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Franz Mehring 19020416 Belgien

Franz Mehring: Belgien

16. April 1902

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 65-69. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 459-463]

In dem weltgeschichtlichen Ringen des modernen Proletariats um seine Emanzipation steht die belgische Arbeiterklasse augenblicklich im Vorkampf. Sie ist in den allgemeinen Ausstand getreten, um das gleiche Wahlrecht durchzusetzen, unter halbem und unzuverlässigem Beistand der Liberalen, unter hartnäckigem Widerstand der Klerikalen, deren Herrschaft durch dies Wahlrecht dauernd gebrochen werden würde.

Belgien ist die jüngste und kleinste der europäischen Monarchien, aber es gab eine Zeit, wo Belgien für die moderne Mustermonarchie galt. Die belgische Verfassung ist eine wahre Musterkarte aller möglichen konstitutionellen Freiheiten und Rechte, „ein monumentales Werk", wie namentlich die deutschen Liberalen der dreißiger und der vierziger Jahre mit unverhohlenem Neide zu sagen pflegten. Freilich hatte diese Verfassung den Wahlzensus, aber das war in liberalen Kreisen kein Fehler, vielmehr der schönste ihrer Vorzüge.

Ein Land mit einer solchen Konstitution musste glücklich sein, und in der Tat hat Belgien ein Menschenalter hindurch und länger als ein glückliches Land gegolten. Das parlamentarische Schaukelsystem der Klerikalen und der Liberalen wurde nach allen Regeln der Kunst exekutiert, und um das Proletariat in dem industriell hoch entwickelten Lande kümmerte sich die konstitutionelle Mustertheorie sehr wenig und die konstitutionelle Musterpraxis erst recht nicht. Freilich meldete sich das Proletariat gelegentlich schon selbst; im Januar 1834 fand in Gent eine Arbeiterbewegung statt unter dem Feldgeschrei, dass dem Volke die Früchte seiner Revolution gesichert werden müssten; auch im Jahre 1839 kam es zu wirklichen Zusammenrottungen arbeitsloser Proletarier, die sofort mit Waffengewalt gesprengt wurden. Neben der Arbeiterbewegung meldete sich auch schon der belgische Sozialismus; seine Vertreter waren Adolphe Bartels, Jottrand und namentlich Jakob Kats, ein flämischer Leineweber und geborener Agitator. Ihnen allen gemeinsam war, bei sonstigen Unterschieden, die Forderung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts; in seinen unzähligen Flugschriften geißelte Kats mit Ernst und Satire den Unsinn, dass man eine gewisse Summe Geldes bezahlen müsse, um bei der Vertretung der Volksinteressen ein Wort mitzureden. Auf den Einwand der Gegner, dass im Stimmrecht kein Vorteil liege, antwortete er schlagend: „Wenn denn im Stimmrecht kein Vorteil liegt, warum verweigert man es dem Arbeitsmann? Wenn ihr keinen Vorteil darin seht, dann wollen wir euch sagen, welcher Vorteil dabei ist. Wenn das Volk seine Repräsentanten selbst ernennen würde, so würden diese nicht dulden, dass man das Volk mitrailliert, sobald es Arbeit sucht, um Frau und Kinder am Leben erhalten zu können, wie es unlängst zu Gent geschehen ist. Dies und noch viel mehr würde das Volk durch das Stimmrecht gewinnen." Noch mehr, in den Jahren vor der Februarrevolution, als Marx und Engels in Brüssel lebten, war die belgische Hauptstadt eine Art Zentralpunkt der kommunistischen Propaganda.

Alles das aber hatte in dem konstitutionellen Musterlande noch nicht tiefe Wurzeln geschlagen. Vielmehr wurde Belgien erst recht das Dorado des bürgerlichen Konstitutionalismus, als es auch durch die Stürme des Jahres 1848 nicht erschüttert wurde. Kein europäisches Land, mit der einzigen Ausnahme des halbasiatischen Russlands, das von diesen Stürmen nicht mehr oder weniger gepackt worden wäre; selbst die Schweiz hatte ihren Sonderbundskrieg, aber Belgien schwamm wie eine Insel der Seligen in dem wogenden Meere der Revolution. Als die ersten Nachrichten vom Sturze des Julikönigtums nach Brüssel kamen, wollte es sich zwar auch in der demokratischen Jugend regen, allein der biedere König hatte es leicht, die konstitutionellen Biedermänner einzuseifen. Der alte schlaue Coburger berief seine liberalen Minister, Abgeordneten und Bürgermeister, um ihnen feierlich zu erklären, dass er bereit sei, abzudanken, falls das Volk es verlange. Darauf fielen die gerührten Einfaltspinsel der Bourgeoisie über die unruhigen Elemente her, entwaffneten und verhafteten sie und jagten die gefährlichen Flüchtlinge über die Grenze. Es ist bekannt, dass namentlich Marx und seine Frau dabei die brutalsten Misshandlungen zu erdulden hatten.

In den fünfziger und sechziger Jahren steigerte sich der belgische Nationalreichtum gewaltig. Hatte die Ausfuhr im Jahre 1840 nur 140 Millionen Francs betragen, so betrug sie 1860 409 und 1870 888 Millionen. Nach den unabänderlichen Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise war dieser Nationalreichtum für die große Masse der Nation ein Zustand allgemeiner Not. Nach einer offiziellen Statistik aus dem Jahre 1855 befanden sich nur etwa 5 Prozent der industriellen Arbeiter in halbwegs leidlichen Verhältnissen, etwa 75 Prozent in vollkommenstem Elend. Nach einem Bericht des englischen Konsuls vom Jahre 1871 lebte der sechste Teil der gesamten Bevölkerung von Almosen, bestand ziemlich die Hälfte aus Analphabeten. Aber auf die herrschende Klasse machte all der Jammer nicht den geringsten Eindruck, weder auf die Liberalen noch auf die Klerikalen. Im Jahre 1862 erklärte der liberale Minister Rogier dem englischen Gesandten in Brüssel, dass weder ein allgemeines Gesetz noch Lokalregulationen die Kinderarbeit irgendwie beschränkten, dass die Regierung sich während der drei letzten Jahre in jeder parlamentarischen Session mit dem Gedanken getragen habe, der Kammer ein Gesetz über den Gegenstand vorzulegen, dass sie aber stets ein unüberwindliches Misstrauen gefunden habe an der eifersüchtigen Angst gegen irgendwelche Gesetzgebung, die im Widerspruch stände mit dem Prinzip vollkommener Freiheit der Arbeit.

Von dieser „eifersüchtigen Angst" waren die Klerikalen nicht minder besessen als die Liberalen. Belgien ist das Musterbeispiel für die absolute Unfähigkeit der katholischen Kirche, irgend etwas für die Heilung oder nur Linderung der sozialen Schäden zu tun, die aus dem Kapitalismus erwachsen, für die Unwahrhaftigkeit jener Demagogen, die leider in Deutschland noch einflussreich genug sind, einem Teil der Arbeiterklasse die Augen darüber zu verblenden, dass die ultramontane Partei genauso arbeiterfeindlich ist wie jede andere bürgerliche Partei. Sie hat in Belgien der Arbeiterschutzgesetzgebung denselben fanatischen und verbohrten Widerstand entgegengesetzt, wie es die liberale Partei tat, es sei denn, dass sie für eine strenge Sonntagsfeier – natürlich nicht aus sozialhygienischen, sondern aus bigotten Gründen – ein gewisses platonisches Wohlwollen heuchelte. Ganz ebenso hat sie den Assoziationsbestrebungen der Arbeiter dieselbe drohende Faust gezeigt wie die liberale Partei. Rudolf Meyer, der von diesen Dingen etwas verstand und übrigens eine hohe Meinung von der sozialen Mission der katholischen Geistlichkeit hatte, schrieb darüber in den siebziger Jahren: „Das Verhalten der belgischen Christlich-Sozialen gibt dem Verdachte Raum, dass die Katholiken für die Arbeiter weitgehende Forderungen an den Staat nur da stellen, wo sie in der Opposition sind, nicht da, wo sie herrschen … Die katholische Partei hat die Macht in Belgien und hat sie nicht gebraucht zum Nutzen der arbeitenden Klassen. Es ist eine Schande für die angeblich so christliche katholische Regierung Belgiens, dass sie nicht einmal den Versuch zu einer Fabrikgesetzgebung gemacht hat, in der das ketzerische England uns allen ein Vorbild ist. Und das wird sich einst bitter an ihr rächen … Die Katholiken in anderen Ländern werden schwer Glauben finden für den Ernst ihrer Reformpläne, solange das von Katholiken regierte Belgien ein solcher Schandfleck für sie ist." Es ist übrigens bemerkenswert, dass Meyers feierliche Aufforderung an die katholischen Sozialpolitiker in Deutschland, das Treiben ihrer belgischen Gesinnungsgenossen zu verleugnen und dadurch die Reinheit ihrer eigenen Absichten zu bekunden, gänzlich erfolglos geblieben ist. Eine Krähe hackt der anderen die Augen nicht aus.

Die belgischen Klerikalen und Liberalen waren denn auch ein Herz und eine Seele, als sich in den sechziger Jahren, wie in anderen Ländern, so auch in Belgien eine Arbeiterbewegung auf großem Fuße zu entwickeln begann. Als Belgien auf Geheiß des offiziellen Europa zu einem neutralen Staat erklärt wurde, beging die europäische Diplomatie einen jener Schwabenstreiche, in denen sie ihren Ursprung von Gottes Gnaden zu bekunden pflegt: Hätte sie dem königlichen Marionettenspiel in Brüssel eine Handvoll, nach ihrer Auffassung unentbehrlicher Paradesoldaten bewilligt, so hätte man das verstehen können, aber sie gestattete dem neutralisierten Lande von etwa 540 Geviertmeilen Umfang den kostspieligen Luxus einer Armee, eines größeren stehenden Heeres, als Großbritannien und die Vereinigten Staaten besitzen. Was Wunder, dass die belgische Bourgeoisie auf den glorreichen Gedanken verfiel, dieses herrliche Kriegsheer seine Lorbeeren auf Razzias gegen die Arbeiterklasse pflücken zu lassen. Man muss selbst dem preußischen Militärstaat nachsagen, dass, als die Ära der Streiks in den sechziger Jahren begann, keine Arbeitseinstellung in den preußischen Industriebezirken mit blutiger Gewalt unterdrückt wurde, soviel Knüppel ihnen sonst auch von Polizei wegen zwischen die Beine geworfen wurden, aber anders in Belgien.

Einige klassische Sätze darüber finden sich in einem Aufruf, den der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation am 4. Mai 1869 erließ. Wir lesen da: „Es gibt nur ein einziges kleines Ländchen in der zivilisierten Welt, worin die Kriegsmacht dazu da ist, Metzlerin streikender Arbeiter zu sein, wo jeder Strike begierig und schadenfroh als Vorwand ergriffen wird, die Arbeiter offiziell niederzumetzeln. Das so einzig beglückte Ländchen ist Belgien, der Musterstaat des festländischen Konstitutionalismus, das behagliche, wohl umzäunte Paradies des Landherrn, des Kapitalisten und des Pfaffen. Die Erde vollendet ihre jährliche Umwälzung nicht sicherer als die belgische Regierung ihre jährliche Arbeitermetzelei. Die diesjährige Metzelei unterscheidet sich von der vorjährigen nur durch die gräulichere Anzahl der Schlachtopfer, die scheußlicheren Gräueltaten einer sonst lächerlichen Soldateska, das lärmendere Frohlocken der Pfaffen- und Kapitalistenpresse und die unverschämtere Nichtigkeit des Vorwands, den die staatsgewaltlichen Schlächter vorbringen. Es ist jetzt konstatiert, selbst durch die unbedachtsamer Weise veröffentlichten Berichte der Kapitalistenpresse, dass der ganz rechtmäßige Streik der Schlämmer der Cockerillschen Eisenwerke zu Seraing nur in eine Erneute verwandelt wurde durch die Kavallerie und Gendarmerie, die plötzlich auf den Platz geworfen wurde, um das Volk zu provozieren. Vom 9. bis zum 12. April fielen diese mutigen Krieger nicht einmal mit Säbeln und Bajonetten über wehrlose Arbeiter her – sie töteten und verwundeten ohne Unterschied harmlos vorüberziehende Fußgänger, brachen gewaltsam in Privathäuser ein und belustigten sich sogar damit, wiederholt rasende Angriffe auf die in der Serainger Bahnstation eingesperrten Reisenden zu machen."1

Mit dieser Methode gelang es den herrschenden Klassen in Belgien, die Arbeiterbewegung zwar nicht im Blute zu ersticken, aber doch ihr erwachendes Klassenbewusstsein so zu verwirren, dass sie auf lange hinaus ein Tummelplatz der anarchistelnden Konfusion wurde. Begreiflich genug, dass eine eben erst aus dumpfem Elend erwachende Arbeiterklasse, die den Säbel und die Flinte als Lohndrücker fungieren sieht, in noch wirksameren Gewaltwerkzeugen eine legitime Waffe des Widerstandes erblickt. Praktisch ist die Bourgeoisie nicht weniger die Mutter des Anarchismus als theoretisch. Aber auf die Dauer muss der anarchistische Spuk in dem klaren Lichte verschwinden, das die fortschreitende Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise auf die Emanzipationsbedingungen des modernen Proletariats wirft. Seit der Mitte der achtziger Jahre hat die belgische Arbeiterklasse den Kampf um das allgemeine und gleiche Stimmrecht aufgenommen und ihn siegreich fortgeführt bis zu dem jetzigen entscheidenden Ringen, wo die Eroberung dieses Stimmrechts gleichbedeutend ist mit der Eroberung der konstitutionellen Missmonarchie durch die Arbeiterklasse. Der Kampf selbst steht zwischen der ultramontanen Regierung und dem klassenbewussten Proletariat; der belgische Liberalismus hat sich unter dem Ansturm der Arbeiterklasse längst aufgelöst. Es ist eine ähnliche Situation, wie sie auch im preußisch-deutschen Reiche besteht und wie sie für die festländische Entwicklung typisch werden zu sollen scheint: Die Bourgeoisie hält den gewaltigen Kampf mit dem Proletariat nicht aus und spielt ein zweideutig-verräterisches Spiel zwischen ihren Gegnern von ehedem und ihren Gegnern von heute. Wie unsere Junker vom hauenden Säbel und der schießenden Flinte als den endgültigen Bezwingern der Arbeiterbewegung träumen, so sehen wir die belgischen Klerikalen mit denselben Mitteln arbeiten, mit den Mitteln, die der Generalrat der Internationale schon im Jahre 1869 mit klassischen Worten gebrandmarkt hat. Diesen Waffen ist die belgische Arbeiterklasse bei dem heutigen Stande ihrer Entwicklung reichlich gewachsen; gefährlicher ist das anscheinend gefahrlosere Spiel der liberalen Zwischenträger, doch auch sie werden in dem einmal entbrannten Kampfe fortgefegt werden.

1 „Es gibt nur ein Land in der zivilisierten Welt, wo jeder Strike begierig und nur zu gern als Vorwand ergriffen wird, um die Arbeiterklasse offiziell niederzumetzeln. Das so einzig beglückte Land ist Belgien, der Musterstaat des kontinentalen Konstitutionalismus, das behagliche, wohl umzäunte Paradies des Grundbesitzers, des Kapitalisten und des Pfaffen. Die Erde vollendet ihre jährliche Umwälzung nicht sicherer als die belgische Regierung ihre jährliche Arbeitermetzelei. Die diesjährige Metzelei unterscheidet sich von der vorjährigen nur durch die gräulichere Anzahl der Schlachtopfer, die scheußlicheren Gräueltaten einer sonst lächerlichen Armee, das lärmendere Frohlocken der Pfaffen- und Kapitalistenpresse und die unverschämtere Nichtigkeit des Vorwands, den die Regierungsschlächter vorbringen.

Es ist jetzt erwiesen, selbst durch die unbedachtsamerweise veröffentlichten Berichte der Kapitalistenpresse, dass der durchaus rechtmäßige Strike der Puddler der Cockerillschen Eisenwerke zu Seraing nur in eine Erneute verwandelt wurde durch eine starke Abteilung Kavallerie und Gendarmerie, die plötzlich auf den Platz geworfen wurde, um das Volk zu provozieren. Vom 9. bis zum 12. April fielen diese mutigen Krieger nicht allein mit Säbeln und Bajonetten über wehrlose Arbeiter her – sie töteten und verwundeten ohne Unterschied friedliche Fußgänger, brachen gewaltsam in Privathäuser ein und belustigten sich sogar damit, wiederholt rasende Angriffe auf die in der Serainger Bahnstation eingesperrten Reisenden zu machen." (Karl Marx: Die belgischen Metzeleien. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 16, S. 350/351.)

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