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Franz Mehring 19011015 Patriotenkaspar

Franz Mehring: Patriotenkaspar

15. Oktober 1901

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 240, 15. Oktober 1901. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 435 f.]

Die von der „Neuen Zeit" veröffentlichte Kritik, die Engels an dem Entwürfe des Erfurter Programms geübt hat, gibt den bürgerlichen Blättern wieder den gewohnten Anlass zu allerlei geistreichen Spekulationen über die Mauserung oder den Zerfall der Sozialdemokratischen Partei. Im allgemeinen handelt es sich dabei um olle Kamellen, die zu beachten nicht weiter der Mühe wert ist; einige Bemerkungen der „Frankfurter Zeitung" jedoch lohnt es sich wohl, unter die Lupe zu nehmen, nicht wegen des sozialdemokratischen, aber wegen des bürgerlich-demokratischen Verfalls, der sich darin kundgibt.

Wir wollen der „Frankfurter Zeitung" nicht mehr zumuten, als ihre schwache Konstitution verträgt, und so schenken wir ihr gern ihr entsetztes Kopfschütteln über „die einige und unteilbare Republik", die Engels für Deutschland gewünscht hat. Aber selbst für ihre Verhältnisse ist es erstaunlich, dass sie sich an folgenden Sätzen von Engels stößt: „Einerseits muss die Kleinstaaterei beseitigt werden… Andererseits muss Preußen aufhören zu existieren, muss in selbstverwaltende Provinzen aufgelöst werden.“1 Dazu bemerkt die „Frankfurter Zeitung", an diesen Sätzen erkenne man den „alten Utopisten"; sie wolle gar nicht darüber streiten, ob das, was Engels fordere, wünschenswert wäre, aber welcher politisch denkende Mensch halte denn so etwas in absehbarer Zeit für möglich? Ein Frage- und ein Ausrufungszeichen müssen den Lesern der „Frankfurter Zeitung" die Unmöglichkeit dieser Utopie noch besonders einpauken.

Was sie in so feierlicher Weise verleugnet, ist nun aber keineswegs das sozialdemokratische Programm, sondern das Programm der – bürgerlichen Demokratie. Solange es eine bürgerliche Demokratie in Deutschland gibt, hat sie die Beseitigung der Kleinstaaterei und des historisch überkommenen preußischen Bürokraten-, Polizei-, Junker- und Militärstaates obenan auf ihr Banner geschrieben. Und sicherlich aus den triftigsten Gründen von der Welt. Denn wie es je zu einem bürgerlich-demokratischen Regiment in Deutschland kommen soll, solange die Kleinstaaterei und der preußische Staat existieren, ist vollkommen unbegreiflich. So zahm das Programm der Deutschen Volkspartei, deren Organ die „Frankfurter Zeitung" ist, immer sein mag, so sind doch mindestens neun Zehntel dieses Programms auf den St.-Nimmerleins-Tag verschoben, wenn die Kleinstaaterei und der preußische Staat „für absehbare Zeit" bestehen bleiben sollen, wie sie sind.

Die „Frankfurter Zeitung" ist allerdings vorsichtig genug, nicht darüber disputieren zu wollen, ob die Beseitigung der Kleinstaaterei und des preußischen Staates wünschenswert sei oder nicht. Insofern verleugnet sie das volksparteiliche Programm nicht direkt. Aber sie sagt, nur „alte Utopisten" könnten solche Forderungen stellen, die „kein politisch denkender Mensch" in absehbarer Zeit für möglich hielte. Nun, dann sollte sie doch vor allem das politische Programm ihrer eigenen Partei kastrieren und die Programme anderer Parteien mit solchen wohlwollenden Versuchen verschonen. Was soll dann überhaupt ihre ganze Opposition, wenn sie die Kleinstaaterei einer- und den preußischen Staat andererseits entweder überhaupt nicht oder doch „für absehbare Zeit" nicht antasten will? Nehmen wir die erste beste Tagesfrage, nehmen wir den Kampf um den Zolltarif. Dieses ungeheuerliche Attentat auf die Massen der deutschen Nation ist nur möglich, weil es einen preußischen Staat und eine Kleinstaaterei in Deutschland gibt. Entweder muss man aus Achtung vor diesen erhabenen Instanzen den Zolltarif mit Haut und Haaren annehmen, oder man muss gestehen, dass man den preußischen Staat und die Kleinstaaterei bekämpft, indem man sich gegen ihr eigenstes Produkt wendet.

Die Methode der bürgerlichen Arbeiterfreunde, den deutschen Arbeitern das sozialdemokratische Programm als eine „alte Utopie" zu verekeln, erinnert an den Patriotenkaspar in Immermanns „Münchhausen", der dem Hofschulzen ein Kleidungsstück nach dem anderen abschwatzen will. In der Tat wäre von dem Parteiprogramm kein Stein mehr auf dem anderen, wenn es von allen, nach bürgerlichen Begriffen „utopischen" Bestandteilen gereinigt wäre. Der Frankfurter Patriotenkaspar bringt aber eine neue Note in die alte Melodie, indem er den armen Engels abkanzelt, weil dieser die oberste Forderung der bürgerlichen Demokratie für so wichtig hielt, dass er sie ins sozialdemokratische Programm aufnehmen wollte, indem er sich das eigene Hemd auszieht, um die deutschen Arbeiter durch seine splitterfasernackte Schönheit zu berauschen. Aber wir glauben nicht, dass er großes Glück damit haben wird.

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