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Franz Mehring 19020709 Der Druck von außen

Franz Mehring: Der Druck von außen

9. Juli 1902

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 449-452. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 488-492]

Im Schweiße ihres Angesichts und im Genuss ihrer Diäten arbeitet die Zolltarifkommission unverdrossen fort, an einem Penelopegewebe, dessen Fäden keineswegs in demselben Masse haltbarer werden, worin sie sich mehr verwirren. Mitten aus diesem idyllischen Stillleben ertönt nun ein Alarmschuss: Um rechtzeitig fertig zu werden, beabsichtigt die Mehrheit der Kommission, die Redezeit zu verkürzen, und zwar angeblich aus dem Grunde, weil ihre sozialdemokratischen Mitglieder die kostbare Zeit durch unnütze Reden vertrödeln.

Der parlamentarische Waschzettel, der diese Nachricht verbreitet, fügt hinzu, privatim seien die sozialdemokratischen Mitglieder der Kommission von der Neuerung, für jeden Redner eine bestimmte Frist anzusetzen (dreißig bis vierzig Minuten im Höchstfall), bereits unterrichtet worden, um ihnen den Vorwand einer Überrumpelung vorwegzunehmen. Sollten sie jedoch kein Einsehen haben, so werde die Abkürzung der Redezeit von der Mehrheit der Kommission angenommen werden. Natürlich werde sie für alle Redner und für die ganze Dauer der Verhandlungen bestehen; auch die konservativen Mitglieder und das Zentrum würden sich ihr bei der zweiten Beratung der Getreidezölle unterwerfen. Zudem verlaute, dass für das Plenum des Reichstags eine ähnliche „Reform" beabsichtigt werde.

Von der sozialdemokratischen Tagespresse wird dagegen eingewandt, dass die Verschleppung der Verhandlungen in der Zolltarifkommission, soweit eine solche überhaupt stattgefunden habe, durch die agrarischen Überzöllner verursacht worden sei und dass den sozialdemokratischen Mitgliedern durch einen parlamentarischen Staatsstreich im Kleinen nicht ihr Recht wie ihre Pflicht verkürzt werden dürfe, die Verderblichkeit dieses Tarifmonstrums von fast tausend Positionen mit aller Gründlichkeit im einzelnen aufzudecken. Im Übrigen werden einige Zweifel daran geäußert, ob die Mehrheit der Kommission sich wirklich zu der Beschränkung der Redefreiheit entschließen werde, zu der ihr jede Befugnis fehle. Wenn sie sich mehr von politischer Klugheit als von blinder Gehässigkeit beraten lasse, so werde sie sich der Einsicht nicht verschließen können, dass der beabsichtigte Gewaltstreich die schwerste Gefährdung des Zolltarifs bedeuten müsste, indem damit der Zollopposition das Recht gegeben werde, im Kampfe gegen den Tarif jedes Mittel zur Anwendung zu bringen, auch solche Mittel, die nach der Geschäftsordnung ebenso wenig zulässig seien wie die geplante Beschränkung der Redefreiheit.

Alles das ist vollkommen richtig. Ganz besonders teilen wir auch die Zweifel daran, dass die Suppe ganz so heiß gegessen werden wird, wie sie in jenem parlamentarischen Waschzettel serviert wird. Vermutlich handelt es sich zunächst nur um einen Schreckschuss für die sozialdemokratischen Mitglieder der Zolltarifkommission. Aber wenn dieser Schreckschuss die nicht schreckt, die er schrecken soll – und daran, dass er sie schrecken wird, ist ja natürlich nicht zu denken –, so ist die drohende Ankündigung immerhin nicht auf die leichte Achsel zu nehmen. Die Zöllner sind offenbar auf sie verfallen, nachdem ihre Absicht, zu Ehren des Zolltarifs die Gesetzgebungsperiode des Reichstags künstlich zu verlängern dadurch, dass man sein Mandat statt vom Tage der Wahl, vielmehr vom Beginn der ersten Session an rechnet, sich als schwer durchführbar erwiesen hat. Das wäre nur im Widerspruch mit einer bald vierzigjährigen Praxis und auf die künstlichsten Wortklaubereien hin möglich gewesen. Es ist nicht zu leugnen, dass der gegenwärtige Plan der Brotwucherer geschickter und deshalb gefährlicher ist.

Gewiss fehlt der Zolltarifkommission jede Befugnis, die Redezeit ihrer Mitglieder zu verkürzen. Aber wenn es ihre Mehrheit dennoch tut, so weiß sie ganz genau, dass sie von der Mehrheit des Reichstags gedeckt werden wird, und dem Reichstag selbst kann die Befugnis nicht abgestritten werden, seine Geschäftsordnung in dem Sinne zu revidieren, dass jeder Redner an eine bestimmte Zeitdauer gebunden ist. Es ist sogar einmal von sozialdemokratischer Seite dieser Vorschlag gemacht worden, gleich nach den Wahlen von 1874, als neun sozialdemokratische Abgeordnete in den Reichstag gelangt waren, aber nicht zum Worte kommen konnten, weil die Redeflut der nationalliberalen Staatsmänner von Laskers Schlage sich uferlos ergoss. Damals meinte ein sozialdemokratischer Abgeordneter, wenn wir nicht sehr irren, war es Vahlteich, eine geschäftsordnungsmäßige Beschränkung der Redezeit würde ermöglichen, dass auch die Minderheit zu ihrem Rechte käme.

Natürlich meinen wir nicht, dass mit dieser beiläufig hingeworfenen Äußerung ein Präzedenzfall für den gegenwärtig geplanten Staatsstreich gegeben sei. Nur zweierlei möchten wir daraus folgern: erstens dass sich an dem formellen Rechte des Reichstags, geschäftsordnungsmäßig eine bestimmte Redefrist für jeden Redner festzusetzen, nicht wohl zweifeln lässt, und zweitens dass von allen Versuchen der Brotwucherer, ihre Plünderungspläne durchzusetzen, die Beschränkung der Redefreiheit auf zeitliche Grenzen am wenigsten unpopulär sein würde. Je dürftiger die Früchte des deutschen Parlamentarismus geworden sind, um so mehr hat er sich zeitlich ausgedehnt, und wenn es auch eine Berserkerlogik wäre, daraus zu folgern, dass der deutsche Parlamentarismus um so reichere Früchte tragen werde, je mehr man ihn zeitlich beschränke, so ist doch so viel sicher, dass in sehr großen Volkskreisen ein lebhafter Überdruss an der parlamentarischen Beredsamkeit herrscht und dass ein reaktionärer Vorstoß in dieser Richtung eher ertragen werden würde als in irgendeiner anderen.

Ein Gewaltstreich bleibt die geplante Beschneidung der parlamentarischen Redezeit natürlich deshalb nicht weniger, weil sie sich in formell zulässiger Weise durchsetzen lässt. So war auch das Sozialistengesetz ein Gewaltstreich, obgleich es in aller Form rechtens von den gesetzgebenden Faktoren des Reiches beschlossen wurde. Die zufällige Mehrheit benutzt ihre Gewalt, um die Minderheit in der Ausübung eines Rechtes zu hindern. Daran wird natürlich auch durch die gnädige Versicherung der Mehrheit nichts geändert, dass sie selbst sich ebenfalls in die von ihr gegen die Minderheit beschlossene Maßregel fügen werde. Das versteht sich ja von selbst, wenn sich die Mehrheit nicht vor aller Welt lächerlich und verächtlich machen will, und übrigens wird die anscheinend gleiche Wirkung der Sache sehr ungleich durch die ungleiche Lage, in der sich beide Teile befinden. Die Mehrheit kann zur Not auf alle Reden verzichten, weil sie beschließen kann, was sie will, während der Minderheit durch die Beschränkung der Redezeit die einzig wirksame Waffe abgestumpft wird, die sie besitzt.

Insoweit enthält der ganze Zwischenfall aber einen sehr ernsten Wink. An dieser Stelle ist von jeher daran gezweifelt worden, dass, wenn sich die herrschenden Klassen über den Zolltarif einigen, das Unheil durch die parlamentarische Obstruktion der Reichstagsminderheit noch verhindert werden könne. Wir glauben deshalb auch nicht, dass die an sich ja ganz gerechtfertigte Drohung mit der rücksichtslosen Obstruktion, die der nunmehr geplante Gewaltstreich entfesseln werde, besonderen Eindruck auf die Brotwucherer machen wird. Man muss sich über die praktischen Möglichkeiten einer parlamentarischen Obstruktionspolitik nicht durch die Erfahrungen bei der lex Heinze täuschen lassen, die gar kein wirkliches Klasseninteresse hinter sich hatte, sondern nur ein prahlerischer Luxus der herrschenden Partei war. Sind alle sonstigen Hindernisse beseitigt, die der Verabschiedung des Zolltarifs im Wege stehen, so wird er an keiner parlamentarischen Obstruktion scheitern. Die Notwendigkeit dieses Scheiterns lässt sich sehr schön, sogar ziffernmäßig auf dem Papier beweisen, aber darüber ist nicht die hausbackene Tatsache zu vergessen, dass so handgreifliche und mächtige Klasseninteressen, wie hinter dem Zolltarif stehen werden, wenn sich einmal Großgrundbesitz und Großindustrie über ihn geeinigt haben, nun und nimmermehr über die parlamentarischen Zwirnsfäden des deutschen Scheinkonstitutionalismus stolpern werden. Gerade die geplante Beschränkung der Redezeit ist ein schlagender Beweis dafür, einen wie dicken Strich die brotwucherische Mehrheit durch alle Obstruktionspläne ziehen kann ohne andere Unkosten, als eine formell nicht verbotene und obendrein nicht einmal unpopuläre Maßregel.

Das Vertrauen auf die parlamentarische Obstruktion ist eines der Zeichen, die dafür sprechen, dass die Anschauungen über den bürgerlichen Parlamentarismus innerhalb der Sozialdemokratischen Partei etwas durcheinander gekommen sind. Während die Beteiligung an den Wahlen früher als ein wichtiges und unentbehrliches, aber immerhin nur als ein Mittel der Agitation, als eine Waffe des Klassenkampfes galt, wird sie jetzt vielfach schon, wenn nicht bewusst, so doch unbewusst, als der Boden betrachtet, auf dem das kämpfende Proletariat seine entscheidende Schlacht schlagen kann. Eben jetzt hat in Berlin eine Agitation für die preußischen Landtagswahlen begonnen mit dem lockenden Ziele, schon durch die bloße Beteiligung der Arbeiter an diesen Wahlen werde das Dreiklassenwahlsystem gesprengt werden. Das ist wieder sehr schön auskalkuliert, mit lauter Wenn und Aber, die bekanntlich Gold aus Häckerling machen können. Eine andere Frage ist, ob auch nur eines dieser Wenn und Aber sich erfüllen wird, und selbst wenn sie sich alle erfüllten, wenn also das Dreiklassenwahlsystem wirklich gesprengt würde, sobald sich die Arbeiter an den preußischen Landtagswahlen beteiligten, so wäre damit noch lange nicht gesagt, dass ein Wahlrecht nachkäme, das den Arbeitern größere Rechte einräumte als das Dreiklassensystem. Gerade jetzt zeigen ja die Vorgänge in mehr als einem süddeutschen Staate, wie unmöglich unter der heutigen Klassenherrschaft eine Wahlrechtsreform ist, die dem Proletariat jemals gestatten würde, aus einer hoffnungslosen Minderheit herauszukommen. Freilich zeigen sie auch, speziell in Bayern, dass die früher in der Partei herrschende Anschauung genau auf den Kopf gestellt werden kann, durch die Annahme der bekannten Resolution1, die etwa 150.000 Wählern das Wahlrecht nimmt, aber der sozialdemokratischen Landtagsfraktion vier oder fünf Sitze mehr verheißt.

Um diese Überschätzung des bürgerlichen Parlamentarismus zu kurieren, ist nun die für den Reichstag geplante Beschränkung der Redezeit ganz geeignet. Man kann auch von seinen Todfeinden lernen, und wenn die Brotwucherer den parlamentarischen Vertretern der Arbeiterklasse im Reichstag das Wort abschneiden, so weisen sie damit selbst auf die Notwendigkeit hin, außerhalb des Reichstags desto nachdrücklicher gegen ihre verderblichen Pläne zu agitieren. Dies ist die wirkliche Moral, die aus der für die sozialdemokratische Fraktion des Reichstags geplanten Beschränkung der Redezeit gezogen werden muss.

Selbst das englische Parlament, das doch eine ganz andere Einsicht und eine ganz andere Macht repräsentiert als das deutsche, ist zu allen wirklich durchgreifenden und namentlich zu allen, den arbeitenden Klassen heilsamen Reformen nur durch den „Druck von außen" getrieben worden. So zur Reformbill im Jahre 1832, so zur Aufhebung der Korngesetze und zur Einführung der Zehnstundenbill in den vierziger Jahren. In der parlamentarischen Sprache der englischen Nation ist der „Druck von außen" längst ein durchaus gebräuchlicher Begriff geworden, und die Brotwucherer sind nur ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, wenn sie durch ihren neuesten Gewaltstreich die deutsche Arbeiterklasse auf deren mächtigste Waffe hinweisen.

1 Bei der Debatte über die Ersetzung der indirekten durch die direkte Wahl stimmten die bayrischen Sozialdemokraten der Zumutung zu, bei direkter Wahl das Wahlalter von 21 Jahren auf 25 Jahre heraufzusetzen. Diese „frivole Haltung" (August Bebel) war der Auftakt zu Vollmars revisionistischem Vorstoß in der so genannten Vizepräsidentenfrage.

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