte Lob, das dem Lübecker Parteitag gespendet wird, ihm selbst unabsichtlich zu nahe tritt. Wenn er beispielsweise die Bernstein-Frage, um diesen einmal hergebrachten und wenigstens kurzen, wenn auch schiefen Ausdruck zu gebrauchen, aus der Welt geschafft haben soll, so wird ihm etwas zugemutet, was er nicht leisten konnte und demgemäß auch nicht geleistet hat. Diese handgreifliche Übertreibung verdunkelt dann aber gerade das, was der Parteitag geleistet hat, weil er es leisten konnte. Er hat die Bernstein-Frage nicht gelöst, aber ihr den erbitternden und zersetzenden Stachel ausgezogen. Nichts törichter als die Annahme, dass die Strömung innerhalb der Partei, die sich an Bernsteins Namen knüpft, nunmehr erloschen sei, aber wohl darf man hoffen, dass sie nach der Entscheidung des Parteitags und ihrer loyal-männlichen Annahme durch den Genossen Bernstein sich sorgfältig abschließen wird gegen das aufdringliche Hausierertum der bürgerlichen „Arbeiterfreunde", indem sie auf das nachlässig-verächtliche, aber immerhin missverständliche und das innere Parteileben vergiftende Schweigen verzichtet, das sie bisher gegen diesen buntscheckigen Haufen von Marodeuren beobachtete.

Ähnlich steht es mit der Entscheidung in der Sache der Hamburger Akkordmaurer. Die gewerkschaftliche und die politische Agitation sind die beiden mächtigen Waffen, womit die moderne Arbeiterklasse ihre Emanzipation erkämpfen muss. Sie kann die eine so wenig entbehren wie die andere, aber da jede von beiden das gemeinsame Ziel auf gesondertem Wege erreichen muss, so kann es zwischen ihnen an einer gewissen Gegensätzlichkeit nicht fehlen, die je nach der Lage der historischen Entwicklung bald schwächer und bald schärfer, bald mehr auf dieser und bald mehr auf jener Seite hervortritt. Diese Reibungen kann kein Parteitag par ordre de moufti beseitigen, und wenn er es versuchte, so würde er nur jener parlamentarischen Selbstgefälligkeit und Überhebung verfallen, die wir an den bürgerlichen Parlamenten zu verspotten gewohnt sind. Natürlich hat der Lübecker Parteitag auch gar keinen Versuch dieser Art gemacht; er hat nur, genau wie in der Bernstein-Frage, dem vorhandenen Gegensatz den vergiftenden und zersetzenden Stachel genommen, und wenn dies ein kleineres Verdienst sein mag, als ihm von manchen Parteiblättern zugeschrieben wird, so hat es den Vorzug, kein utopisches, sondern ein wirkliches Verdienst zu sein.

Ist in solchen Fällen die scheinbare Schmälerung des dem Lübecker Parteitag gespendeten Lobes tatsächlich eine Erhöhung dieses Lobes, so können wir allerdings anderen seiner Debatten nur ein bedingtes Lob spenden, in erster Reihe seiner Debatte über die Parteipresse. Es ficht uns selbstverständlich keinen Augenblick an, dass die „Neue Zeit" der Gegenstand einer scharfen Kritik gewesen ist. Niemand kann die Fehler und Mängel der „Neuen Zeit" besser kennen als ihre Redakteure und Mitarbeiter, und niemand kann dankbarer als sie für Vorschläge zur Besserung sein, allein was ihr in Lübeck vorgeworfen und geraten wurde, war so, als wenn man einem Kranken sagt: Du bist krank, weil du einen Kopf auf den Schultern trägst; schneide dir nur den Kopf ab, und allem deinen Leiden wird abgeholfen sein. Weil die „Neue Zeit" die Theorien von Marx, Engels und Lassalle, weil sie die Prinzipien des einstweilen doch noch geltenden Parteiprogramms vertritt, soll sie dem Untergang geweiht sein, und man gibt ihr den wohlmeinenden Rat, die Redaktion solle sich in den Hintergrund zurückziehen und allen möglichen Meinungen in ihren Spalten freien Lauf lassen, dann werde sie den Einfluss in der Partei wiedergewinnen, den sie verloren habe.

Kautsky hat darauf schon in Lübeck die Antwort gegeben, dass die „Neue Zeit" kein wissenschaftliches Überbrettl sein dürfe. Gerade wenn man, wie wir es eben getan haben, in der so genannten Bernstein-Frage eine Parteiströmung sieht, die nicht von gestern auf heute entstanden ist und nicht von heute auf morgen verschwinden wird, wenn man also ihre relative Berechtigung anerkennt, wird man am wenigsten auf den wunderlichen Einfall geraten, sie dadurch aus der Welt zu schaffen, dass man sie in einem allgemeinen Kuddelmuddel mit der Richtung vermengt, von der sie sich selbst abscheiden will. Trennt sich ein Teil der Mitarbeiter von der „Neuen Zeit", weil ihm die von diesem Blatte seit jeher vertretene Richtung nicht mehr gefällt, so kann das für das Blatt ein großer Verlust sein, und ist es ganz besonders auch in dem persönlichen Falle des Genossen Bernstein gewesen, aber ein Vorwurf trifft weder den einen noch den anderen Teil, sofern eben jeder seiner aufrichtigen Überzeugung folgt. Es ist kein Unglück für die Partei, ja es ist vielleicht eine Notwendigkeit für sie, dass verschiedene Strömungen in ihrem Schoße existieren, aber es wäre ihr unheilbarer Schaden, wenn diese verschiedenen Strömungen versumpft und verwischt werden sollen, so dass alle prinzipielle Bestimmtheit, Klarheit und Schärfe darüber verloren geht.

Nun ist in Lübeck behauptet worden, die Redakteure und Mitarbeiter der „Neuen Zeit" suchten alle abweichenden Meinungen „nieder zu beißen", es sei nicht jedermanns Sache, mit „ein paar literarischen Raufbolden" an einem Tische zu sein. Als solche „Raufbolde" wurden die Genossin Luxemburg und der Genosse Parvus besonders traktiert, und zwar wie! Wir meinen, dass sie malträtiert worden sind, doch wollen wir sie nicht verteidigen, erstens weil wir es nicht dürfen und zweitens weil wir es nicht brauchen.

Wir dürfen es nicht, weil die Genossin Luxemburg eine von uns besorgte Publikation alter Schriften von Marx und Engels im „Vorwärts" wohlwollend angezeigt hat, was einem rhadamanthischen Genossen in Lübeck die freundliche Anspielung nahe legte, er und seine Freunde gehörten nicht zu den Leuten, die sich gegenseitig versicherten, wie prächtig ihr letztes Buch geraten sei. So ernst gemahnt von einem ständigen Mitarbeiter der „Sozialistischen Monatshefte", deren keusche Enthaltsamkeit von jeder Reklame die Bewunderung der Mitwelt erregt, müssen wir uns jedes Wort versagen, das wie ein Lob der Genossin Luxemburg klingen könnte. Aber sie wie Genosse Parvus bedürfen auch keiner Verteidigung, da das Schlusstableau des über sie verhängten Ketzergerichts dieses war: hier echte Kampfnaturen, die im leidenschaftlichen Eifer für die Sache wohl einmal über die Stränge schlagen, dort die feinen Manieren, eskortiert von – gelinde gesagt – politischen Taktlosigkeiten, wie sie noch kein Parteitag gesehen hat, so viele und so bewegte ihrer schon stattgefunden haben.

Aber wie sind die Genossen Parvus und Luxemburg traktiert worden! „Literarische Raufbolde", „männliche und weibliche Linie", Leute „aus dem Osten", die den „Kampf mit dem Antisemitismus erschweren" – in der Tat, höchst erbauliche Argumente für einen Parteitag der internationalen Sozialdemokratie. Wir stehen nicht an zu sagen, dass diese Szene zu einer wirklichen Blamage für den Parteitag ausgeartet wäre, wenn nicht die Genossin Zetkin in einer takt- und temperamentvollen Rede die drohende Gefahr abgewandt, wenn der Parteitag selbst, durch den stürmischen Beifall, den er ihr spendete, nicht rechtzeitig sich zu der Ansicht bekannt hätte, dass eine Kampfpartei sich selbst ins Fleisch schneiden würde, wenn sie über die vermeintlichen oder wirklichen Schwächen von Kampfnaturen so zu Gerichte sitzen wollte wie einzelne rhadamanthische Mitglieder des Parteitags.

Wiederholen sich solche Szenen, dann muss das Ansehen des Parteitags darunter leiden; ja, die Lübecker Szene, obgleich sie sich schließlich noch zum Guten gewandt hat, hat sich dennoch nicht ohne Schaden für die Partei abgespielt. Sie hat in sehr weiten Kreisen einen üblen Eindruck gemacht, und auch in solchen Kreisen, deren Urteil der Partei keineswegs gleichgültig sein darf. Es wird so viel über den Mangel an jungen Talenten in der Partei geklagt, aber wenn junge Talente, denen auch ihre Gegner weder Eifer noch Fleiß, weder Begabung noch Wissen absprechen, nur wegen ihrer allzu unbändigen Kampflust nicht etwa scharf gezügelt, sondern in dieser kränkenden Weise vor dem bürgerlichen Publikum heruntergerissen werden, dann wird die Partei bald mit der Diogeneslaterne nach jungen Talenten suchen dürfen. Man hat wohl gewünscht, dass neue Marx, Engels und Lassalle in der Arbeiterbewegung auferständen, aber als wir die Diatriben gegen Parvus und Luxemburg lasen, sagten wir uns: Besser, sie sind gar nicht da, als dass sie so abgewandelt werden. Gewiss waren sie den Parvus und Luxemburg zehnfach an Geist überlegen, aber aus ihren jungen Schriften sind wir auch gern erbötig, ein zehnmal umfangreicheres Material beizubringen, woraufhin sie als „literarische Raufbolde" qualifiziert werden können. Nun gar auf Lassalle passt der „literarische Raufbold", die „männliche und weibliche Linie", der Mann „aus dem Osten, der den Kampf mit dem Antisemitismus erschwere", wie angegossen; es ist eben der Pinsel, womit die liberale Bourgeoisie ihn in den sechziger Jahren abzukonterfeien pflegte.

Lassalle hat aber auch die Frage, um die es sich hier handelt, in klassischer Form zu stellen und damit zu lösen gewusst. Vor fünfzig Jahren schrieb er an Marx, als dieser eine kritische Schrift über gewisse Teile der Londoner Emigration zu veröffentlichen gedachte: „Die Regierung sieht, soviel ich glaube, das Erscheinen solcher Schriften nicht ungern, weil sie meint, dass sich die Revolution dadurch in sich selbst zerfleische. Dass die Parteikämpfe gerade einer Partei Kraft und Leben geben, dass der größte Beweis der Schwäche einer Partei das Verschwimmen derselben und die Abstumpfung der markierten Linien ist, dass sich eine Partei stärkt, indem sie sich purifiziert, davon weiß und befürchtet die Behördenlogik wenig." Ebenso wenig wie die Bourgeois- und die Marodeurlogik, die wegen der so genannten Bernstein-Frage die Sozialdemokratische Partei auseinander fallen sehen.

Wenn aber Lassalle die Notwendigkeit innerer Parteikämpfe durchaus anerkannte, ja solche Kämpfe für heilsam hielt, nicht zum wenigsten, um die Gegner dadurch zu verblenden, so wusste er doch, dass jedes Ding seine Grenze habe, an der Vernunft zum Unsinn und Wohltat zur Plage wird. Auch diese Grenze zog er, als Marx einmal in einem Augenblick berechtigten und heftigen Unmuts gemeint hatte, er frage den Teufel nach dem Urteil des deutschen Publikums. Dazu bemerkte Lassalle: „Weiß nicht recht, wie das zu nehmen. Ist etwas spitz gesagt. Soll es bloß heißen, dass Du im Falle des Konfliktes Dich um das Urteil aller fünf Weltteile nicht scherst, wenn es nach dem Deinigen unrichtig ist – so ist das ganz richtig und selbstredend, und ich habe einige Male Gelegenheit gehabt, zu beweisen, dass diese Denkungsart ganz mein Fall ist. Es ist dies inzwischen so selbstredend, dass man es wirklich nicht erst zu erklären braucht. Soll es aber noch mehr und Besonderes heißen? Und was? Ich habe das Wort ‚Publikum' gebraucht, weil es mir eben so in die Feder lief, meinte es aber nicht in dem Biersinn, den es eigentlich hat. Meinte wirklich die Nation als solche. Nicht etwa diejenigen, die auf eigentlichem Bourgeoisstandpunkt stehen. Denn mit diesen ist allerdings nichts anzufangen, ihre Meinung daher ganz einerlei und auch notwendig mit uns im Gegensatz. Ich meinte vielmehr auch alle solche Elemente, die eines Besseren fähig sind … Diese an sich unbefangenen und guten Elemente an sich heranzuziehen, darum muss es aber doch jeder Partei zu tun sein, die sich verstärken will. Jeder Parteiführer ist deshalb gezwungen, auf diese Elemente Rücksicht zu nehmen, nicht die Rücksicht, ihm seine Ansicht zu opfern, sondern die Rücksicht, keine Mühe zu scheuen, um sie zu seiner Ansicht zu bringen, nicht aber sie vor den Kopf zu stoßen. Sonst schadet er allen seinen Parteizwecken." So Lassalle, und Marx war ganz der gleichen Ansicht, indem er, unbeschadet seines heftigen Kraftwortes, so handelte, wie Lassalle ihm vorschlug.

Wenn somit manche Reden des Lübecker Parteitags in sehr weiten Kreisen einen peinlichen Eindruck gemacht haben, so mag das zum Teil und selbst zum größten Teil der Bourgeois- und Marodeurlogik zuzuschreiben sein, an der nichts zu ändern und zu bessern ist. Aber es bleibt ein Rest, über den doch nicht mit Stillschweigen hinweggegangen zu werden braucht, selbst wenn solche Ketzerei den Übeltäter mit „literarischen Raufbolden", wie den Genossen Parvus und Luxemburg, in dieselbe Verdammnis bringen sollte.

1 Hier findet die verhängnisvolle Unterschätzung des Revisionismus durch Mehring und andere spätere Führer der Linken besonders drastischen Ausdruck. Die Duldung des Opportunismus ließ den opportunistischen Zersetzungsprozess in der Sozialdemokratie weiter um sich greifen. Bernstein, Vollmar und ihre Gesinnungsfreunde dachten natürlich nicht daran, die auf mehreren Parteitagen abgegebene Verpflichtung, die Parteibeschlüsse als bindend anzuerkennen, einzuhalten. Recht behielt Rosa Luxemburg, die schon am 31. Oktober 1898 in einem Brief an August Bebel gegen die Verschleppung der Auseinandersetzung mit Bernstein aufgetreten war und verlangt hatte, Bernstein „nunmehr wie einen Schmoller oder anderen Sozialreformer zu betrachten".

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