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Franz Mehring 19010522 Marodeure

Franz Mehring: Marodeure

22. Mai 1901

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Zweiter Band, S. 225-228. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 407-411]

Der theoretische Meinungsstreit, der sich seit einiger Zeit im Schoße der deutschen Sozialdemokratie abgespielt hat und noch abspielt, hat eine eigentümliche Erscheinung gezeitigt, die wir die Marodeure des Schlachtfeldes nennen möchten. Bürgerliche Ideologen aller Art haben sich hineingemischt, um ihr Profitchen daraus zu schlagen, was ihnen zunächst auch nicht zu verdenken war. Der Streit wurde in aller Öffentlichkeit geführt, und somit hatte auch jeder, der in der Öffentlichkeit wirkt, ein unanfechtbares Recht, darüber zu sprechen. Es wäre schlecht um die Sozialdemokratie bestellt, wenn sie das Urteil der Gegner über ihr Tun und Treiben zu scheuen hätte.

Das Recht der Gegner, sich in diese Dinge zu mischen, hört aber an dem Punkte auf, ein unanfechtbares Recht zu sein, wo sie ihre Gegnerschaft verbergen und unter der Maske guter Freunde die innerhalb der Sozialdemokratie über gewisse Fragen bestehenden Meinungsverschiedenheiten zu vergiften suchen, um die geschlossenen Reihen des klassenbewussten Proletariats zu verwirren. Das heißt nicht mehr ehrlich kämpfen, sondern marodieren. Diese Marodeure drängen sich unter falscher Tracht ins Lager der Partei, beschimpfen die einen und umschmeicheln die anderen und bemühen sich mit jedem Mittel der Intrige und Reklame, eine Zwietracht zu säen, deren Wirkung sein würde und nach Absicht der Marodeure auch sein soll, zum Nutzen der kapitalistischen Gesellschaft deren gefährliche Gegner zu schwächen.

Die Abwehr dieser Marodeure läge aus Gründen des Taktes, die wir hier nicht weiter auseinanderzusetzen brauchen, zunächst denen ob, die von ihnen umschmeichelt werden. Ob von dieser Seite immer das Nötige geschehen ist, wollen wir nicht näher untersuchen. Helfen würde eine solche Abwehr freilich nicht auf die Dauer, denn die Marodeure haben ihr Handwerk allzu lange getrieben und sind allzu zahlreich geworden, als dass es ihnen besonders viel ausmachen sollte, wenn einmal einer aus ihrer Mitte niedergeknallt würde. Aber auch in diesem Übel wohnt ein Geist des Guten: Die gar so lange Straflosigkeit hat die Marodeure übermütig gemacht, und so ist einer von ihnen auf den sublimen Einfall geraten, mit einem dickleibigen Werke ans Tageslicht zu treten, worin sich alle ihre Herzenswünsche offenbaren. Das ist durchaus dankenswert, denn das lichtscheue Treiben wird unschädlich, sobald es ins helle Tageslicht tritt, und so wollen wir der „Revision des Sozialismus", deren ersten Band Herr Alfred Nossig eben im Akademischen Verlag für soziale Wissenschaften erscheinen ließ, eine Aufmerksamkeit schenken, die das Buch sonst in keinem Sinne verdienen würde.

Wir sind dazu umso mehr veranlasst, als bereits die Vorgeschichte dieser „Revision" in betrübender Weise gezeigt hat, wie viel Unheil die Marodeure anzurichten verstanden haben. Herr Nossig oder sein Verleger gefielen sich darin, das noch ungelegte Ei in einer Weise zu begackern, von deren reklamehafter Aufdringlichkeit selbst Herr Scherl einiges hätte lernen können. Diese Waschzettel sind aber, entgegen der guten Sitte, die sonst in der Parteipresse herrscht, von einzelnen Parteiblättern nachgedruckt worden, und das war wirklich nicht mehr schön, umso weniger schön, als es gewiss nicht in böser Absicht geschehen ist. In der Politik kann die Konfusion noch gefährlicher werden als selbst der schlechteste Willen, und die Konfusion ist schon auf einen bedenklichen Grad gestiegen, wenn das bloße Marodeurgerede von „Revision des Sozialismus" hinreicht, um das Einschmuggeln von Konterbande in das Parteilager zu ermöglichen.

Im ersten Bande des Herrn Nossig beginnt die eigentliche „Revision" noch nicht, sondern der Verfasser gibt erst das „System des Sozialismus", und zwar verfährt er dabei nach dem Rezept des Literarhistorikers Julian Schmidt, das Lothar Bucher also geschildert hat: „Schildere den Charakter und drücke dich so unbestimmt aus, dass es zweifelhaft bleibt, ob du die historische Figur schilderst oder die Figur des Stückes oder eine Figur, die, eine ungeborene Athene, noch in dem Schädel des Rezensenten wohnt; drücke dich aber so gescheit aus, dass die Leser, die das Stück nicht genau kennen, verleitet werden, zu glauben, es sei von der dritten die Rede, von der Figur, wie sie sein sollte. Verwende zu dieser Schilderung die besten Züge und Farben der Figur des Stückes, indem du gute Verse in schlechte Prosa übersetzest. Weil es aber doch Leute gibt, die das Stück kennen und weil einer von ihnen die Rezension lesen könnte, so flicke, einmal vorne, einmal hinten, damit man die Methode nicht merke, ein Sätzchen ein, dass der Dichter zwar das Richtige geahnt, jedoch nicht gut oder nicht einprägend oder nicht ausgeführt genug dargestellt habe." Genauso wie Julian nach dieser treffenden Schilderung Buchers mit unseren klassischen Dramatikern umsprang, springt Herr Nossig mit Marx um; er macht sich in diesem „System des Sozialismus" einen reinen Popanz zurecht, der, ganz von weitem gesehen, so ungefähr nach Marx schillert, aber genauer betrachtet eine aus allen möglichen Fetzen zusammengesetzte Vogelscheuche ist, die Herr Nossig in seinen folgenden Bänden fürchterlich zusammensäbeln wird.

Um aber doch seinen Lesern einen Vorgeschmack seiner „Revision" zu geben, stellt er dem ersten Bande „Prolegomena" voran, worin er ihnen sagt, wohinaus er will. Er findet, dass weder das freie System noch das gebundene System, worunter er die kapitalistische und die sozialistische Gesellschaftsordnung versteht, eine sozialwirtschaftliche Panazee sei. Eins wachse vielmehr aus dem anderen hervor, und diese Beobachtung, die auch durch die Erfahrungen des Altertums erhärtet werde, führe zur Erkenntnis, dass der soziale Bau vernünftigerweise auf einer Mischung der Systeme basiert werden müsse, derart, dass das eine Prinzip durch das andere weise gemildert und wohltätig ergänzt werde. Aber selbst diese Mischung verbürge keineswegs dauernd befriedigende Zustände; die soziale und wirtschaftliche Entwicklung führe schließlich immer zu unerträglichen Missständen, die nur durch einen neuen Eingriff der leitenden Gewalt, durch eine neue Regelung der Verhältnisse beseitigt werden könnten. Mit anderen Worten: Die periodische Sanierung des sozialen Organismus müsse zum System gehören, und zwar müsse sie so erfolgen, dass alle fünfzig Jahre geteilt werde, nach der Weise des althebräischen Jubeljahres; die Periode eines halben Jahrhunderts habe schon der Pentateuch bei dem Entwurf einer realen wirtschaftlichen Verfassung bestimmt, und die Betrachtung der modernen Wirtschaftsgeschichte ergebe die Richtung dieser Schätzung. Unter dieser Voraussetzung lasse sich die aus dem blinden Klassenkampf hervorgehende gewaltsame Entwicklung der Gesellschaft durch eine bewusste und voraussehende Leitung ersetzen; die Linie der Entwicklung dürfe nicht durch eine einzige, zur Herrschaft gelangte Partei, sondern durch die Besten aller Parteien in billiger Weise bestimmt werden.

Vor einer Kritik dieses glorreichen Programms durch den „orthodoxen Marxismus" hat sich Herr Nossig als vorsichtiger Mann geschützt. Er sagt nämlich, „ernste Gelehrte" seien mit Recht unwillig über den pamphletartigen, agitatorischen Ton, über die heftigen Ausfälle, über die Geistreichelei von manchmal zweifelhaftem Geschmack, womit Marx und Lassalle ihre Werke verbrämt hätten, und er fügt hinzu, dass die Wirkung dieses Tones jene öde unwissenschaftliche Parteiverblendung sei, jene zuwidere Besserwisserei, die den „unverfälschten" Sozialisten kennzeichne, jenes ewige Triumphgeheul, das die orthodoxen Marxisten über den bodenlosen Blödsinn der Kritiker des Sozialismus zu erheben pflegten. Wollten wir nun als „orthodoxe Marxisten" das Zukunftsprogramm des Herrn Nossig kritisieren, so sind wir ehrlich genug anzuerkennen, dass wir dabei zu Ergebnissen gelangen würden, die Herr Nossig nicht ohne scheinbaren Grund als „Triumphgeheul über bodenlosen Blödsinn" empfinden würde, und die Genugtuung, unsere schwarze Seele durch und durch erkannt zu haben, gönnen wir ihm begreiflicherweise nicht.

Wir begnügen uns deshalb festzustellen, dass wenn sich die Sozialdemokratie auf das Programm des Herrn Nossig einließe, alle ihre Gegner ein höchst berechtigtes „Triumphgeheul" anstimmen könnten. Nun sagt Herr Nossig zwar verschiedentlich, er wolle der Sozialdemokratischen Partei gar nicht an den Kragen, aber das ist es eben, was wir Marodieren nennen. Hat er mit seinem althebräischen Jubeljahr recht, so hat die deutsche Sozialdemokratie noch keinen Tag das Recht gehabt, zu bestehen, denn vom ersten Tage ihres Bestehens an hat sie alle „Teilereien" als abgeschmackte Alfanzereien betrachtet, ja sie hat stets den ihr von ihren Gegnern untergeschobenen Gedanken des „Teilens" in ihrer „öden Parteiverblendung" als „bodenlosen Blödsinn" gekennzeichnet. Will also Herr Nossig ehrlich verfahren, so mag er der Sozialdemokratischen Partei auch den Krieg ansagen, den Denker seiner Art, die G. Adler, J. Wolf, A. Wenckstern und wie sie sonst noch heißen, gegen sie führen. Aber nicht genug, dass er die Sozialdemokratische Partei erhalten will und das bisschen, was etwa an seinem Buche noch lesbar ist, sich aus der marxistischen Kritik des Kapitalismus zusammengesucht hat, er sucht sogar sein Zukunftsprogramm unter den Schutz von Parteigenossen zu stellen.

Um zu erklären, weshalb er zunächst nur den ersten Band seiner „Revision" veröffentlichte, erzählt uns Herr Nossig, dass er seit 1892 an diesem epochemachenden Werke arbeite, aber mitten in der Arbeit durch „revisionistische" Schriften von anderen Verfassern überrascht worden sei. Er nennt in diesem Zusammenhange die Parteigenossen Bernstein, Kampffmeyer und Woltmann und die Parteigegner Oppenheimer, Sombart und Masaryk. „So entstand allmählich auf dem Boden der sozialistischen Doktrin eine Republik von freien Geistern, es formte sich ein Generalstab der revisionistischen Armee, die heute mit der formell fanatischen Masse einen permanenten Zeitungs- und Redekrieg unterhält." Um nun den Anschluss nicht zu versäumen, kommt Herr Nossig schnell mit seinem ersten Bande hervor, dessen „Prolegomena" ihm die Originalität wenigstens seiner Hauptgedanken sichern sollen. Er gibt nicht undeutlich zu verstehen, dass die eigentliche Weisheit der „Revision" doch nur bei ihm zu holen sei; ja er verrät einige Neigung, die „Republik der freien Geister" als „revisionistischer" Cäsar durch einen Staatsstreich zu sprengen oder sich doch dem „Generalstab der revisionistischen Armee" als Generalfeldmarschall vorzusetzen.

Es ist selbstverständlich die Sache der Genossen, unter deren Schutz sich Herr Nossig stellt, sich mit ihm abzufinden, wie sie mögen; es wäre die unverzeihlichste Anmaßung, ihnen darüber irgendwelche Vorschriften zu machen. Auf der anderen Seite wäre es aber auch eine törichte Vogel-Strauß-Politik, die Freude darüber zu verhehlen, dass die dreist gewordenen Marodeure ihre Karten so offen aufdecken wie Herr Nossig, wodurch sie eben aufhören, gemeinschädlich zu wirken.

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