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Franz Mehring 19020402 Das große Kesseltreiben

Franz Mehring: Das große Kesseltreiben

2. April 1902

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 1-6. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 453-458]

Die parlamentarischen Osterferien sind diesmal von größerer politischer Bedeutung, als die bisherigen Beratungen des Reichstags waren. Je mehr sich die Verhandlungen der Zolltarifkommission zu einem verworrenen Knäuel gestalteten, umso mehr schien die drohende Auspowerung der Volksmassen an der junkerlichen Unersättlichkeit zu scheitern. Allein dieser Schein konnte nur die liberalen Spießbürger täuschen, die sich die luftigste Illusion als greifbare Wirklichkeit vorzugaukeln lieben, wenn sie dadurch der Aussicht auf einen ernsten Kampf entrinnen zu können glauben; wer in der Fähigkeit, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, die erste Vorbedingung einer erfolgreichen Politik erblickt – und in dieser Fähigkeit wurzeln alle politischen Erfolge der deutschen Arbeiterklasse –, der musste sich sagen, dass die brotwucherischen Treibereien in der Zolltarifkommission nur Vorpostengefechte waren, ungeschickte Vorpostengefechte immerhin, aber doch Vorpostengefechte, die nichts entschieden.

Seitdem der Reichstag in die Osterferien gegangen ist, hat sich die Lage geklärt. Mit allem Hochdruck wird an einem jener berühmten „Kompromisse" gearbeitet, in denen die häuslichen Häkeleien der herrschenden Klassen ausgeglichen werden, um die vereinte Kraft als Sturmbock gegen die rebellischen Volksmassen zu wenden. In Venedig singt der Reichskanzler das Lob der goldenen Mitte und streut mit verschwenderischer Hand die ältesten Ladenhüter aus Büchmanns „Geflügelten Worten" um sich her; Graf Posadowsky bereist die deutschen Höfe, um den Hungertarif niet- und nagelfest zu machen; die ultramontane Presse sieht das Morgenrot der „Verständigung" am politischen Horizont dämmern, und die alte brave Kreuzritterin eifert jeden neuen Tag für die „geschlossene Phalanx" aller Volksfeinde, die den vernichtenden Stoß gegen die „rote Phalanx" führen soll. Das große Kesseltreiben der Reaktion hat begonnen. So ist es hohe Zeit, dass die „rote Phalanx" ihre Glieder schließt, dass sie entschlossen, fertig, klar den Kampf aufnimmt und sich seine großen Gesichtspunkte nicht durch kleine, nebensächliche Zufälle verwirren lässt.

Ein solcher Zufall tritt eben jetzt ein, durch den Tod Ernst Liebers, der seit zehn Jahren der anerkannte Führer des Zentrums gewesen ist, das heißt derjenigen reaktionären Partei, die, sobald der Kampf ernsthaft wird, in den Mittelpunkt der „geschlossenen Phalanx" rückt. Auch dieser Todesfall ist zur Abwiegelung benützt worden von den guten Leuten und schlechten Musikanten, die gern schwimmen, aber nur nicht ins Wasser gehen, die gern kämpfen, aber nur ja keine Beulen und Wunden davontragen möchten. Man sagt, gerade in der jetzigen schwierigen Lage des Zentrums sei der Tod Liebers ein kaum zu verwindender Schlag für seine Partei; es werde sich so leicht keiner finden, den „Reichsregenten" zu ersetzen, keiner, der die widerstrebenden Kräfte des Zentrums gleich fest zusammen- und dadurch die „maßgebende" Stellung dieser Partei aufrechterhielte. Dies ganze Räsonnement ist eitel Kannegießerei. Will man den Tod Liebers unter politischem Gesichtspunkt fassen, so kommt man zu ganz anderen Ergebnissen, und es lohnt sich vielleicht einmal, an diesem Zufall eine Probe auf das Exempel zu machen, wie man in der Politik Kleines klein und Großes groß behandeln soll.

Ohne den etwaigen persönlichen Tugenden des verstorbenen Zentrumsführers irgend zu nahe treten zu wollen, so war er als öffentliche Persönlichkeit eine so triviale Erscheinung, wie sie vielleicht noch niemals dagewesen ist an dem Platze eines „Reichsregenten", der trotz alledem durch das allgemeine Stimmrecht emporgekommen war. Man kann sich davon sehr leicht und schnell überzeugen, wenn man einige von Liebers Parlamentsreden durchmustert; sicherlich hat es in den mehr als fünfzig Jahren deutscher Parlamentsgeschichte keinen Parlamentarier in führender Stellung gegeben, der mit solchem Behagen in reinen Phrasen geschwelgt hätte.

Nun ist die parlamentarische Beredsamkeit gewiss kein unfehlbarer Prüfstein politischer Leistungsfähigkeit. Man kann ein sehr guter Parlamentsredner und ein sehr schlechter Politiker sein und umgekehrt. Es gibt Fälle genug, in denen die größten Parlamentsredner zugleich die größten Parteiverderber waren. Von den Toten sei nur an den Freiherrn v. Vincke erinnert, der, für die heutige Generation schon gänzlich verschollen, alles in allem vielleicht die glänzendste Erscheinung unserer parlamentarischen Geschichte gewesen ist. Aber er hat mit unheimlicher Regelmäßigkeit seine Partei in den Sumpf geführt. Unter den Lebenden ist Eugen Richter ein gutes Beispiel dafür, wie man unzählige, in ihrer Art ganz respektable, den Gegner „vernichtende" Parlamentsreden halten und dabei doch ein Parteiverwüster ersten Ranges sein kann. Auf der anderen Seite hat es sehr einflussreiche und erfolgreiche Politiker gegeben, die als Parlamentsredner wenig oder gar nichts taugten. In den glücklichsten Zeiten des Zentrums standen Savigny und Franckenstein mit an seiner Spitze, von denen jener im Reichstag nie den Mund aufgetan hat und dieser höchstens einmal eine offizielle Erklärung von wenigen Zeilen ablas. Auch das ostelbische Junkertum mit seinen unaufhörlichen praktischen Erfolgen hat nie in parlamentarischer Beredsamkeit exzelliert. Seine Unkosten auf diesem Gebiet sind von Stahl und Wagener bis auf Stoecker meist von bürgerlichen Überläufern bestritten worden; selbst Bismarck war durchaus kein guter Parlamentsredner.

Allein diese Erscheinung, deren tiefere Gründe einmal von Liebknecht in einem der ersten Jahrgänge der „Neuen Zeit" geistreich erörtert worden sind, trifft auf Lieber deshalb nicht zu, weil er in seiner Art wirklich ein Parlamentsredner war. Er sprach glatt, geläufig, wortreich genug, aber dabei so vollkommen inhaltslos und leer, wie man es sonst an keinem Parteiführer, geschweige denn an einem „Reichsregenten" erlebt hat. Der Überfluss an pathetischer Salbung, den er aufzuwenden liebte, machte den Mangel an Geist nur umso fühlbarer. Wer die alten Führer des Zentrums, die beiden Reichensperger, Windthorst, Mallinckrodt, noch gehört hatte, konnte daraus auf einen geistigen Verfall ohnegleichen schließen, und doch lässt sich nicht bestreiten, dass Lieber zehn Jahre lang der tatsächliche Führer des Zentrums gewesen ist, gerade in der Zeit, wo es die „maßgebende" Partei war. Wenn er unter seinen unzähligen Trivialitäten je ein treffendes Wort gesagt hat, so war es sein Hinweis darauf, dass Windthorst bei längerem Leben die Sache auch nicht anders gemacht haben würde als er. Möglich, dass Windthorst im Einzelnen geschickter laviert, diesen oder jenen Umfall geistreicher beschönigt hätte, obgleich auch das keineswegs sicher ist. Denn es gibt Verhältnisse, in denen selbst das salzigste Salz dumm wird. Aber im großen und ganzen wären die Wege des Zentrums dieselben gewesen unter Windthorst wie unter Lieber, und man könnte selbst umgekehrt sagen: Vielleicht wären diese Wege weniger gangbar gewesen unter einem Führer von ausgeprägter Persönlichkeit, wie Windthorst war, als unter einem Führer von so verwaschener Individualität, wie Lieber gewesen ist.

Doch genug dieser Wenn und Aber, die mehr auf eine leichte Gedankenspielerei als auf eine ernsthafte Betrachtung hinauslaufen. Die wirkliche Tatsache ist, dass die Führer einer Partei nicht dieser ihr Wesen aufprägen, sondern umgekehrt, dass jede Partei sich die Führer erzeugt, die sie braucht. Nicht weil Windthorst ihr Führer war, trieb das Zentrum zu Windthorsts Zeit eine gescheitere Politik als zu Liebers Zeit, sondern als die Partei eine gescheitere Politik trieb, brauchte sie einen Führer wie Windthorst, während sie im letzten Jahrzehnt sich an einem Lieber genügen lassen konnte, ja in ihm ihr eigentliches Wesen verkörpert sah.

Von diesem einzig richtigen Gesichtspunkt aus ist das Hinscheiden Liebers kein politisches Ereignis. Er wird so oder so ersetzt werden, ohne andere als höchstens ganz beiläufige und vorübergehende Störungen in der Zentrumspolitik. Unter dem engen Gesichtswinkel des bürgerlichen Parlamentarismus mag man den Verlust des Zentrums politisch überschätzen; bei dem flüchtigsten Blick auf den historischen Zusammenhang der Dinge zeigt sich sofort, dass dieser Verlust alles andere eher als unersetzlich ist. Es zeigt sich dann aber auch, woher die Macht des Zentrums stammt und woran allein sie untergehen kann.

Historisch ist das Zentrum die rückständigste aller bürgerlichen Parteien. Bamberger sagte einmal in den siebziger Jahren, es habe sich nur deshalb in die Mitte des Reichstags gesetzt, weil es hinter der äußersten Rechten keinen Platz mehr gefunden habe. So seltsam dies Wort klang zu einer Zeit, wo die Nationalliberalen unter Bambergers Führung jedem Winke der Reaktion gehorsam waren, während das Zentrum für Press- und Versammlungsfreiheit focht und die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für alle parlamentarische Körperschaften in Deutschland forderte, so ist es nichtsdestoweniger wahr. Es ist auch nicht bloß deshalb wahr, weil das Zentrum unter der Fahne der katholischen Kirche marschiert und „konfessionelle" Parteien historisch längst überlebt sind. Eine „konfessionelle" Partei ist das Zentrum nicht seinem Wesen und seinem Zwecke, sondern nur dem Mittel nach, sein Wesen und seinen Zweck zu verwirklichen. Der Katholizismus ist sein ideologisches Gewand und die kirchliche Organisation seine stärkste Burg, aber wie wenig die „Konfession" sein eigentlicher Zweck ist, hat es hinlänglich in den zehn Jahren gezeigt, in denen es herrschende Partei ist. Was hat es denn in dieser langen Zeit getan, um der katholischen Kirche zur Herrschaft zu verhelfen? Es hat ja nicht einmal das armselige Jesuitengesetz zu beseitigen gewusst und ist schon überselig, wenn ihm einmal eine „katholische" Geschichtsprofessur eingeräumt wird. Das mag ganz gut sein, um seinen gläubigen Wählern die Augen zu verblenden, aber mit solchen kleinen Trinkgeldern macht man keine große Politik. Man taumelt doch nicht von einem uferlosen Flottenplan in den anderen, bloß damit der junge Herr Spahn in Straßburg einigen hoffnungsvollen Jünglingen die Köpfe mit ultramontanen Geschichtsklitterungen verwüsten kann.

Vielmehr ist das Zentrum ein trauriges Erbe – in letzter Instanz – des Dreißigjährigen Krieges, ein trauriges Erbe der Jahrhunderte langen Zersplitterung, in der Deutschland zu leben verdammt war, während die großen Völker des Westens sich zur nationalen Gemeinschaft zusammenschlossen. Das Zentrum wurde das große Sammelbecken aller partikularistischen Elemente, denen selbst die verkrüppelte Einheit Deutschlands, wie sie Bismarck mit den preußischen Bajonetten schuf, ein Stein revolutionären Anstoßes war. Insofern hatte Bamberger ganz recht, das Zentrum für noch reaktionärer als selbst das ostelbische Junkertum zu erklären, das sich, nicht ohne Rückfälle, aber doch mit süßsaurer Miene in das Maß deutscher Einheit zu schicken wusste, das auf dem Schlachtfeld von Sadowa geschaffen worden war. Alle diese partikularistischen Trümmer, vereinzelt, zerstreut, unfähig zu jeder selbständigen Aktion, wie sie waren, fanden ihren Zusammenhalt in der katholischen Kirche, die nach ihren historischen Existenzbedingungen an der Zersplitterung des überwiegend protestantischen Deutschlands aufs Lebhafteste interessiert war. Jedoch wenn diese Kirche das Kindlein aus der Taufe hob, so erzog es Bismarck zu einem kräftigen Burschen, indem er in seiner glorreichen Genialität den Schein für das Wesen nahm, den famosen „Kulturkampf" vom Zaune brach und damit dem Zentrum einen unbezahlbaren Dienst leistete. Gestützt auf die mächtige Organisation der katholischen Kirche, bewies es eine Kraft und Zähigkeit des Widerstandes, wie ihrer der bürgerliche Liberalismus nie fähig gewesen ist, und erwarb sich dadurch eine bis heute unerschütterte Position im Volke. Es ist die einzige tröstliche Seite an dem heutigen Zentrum, dass es durch seine Existenz zeigt, wie tiefe Wurzeln eine Partei in den Massen zu schlagen vermag, sobald sie eine konsequente und prinzipielle Politik zu treiben weiß.

Es lag in dem partikularistisch-reaktionären Wesen des Zentrums, dass Bismarck ihm immer näher rückte, je mehr er, erschreckt durch die Folgen seines eigenen Tuns, wieder in die altpreußisch-partikularistisch-reaktionäre Politik einlenkte. Innerlich zersplittert, wie aller Partikularismus seiner Natur nach ist, hat er doch ein gemeinsames Interesse gegen die zentralisierenden Tendenzen der fortschreitenden Zivilisation. Bismarck und Windthorst machten gemeinsame Sache gegen den bürgerlichen Liberalismus und die proletarische Demokratie, ohne dass dabei der eine dem andern auch nur über den Weg traute. Bismarck räumte gerade nur so viele kirchenpolitische Konzessionen ein als nötig waren, um dem Zentrum bei den Wählern den Glorienschein einer für „Wahrheit, Freiheit und Recht" kämpfenden Heldenschar zu erhalten, und Windthorst versäumte nie, den Bundesbruder durch gelegentliche schmerzhafte Nadelstiche daran zu erinnern, dass es zwischen hohenzollerischem und welfischem Partikularismus doch noch wesentliche Unterschiede gäbe.

Als dann Bismarck fiel, überlebte ihn das Zentrum und trat in eine neue Phase seiner Existenz, die noch viel unerklärlicher erscheint als die früheren. Während sich die Klassengegensätze immer mehr schärften, die Wogen der Klassenkämpfe immer höher gingen, die von alters her überlieferten Zustände sich immer schärfer zersetzten, wurde die historisch rückständigste aller bürgerlichen Parteien das Zünglein an der Waage. Der „Turm des Zentrums" stand unerschüttert, während alles bürgerliche Parteiwesen wie Triebsand durcheinander rann. Allein diese scheinbar unerklärliche Anomalie erklärt sich gleichwohl durch sich selbst. Eben die Heftigkeit der gegenseitig aufeinander prallenden Klassengegensätze, von denen noch keiner dem anderen die entscheidende Schlacht zu liefern vermochte, hielt eine aus den allerverschiedensten sozialen Elementen durch historische Bande zusammengeschlossene Partei aufrecht. Die heutige Macht des Zentrums hat ganz denselben Ursprung wie die heutige Macht des Absolutismus, und deshalb passen beide auch zueinander wie Handschuh und Hand. Ohne Gedanken und Prinzipien wursteln sie weiter von Tag zu Tag, stets nur besorgt darum, sich auf der Höhe der Woge zu erhalten, auf die sie eine besondere historische Komplikation geworfen hat. Es ist eine politische Situation, die wie keine andere mittelmäßigen Persönlichkeiten die Rolle großer Männer zu spielen erlaubt, eine Rolle, die sich freilich auf möglichst tönende Worte beschränken muss. Die triefende Salbung Liebers, die feuilletonistische Schaumschlägerei des Grafen Bülow, sie haben denselben Ursprung, und wir glauben an den Schmerz, womit der Reichskanzler um den „Reichsregenten" trauert.

Mit dem Zolltarif ist die Schaukelpolitik der edlen Verbündeten aber in eine so bedrängte Lage gekommen wie niemals zuvor. Sie dürfen es mit einer so entschlossenen, hartnäckigen und rachsüchtigen Klasse wie dem preußischen Junkertum nicht verderben, aber überrennen dürfen sie sich von ihnen auch nicht lassen, und so suchen sie krampfhaft nach einem „Kompromiss", das sie retten kann. Sie werden es ohne Zweifel finden, aber sie werden die Rechnung dennoch ohne den Wirt gemacht haben, ohne das Gleichgewicht, das sie vor einer Überrennung von links her schützt. Die Arbeiter, die bisher dem Zentrum gehorsame Gefolgschaft geleistet haben, rebellieren immer lauter gegen noch so „kompromissliche" Getreidezölle; scheiden sie sich vom Zentrum, dann purzelt diese Partei zusammen wie jenes Alräunchen des Märchens, dem die Goldadern ausgeschleckt wurden, und das große Kesseltreiben der Reaktion hat da, wo es seine stärkste Stütze haben sollte, eine klaffende Lücke.

Möge es also beginnen, je eher je lieber! Je ebener das Schlachtfeld, je einfacher und klarer die Schlachtordnung, umso besser für die deutsche Arbeiterklasse. Niemals seit zehn Jahren hat sich ihr eine so günstige Gelegenheit geboten, einen entscheidenden Schlag zu führen; sie wird des Dichterwortes gedenk sein: Die Sterne winken, die Stund' ist groß.

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