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Franz Mehring 19010424 Neues Elend, neue Hoffnung

Franz Mehring: Neues Elend, neue Hoffnung

24. April 1901

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Zweiter Band, S. 97-100. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 397-401]

Das zwölfte Maifest des internationalen Proletariats fällt in schicksalsschwangere Tage. Eine ungewöhnlich lang bemessene Gnadenfrist des kapitalistischen Zeitalters neigt sich unaufhaltsam ihrem Ende zu; die „beste der Welten" vermag ihre getreuesten Anhänger nicht mehr darüber zu täuschen, dass der Krach drohend an die Tore klopft; ihre Auguren haben höchstens ein mitleidiges Lächeln übrig, wenn etwa noch ein sonderbarer Schwärmer den weltfremden Ruf ertönen lässt, dass ein neuer Tag die kapitalistischen Produktivkräfte zu neuen Ufern locke.

Hat sich die moderne, hat sich insbesondere die deutsche Arbeiterklasse je darüber getäuscht, dass der ökonomische Aufschwung der letzten Jahre einmal sein Ende finden müsse? Wir glauben, die Frage rundweg verneinen zu dürfen. Gewiss haben die deutschen Arbeiter die günstige Gelegenheit benützt, um in erster Reihe ihre gewerkschaftlichen Organisationen auszubauen und zu stärken, aber das war ihre notwendige Pflicht, auch nach der revolutionären Auffassung ihrer historischen Aufgabe, wie sie im Kommunistischen Manifest niedergelegt ist. Nichts selbstverständlicher, als dass sie sich für die Lösung dieser Aufgabe so kräftig und rüstig machen, wie es ihnen unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft nur immer möglich ist.

Aber die deutsche Arbeiterklasse hat sich durch die ökonomische Blüte der jüngsten Vergangenheit niemals in die verhängnisvolle Illusion einwiegen lassen, dass ihr, wenn nicht für immer, so doch für die praktisch absehbare Zukunft ein leidliches Leben auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise gesichert sei. Wenn sie den theoretischen Auseinandersetzungen darüber eine gewisse Gleichgültigkeit bezeugt hat, so zogen die guten Leute, die immer noch nicht von der Hoffnung lassen mögen, dass sich die „wilde Katze" der Sozialdemokratie einmal in ein „zahmes Haustier" verwandeln werde, doch ganz falsche Schlüsse daraus. Absorbiert von ihrer praktisch notwendigen und nützlichen Arbeit, hatten die deutschen Proletarier nicht viel übrig für eine akademische Diskussion, deren noch so weit ausgesponnene Netze schließlich doch in dem einen Knoten zusammenliefen: Kommt der Krach wieder oder bleibt er aus? Erst wenn die periodische Krisis des Kapitalismus auf die Dauer ausblieb, war der Augenblick gekommen, die Prinzipien zu revidieren, die das Proletariat auf eine ununterbrochene Kampf- und Siegesbahn geführt haben. Und nun ist der Krach da, mit neuem Elend und neuer Hoffnung.

Wer, der menschlich zu fühlen weiß, dächte anders als mit Schaudern an die herzzerreißende Not, die unter allen Klassen der Bevölkerung, in erster Reihe über die Arbeiterklasse, hereinbrechen wird! Fleißige Hände müssen feiern, obgleich sie arbeiten können und wollen; der Hungertod wütet unter den Arbeitern, weil sie Güter erzeugt haben, an deren Überfluss die Welt erstickt. Als diese fürchterliche Geißel der Zivilisation zum ersten Male über der zivilisierten Welt geschwungen wurde, schrieb Carlyle von England, was heute ebenso von Deutschland gilt: „Die Lage Englands gilt mit Recht für eine der drohendsten und überhaupt fremdartigsten, die je in der Welt gesehen wurden. England ist voller Reichtümer aller Art, und doch stirbt England vor Hunger. Mit ewig gleicher Fülle grünt und blüht der Boden Englands, wogend mit goldenen Ernten, dicht besetzt mit Werkstätten, mit Handwerkszeug aller Art, mit fünfzehn Millionen Arbeitern, die die stärksten, klügsten und willigsten sein sollen, die unsere Erde je besaß; diese Männer sind hier, die Arbeit, die sie getan, die Frucht, die sie geschaffen haben, ist hier im Überfluss, überall in üppigster Fülle – und siehe, welch unselig Gebot, wie eines Zauberers, ist ausgegangen und sagt: Rührt es nicht an, ihr Arbeiter, euer keiner soll es anrühren, euer keiner soll es genießen – dies ist bezauberte Frucht." Und es ist eine andere Ähnlichkeit zwischen damals und heute, dass die bezauberte Frucht von den Großgrundbesitzern noch mehr verzaubert werden soll durch „wahnsinnige und elende" Kornzölle, von denen Carlyle sagt, dass man gar keine Argumente gegen sie vorbringen könne, als solche, die einen Engel im Himmel und einen Esel auf Erden zum Weinen bringen müssten.

So aber apostrophiert Carlyle die englischen Brotwucherer seiner Zeit: „Das Schicksal der faulenzenden Aristokratie, wie ihr Horoskop in Korngesetzen usw. zu lesen ist, ist ein Abgrund, der einen mit Verzweiflung füllt. Ja, meine rosigen, fuchsjagenden Brüder, durch eure frischen, schmucken Gesichter, durch eure Korngesetzmajoritäten und Schutzzölle entdeckt ein denkendes Auge schauerliche Bilder des Sturzes, zu schauerlich für Worte, eine Mene-Mene-Tekel-Handschrift – guter Gott, erklärte nicht eine französische Nichts tuende Aristokratie, kaum ein halb Jahrhundert verfloss seitdem, ebenso: wir können nicht existieren, nicht fortfahren, uns standesgemäß zu kleiden und zu paradieren; die Grundrente unserer Besitzungen reicht nicht aus, wir müssen mehr haben als das, wir müssen von Steuern eximiert sein und Kornzölle haben, um unsere Grundrente zu steigern. Das war 1789, vier Jahre weiter – habt ihr von der Gerberei zu Meudon gehört, wo die Nackten sich Hosen von Menschenhaut machten? Möge der barmherzige Himmel das Omen abwenden; mögen wir weiser sein, damit wir weniger elend werden!" Dieses Trostgebet Carlyles hat heute freilich keinen Sinn mehr; davor sind sie ganz sicher, die Kanitz und Puttkamer und Bismarck und wie die Brotwucherer sonst heißen, dass aus ihrer Haut je Hosen gemacht werden, um die Blöße des Volkes zu decken, das sie ausgewuchert haben.

Denn das moderne Proletariat hat unter den furchtbaren Geißelschlägen der periodischen Krisen gelernt, und von den deutschen Arbeitern gilt nicht mehr, was Carlyle von den englischen Arbeitern schrieb: „Ich habe die Kühnheit zu glauben, dass zu keiner Zeit, seit den Anfängen der Gesellschaft, das Los der stummen, abgearbeiteten Millionen so durchaus unerträglich gewesen ist wie jetzt. Nicht der Tod, oder selbst der Hungertod, macht den Menschen elend: wir alle müssen sterben, unser aller letzter Ausgang ist in einem Feuerwagen des Schmerzes: aber elend zu sein und nicht zu wissen, warum, sich siech zu arbeiten für nichts und wieder nichts, abgearbeiteten und müden Herzens, und doch isoliert, verwaist zu sein, eingegürtet von einem kalten, universellen Laissez-faire, langsam zu sterben all unser Leben lang, eingemauert in eine taube, tote, unendliche Ungerechtigkeit, wie in den verfluchten Bauch eines Phalarisstiers – das ist und bleibt ewig unerträglich für alle gottgeschaffenen Menschen… Eine Million hungriger Arbeiter standen auf, kamen alle heraus auf die Straße und – standen da. Was sonst sollten sie tun? Ihre Unbilden und Klagen waren bitter, ihre Wut dagegen war gerecht, aber wer verursacht diese Klagen, wer will abhelfen? Unsere Feinde sind, wir wissen nicht wer oder was; unsere Freunde sind, wir wissen nicht wo? Wie sollen wir jemand angreifen, jemand erschießen oder uns von jemand erschießen lassen? O wenn dieser verfluchte Nachtalp, der unsichtbar unser und der Unserigen Leben verzehrt, nur eine Gestalt annehme, uns als hyrkanischer Tiger, als Behemoth des Chaos, als der Erzfeind selbst entgegentreten wollte: in irgendeiner Gestalt, die wir sehen, an der wir ihn fassen könnten." Nun, die heutigen Arbeiter sehen den verfluchten Nachtalp, den hyrkanischen Tiger, den Behemoth des Chaos, den Erzfeind selbst in einer Gestalt, in der sie ihn fassen können, und das ist die große Hoffnung, die ihnen aus dem großen Elend erwachsen ist.

Sie, die am meisten unter der hereinbrechenden Krisis zu leiden haben werden, blicken ihr dennoch nicht mit dem ratlosen Jammer des Philisters, mit der Seelenangst Strümpfe strickender Betschwestern entgegen; sie wissen, dass jede große Krisis ihren weltbefreienden Klassenkampf um einen mächtigen Ruck vorwärts gebracht hat, und sie werden die schlechte Zeit für ihre große Sache so eifrig ausnützen, wie sie die gute Zeit dafür ausgenützt haben. Sie werden es tun, weil sie es wollen, aber selbst wenn sie es nicht wollten, wie ihnen kurzsichtige Leute nachsagen, so würden sie es müssen. Die Krisis ist eine harte Lehrmeisterin; sie duldet keine einschmeichelnden Hirngespinste; sie zerstört den hoffnungsseligen Traum, als sei ein dauernder Friedensschluss zwischen Kapital und Arbeit möglich, sie stellt die unerbittliche Notwendigkeit, das Lohnsystem zu vernichten, aus dem angenehm dämmernden Schoße künftiger Jahrtausende, worin es versenkt werden sollte, wieder mitten unter die drängenden Aufgaben der Gegenwart. Und während sie so die revolutionäre Kraft des Proletariats schärft und stählt, fegt sie mit eisernem Besen die Bahn frei, auf der sich diese Kraft betätigen kann.

Kaum sind die ersten Vorboten der Krise da, und überall knistert und kracht es im wurmstichigen Gebälke der kapitalistischen Gesellschaft. Die besitzenden Klassen, denen die günstigen Jahre gestattet hatten, ihre inneren Zwiste zu vertagen, um eine desto geschlossenere Phalanx gegen die Arbeiter zu bilden, fahren sich in die Haare im Kampfe um den zusammenschmelzenden Mehrwert; selbst die Brotwucherpläne der Junker, die so dicht vor dem Gelingen zu stehen schienen, geraten ins Stocken; in der Angst um den schwindenden Profit überlegen die Stümmlinge schon, ob ihnen diese handfestesten Büttel gegen die Arbeiter ein so enormes Handgeld wert seien, und selbst die Regierungen, an deren grünen Tisch sich blasse Finanznot setzt, ergeben sich stillem Sinnieren darüber, ob die Massen der Bevölkerung der begehrlichen Junkerrotte zum gänzlichen Auspowern überliefert werden dürften. Die beginnende Krisis hat die Frage der Kornzölle für die besitzenden Klassen auf die lakonische, aber richtige Formel zurückgeführt: Soll der Bankerott des Junkertums abgewandt werden durch den Bankerott der Bourgeoisie? Mag auch heute die endgültige Entscheidung noch ungewiss sein, so ist doch so viel klar, dass sie so oder so zu einer politischen Zersetzung der bürgerlichen Parteien führen muss, die der Arbeiterpartei neue Chancen des Sieges eröffnet.

Ein anderes Zeichen der Angst, womit die unterdrückenden Klassen das Haupt der Medusa anstarren, ist der allgemeine Katzenjammer über die Früchte der Weltpolitik, die vor Jahr und Tag von den nationalen Mundhelden mit so ohrbetäubendem Lärm inszeniert wurde. Zurück aus China! ertönt es aus den bewährtesten Schlachthaufen des Kapitalismus und Militarismus mit demselben ängstlichen Akzent, womit es einst bei Waterloo hieß: Rette sich, wer kann! Leider ist es unendlich viel leichter, in die Falle hineinzugehen als aus ihr herauszukommen, und schneller, als wir selbst gedacht hatten, erfüllt sich die Prophezeiung, dass die Partei, die der weltabenteuerlichen Politik einen unbeugsamen Widerstand entgegensetze, sich damit ein reiches politisches Erbe sichern werde.

Ein drittes verheißungsvolles Zeichen, und von allen das verheißungsvollste, sind die Nachrichten aus Russland, wo sich eine mächtige Erhebung gegen den grauenvollen Despotismus des Zarentums vorbereitet. Sie findet die lebhafteste Aufmerksamkeit und die wärmste Sympathie der deutschen Arbeiterklasse, deren Ziele höher und weiter gesteckt sind als die Ziele der Kämpfer für politische Freiheit im Knutenreich, aber deren Emanzipationskampf durch eine revolutionäre Bewegung in Russland die gewaltigste Förderung erfahren würde.

So beginnen die Feuerzeichen auf den Bergen zu flammen, und auf sie richtet die Arbeiterklasse an ihrem zwölften Maifest den zukunftssicheren Blick, mitten in der drängenden Not, deren verheerender Zug durch die Täler neues Elend sät, um neue Hoffnung zu erwecken.

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