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Franz Mehring 19011012 Rudolf Virchow

Franz Mehring: Rudolf Virchow

12. Oktober 1901

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 238, 12. Oktober 1901. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 432-434]

Der achtzigste Geburtstag, den Rudolf Virchow morgen feiert, ist ein Ehren- und Festtag für die ganze Nation. Mit Freude und Stolz darf man die Abgesandten aus allen Kulturvölkern begrüßen, die nach Berlin eilen, um einem deutschen Fürsten der Wissenschaft ihre Huldigungen darzubringen. Niemand sieht scheel zu den Gaben und Kränzen, die in überreicher Fülle auf den greisen Mann nieder regnen, der sie durch die redlichste und fruchtbarste Arbeit im Dienste der Wissenschaft so überreich verdient hat. Am wenigsten die Arbeiterklasse, die von allen Klassen der modernen bürgerlichen Gesellschaft die tiefste und wahrhaftigste Ehrfurcht vor der Wissenschaft hegt, wird mit ihren herzlichen Glückwünschen zu Virchows Ehrentage kargen.

Es ist allein seine eigene Partei, die einen Missklang in dies Fest bringt, indem sie wieder das alte Jammerlied darüber anstimmt, dass Virchows Verdienste von der preußischen Regierung nicht so anerkannt würden, wie die Verdienste kleinerer, aber der Regierung genehmerer Gelehrten. In der freisinnigen Presse heißt es, man sei „allenthalben einigermaßen gespannt darauf", was der preußische Kultusminister, der einem der zu Virchows Ehren gegebenen Feste beiwohnen wird, „sagen und bringen" werde. Es wird geradezu als eine nationale Ehrensache hingestellt, dass die Regierung in der Anerkennung Virchows nicht hinter anderen Staaten zurückbleibe, weil konservative Minister nicht vergessen könnten, dass ein Mann von der Selbständigkeit Virchows auch in der Politik seine eigenen Wege gegangen sei.

Gegen diese liebedienerische Auffassung müssen wir die entschiedenste Verwahrung einlegen. Es mag alles andere sonst sein, aber eine nationale Ehrensache ist es nicht, ob Herr Studt irgend etwas zu Virchows Feste „bringt" oder nicht „bringt"; der Weltruf, den Virchow genießt, kann nicht vermehrt und nicht vermindert werden durch Dinge, die die preußische Bürokratie gewähren oder versagen kann. Will sich die preußische Regierung blamieren, indem sie die Männer der Wissenschaft danach einschätzt, ob sie nach ihrer Pfeife tanzen oder nicht, so offenbart sie dadurch abermals, was sie freilich schon zu oft offenbart hat, als dass sie es noch einmal zu offenbaren brauchte, dass sie nämlich nicht das geringste Interesse für die Wissenschaft als solche übrig hat, aber das ist einzig und allein ihre Sache, die Nation und ihre Ehre geht es nicht im geringsten etwas an.

Im Gegenteil – wenn die preußische Regierung die Kinkerlitzchen von Orden und Titeln, die sie zu vergeben hat, nicht an Virchow verschwenden will, so ist das zwar für den Gelehrten herzlich gleichgültig, aber den Politiker ehrt es mehr, als er wirklich verdient. Denn ein „Volksmann", wie die freisinnige Presse prahlt, ist Virchow nie gewesen, am wenigsten ein „Volksmann", der den unversöhnlichen Groll der Regierung verdient hätte. Virchow hat immer bekannt, dass die politisch organisierte Arbeiterklasse „noch mehr unser Gegner" sei als Bismarck und die Junker. Allerdings „von der Bourgeoisie im französischen Sinne, den Männern des großen Kapitals, den Männern, die wankelmütig sind", wollte er auch nicht viel wissen; er suchte seinen Schwerpunkt „nach rechts in den unabhängigen Männern, in dem arbeitsamen Volk, in den Besitzenden, inmitten des alten guten deutschen Bürgertums". Wie schon diese Äußerungen zeigen, die Virchow bei feierlicher Gelegenheit tat, ist er in politischen Dingen immer zu sehr Dilettant gewesen, um jemals im echten Sinne des Wortes ein „Volksmann" zu sein. Dilettant natürlich nicht so, wie Bismarck und die Junker ihm vorwarfen, nicht deshalb, weil er als Volksvertreter auch die auswärtige Politik der Regierung kritisiert hat, was vielmehr sein gutes Recht war, aber Dilettant, weil er es niemals für wert gehalten hat, sich ein klares Bild von dem Ursprung und Zusammenhang der heutigen Gesellschafts- und Staatsordnung zu machen, weil er sich politisch stets in einem allgemeinen Nebel ideologischer und – was der Philister so nennt - wohlmeinender Redewendungen bewegte, selbst auf solchen Gebieten, auf denen es ihm seine wissenschaftliche Bildung erleichtern musste, sich heimisch zu machen. Virchow hat den politischen Fragen niemals jene einsichtige und gründliche Prüfung gewidmet, die ihm in der Wissenschaft einen so verdienten Ruhm erworben haben.

Es sei nur daran erinnert, dass Virchow den gegen die katholische Kirche mit Gendarmen und Staatsanwälten geführten Krieg als „Kulturkampf" getauft hat. In Sachen des Sozialistengesetzes ist er prinzipientreuer gewesen, doch hat er auch nie etwas dagegen einzuwenden gehabt, dass seine Partei in Sachen des Arbeiterschutzes, dessen Notwendigkeit zu erkennen er vor allen Mitgliedern des Reichstags berufen war, an allerletzter Stelle marschierte. Am hässlichsten brach seine Abneigung gegen den Emanzipationskampf des Proletariats auf der Münchener Naturforscherversammlung im Jahre 1877 hervor. In seinem berufenen Vortrage über den Darwinismus predigte er ziemlich unverblümt den Satz Stahls, dass die Wissenschaft umkehren müsse; er warnte davor, die „Kirche", d. h. die mosaische Schöpfungslehre, in dem naturgeschichtlichen Unterricht der Schulen zu „depossedieren"; er meinte, dass jeder Versuch dieser Art nicht nur scheitern, sondern auch „die höchsten Gefahren für die Stellung der Wissenschaft" herbeiführen werde. Er sagte: „Ich will hoffen, dass die Deszendenztheorie für uns nicht alle die Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorien wirklich im Nachbarlande angerichtet haben. Immerhin hat auch diese Theorie, wenn sie konsequent durchgeführt wird, eine ungemein bedenkliche Seite, und dass der Sozialismus mit ihr Fühlung genommen hat, wird Ihnen nicht entgangen sein." Diese Sätze kennzeichnen schlagend den politischen Dilettantismus Virchows; der Zusammenhang zwischen Darwinismus und Pariser Kommune ist heute noch, wie damals, sein persönliches Geheimnis.

Um der Gerechtigkeit willen soll nicht übersehen werden, dass sein damaliger Gegner Haeckel ihn an gehässiger Gesinnung gegen die Arbeiterklasse noch übertraf. Indem Haeckel sich beschwerte, dass Virchow ihn als Bundesgenossen der Sozialdemokratie „an den Pranger gestellt und in seiner akademischen Stellung denunziert" habe, denunzierte er selbst frisch drauflos: „Die wahnsinnigen Attentate, welche die Sozialdemokratie gegen das allverehrte Greisenhaupt des deutschen Kaisers gerichtet hat", usw. und widerrief zugleich einige kräftige Wörtlein, die er in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte dem Militarismus gewidmet hatte, als jugendliche Extravaganzen.

Doch genug dieser Erinnerungen, die nicht den leisesten Schatten auf den achtzigsten Geburtstag Virchows werfen sollen. Ihr Zweck ist vielmehr gerade der umgekehrte. Wir meinen, sie sind morgen alle ganz in ihrer Rolle: die Bürokratie, die ihren Krimskrams an Orden und Titeln im Sacke behält, weil Virchow zwar ein Ruhm und Stolz der deutschen Nation, aber allerdings nie ein rückgratloser Streber gewesen ist; die Bourgeoisie, die darüber als über eine nationale Schmach jammert, dass an einem, wie sie selbst sagt, „Weltfest der Wissenschaft" nicht ein Exzellenztitel oder ein Verdienstorden von Gnaden eines gewissen Studt auf den weltberühmten Helden dieses Festes herab flattert, und endlich die Arbeiterklasse, die morgen nicht einen Augenblick an den Politiker Virchow denken wird, um freien Herzens dem großen Forscher Virchow den Tribut dankbarer Gesinnung darzubringen, den er durch sein unsterbliches Wirken um das Wohl der Menschheit verdient hat.

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