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Franz Mehring 19021112 Der entscheidende Punkt

Franz Mehring: Der entscheidende Punkt

12. November 1902

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 193-196. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 504-508]

Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht; dies alte, hausbackene Sprichwort enthält einen beträchtlichen Fond politischer Weisheit. Angewandt auf den Klassenkampf heißt es, dass, so klar sich herrschende Klassen über ihre Interessen zu sein pflegen, diese Klarheit in dem Maße verschwindet, worin sich die historische Abwirtschaftung einer herrschenden Klasse vollzieht. Beginnt solch eine Klasse gegen ihr handgreiflich klares Interesse zu handeln, so verrät sie damit selbst, dass ihr Los unwiderruflich besiegelt ist.

Das ostelbische Junkertum war zum Untergang verurteilt, sobald die große Industrie ihren Siegeszug durch die deutschen Lande zu halten begann. Aber es hat zähe um sein Dasein gerungen und sich den Besitz der entscheidenden politischen Machtmittel zu sichern gewusst, lange über die Zeit hinaus, wo sich der Schwerpunkt der ökonomischen Produktionsweise vom Acker in die Fabrik verschob. An politischem Blick erwies es sich der Bourgeoisie immer noch weit überlegen, als diese ihm längst im Nerv der Dinge überlegen war; wie oft haben wir in den letzten Jahrzehnten erlebt, dass die Junker ihr Spiel gewannen, so keck und verwegen es war, und so leicht es zu sein schien, ihre Trümpfe abzustechen.

Nun aber haben sie sich doch einmal gründlich verrechnet, und zwar in einer Weise verrechnet, die deutlich zeigt, dass sie nicht mehr jenen klaren Blick für ihr Interesse haben, der zu den notwendigsten Eigenschaften einer herrschenden Klasse gehört. Sie haben verkannt, dass, was ihnen der Reichskanzler in dem Zolltarifentwurf bot, das Äußerste war, was ihnen die Regierung eines großindustriellen Landes überhaupt noch bieten konnte, und dass sie mit allen Händen zugreifen mussten, wenn sie sich diese überreiche, unverdiente und ungerechte Spende sichern wollten. Gewohnt, die Regierung als ihren Hausknecht zu behandeln, haben sie ihr in der alten übermütigen Weise mitgespielt, haben sie gedroht und gepocht und geprahlt, bis sie erkennen mussten, dass sie diesmal mit ihren dicken und harten Köpfen an eine Mauer gerannt waren, die sich nicht erschüttern ließ, aus dem einfachen Grunde nicht, weil keine Regierung eines großindustriellen Staates auf Gnade und Ungnade vor einer Klasse vom Schlage des ostelbischen Junkertums kapitulieren kann.

Sie selbst möchten jetzt gern den Grafen Bülow als Sündenbock in die Wüste schicken, und es ist gewiss nicht zu bestreiten, dass dieser „landwirtschaftliche" Reichskanzler an seinem Teil den Wahn der Junker genährt hat, dass sie der gegenwärtigen Regierung schließlich alles bieten konnten. Immerhin hat er ihnen aber nie irgendeine Aussicht gemacht, die Agrarzölle über die in dem Zolltarifentwurf vorgesehenen Sätze zu steigern, und im Übrigen kommt es hierauf auch gar nicht an. Wie weit sie in ihrem Interesse gehen kann oder nicht, das weiß eben jede Klasse selbst, solange ihr Verfall noch nicht begonnen oder doch einen gewissen Höhegrad noch nicht überschritten hat. In diesem Falle haben die Junker den richtigen Zeitpunkt vollkommen verpasst. Hätten sie vor Jahr und Tag unbedenklich zugegriffen, so hätten sie einen großen Fischzug hereingebracht; sie haben aber die kostbare Zeit in unpraktischer Weise vertrödelt, und nachdem sie sich nun endlich entschlossen haben, zu nehmen, was sie bekommen können, da heißt es: zu spät!

Allerdings – stände ihnen nur eine bürgerliche Opposition gegenüber, dann sähe ihre Sache noch immer nicht hoffnungslos aus. Herr Eugen Richter und seine Mannen befolgen in den parlamentarischen Kämpfen um den Zolltarif eine Taktik, wie man sie nicht für möglich halten sollte. Es sieht ganz darnach aus, als ob ihnen die Annahme des Zolltarifentwurfes mit Haut und Haaren viel weniger abschreckend sei als die Aussicht, dass die nächsten Wahlen um den Zolltarif gekämpft werden sollen. Es ist gewiss kein Geheimnis, dass einer so durch und durch kapitalistischen Sippe, wie die um Herrn Eugen Richter sind, die Auspowerung der Volksmassen eine vollkommen gleichgültige Sache ist, aber der Senkung des Kapitalprofits durch hohe Fleisch- und Getreidepreise pflegte sie sich sonst doch „voll und ganz" entgegenzustellen, während sie sich jetzt darauf beschränkt, ihren Widerstand nur zu markieren und etwas geheimnisvolle Andeutungen in den Bart zu murmeln über einen Plan zur Besiegung der Brotwucherer, den Herr Eugen Richter, wie weiland Trochu, in der Tasche habe. Anscheinend erklärt sich die zweideutige Haltung der freisinnigen Volkspartei daraus, dass sie überhaupt nicht mehr auf ihren zwei Beinen, sondern auf Stichwahlkrücken steht, die ihr kein freies Ausschreiten gestatten und sie namentlich zum Liebäugeln mit den Ultramontanen zwingen. Aber ob dem nun so oder anders sei, um diese Opposition brauchten sich die Brotwucherer keine grauen Haare wachsen zu lassen und ebenso wenig um die Opposition des anderen freisinnigen Flügels, der zwar konsequenter und mutiger handelt, aber ziffernmäßig noch weniger bedeutet als die Freisinnige Volkspartei.

Die eigentliche Phalanx, auf die der Gewalthaufe der Brotwucherer stößt, ist die sozialdemokratische Fraktion, und diese Phalanx ist vollkommen unerschütterlich. Sie verschwendet ihr Pulver nicht vorzeitig, und es fällt ihr gar nicht ein, ihre Waffen in einer Weise zu gebrauchen, die dem leichtgläubigen Philister als „frivol" denunziert werden könnte. Genau nach dem Tempo des Angriffs bemisst sie ihre Verteidigung, und sie ist durchaus zu keiner Überstürzung veranlasst, da, dank den junkerlichen Missgriffen, die ganze Angelegenheit so verfahren ist, dass eine durchaus ruhige und sachliche Beratung des Zolltarifentwurfs vollkommen genügt, ihn zum Scheitern und die Entscheidung vor die Wähler zu bringen.

Das erste Anrennen gegen die sozialdemokratische Phalanx hat die Brotwucherer bereits so nervös gemacht, dass sie ihrerseits darauf sinnen, eine capitis diminutio1 des bürgerlichen Parlamentarismus zu vollziehen. In dem Antrag Aichbichler sind sie mit einem ersten Attentat auf die Geschäftsordnung des Reichstags ans Tageslicht gekommen, jedoch diese Aktion liefert nur einen neuen Beweis dafür, dass die braven Junker gänzlich aus ihrem historischen Konzept gekommen sind. Der Antrag verrät nichts mehr von ihrer alten, dreisten und gottesfürchtigen Art. Er ist nicht Fisch und nicht Fleisch; er bekundet den bösen Willen, aber vollbringt nicht die böse Tat; gelänge es wirklich, ihn durchzudrücken, so würde er den Brotwucherern lange nicht so viel an Zeit ersparen, wie seine Beratung ihnen an Zeit kosten würde. In der Presse der Brotwucherer selbst wird der Antrag vielfach als eine Missgeburt betrachtet, als ein Zeugnis viel mehr für die Verlegenheit, als für die Entschlossenheit der agrarischen Reichstagsmehrheit.

Woher sollte sie diese Entschlossenheit auch nehmen? Sie möchte jetzt gern zurück auf die „mittlere Linie" des Grafen Bülow, aber mit ihren großen Redensarten über die gänzliche Unzulänglichkeit des Regierungsentwurfes hat sie sich selbst den geraden Rückzug versperrt. Sie muss langsam lavieren und weitläufig manövrieren, um an ihr Ziel zu gelangen, und einstweilen hat sie sich durch ihre Beschlüsse in zweiter Lesung noch in einen unverhüllten Gegensatz zur Regierung gesetzt. Solange sie bei den Beschlüssen beharrt, die der Reichskanzler wiederholt, und diesmal zweifellos in allem Ernste, für unannehmbar erklärt hat, ist die fernere Beratung des Zolltarifentwurfes überhaupt eine leere Komödie, um deren Fortsetzung willen es sich wahrlich nicht verlohnt, selbst nicht in den Augen derer, die nicht alle werden, ein Atom an der Geschäftsordnung zu ändern.

Die erste Bedingung, um den großen Fischzug auf Kosten der arbeitenden Klassen vielleicht doch noch aufs bergende Ufer zu bringen, wäre die Herstellung einer sicheren Mehrheit, die sich entschlösse, den Entwurf so anzunehmen, wie ihn die Regierung präsentiert. Die zweite Bedingung wäre dann, die Mehrheit beieinander zu halten, bis der Entwurf die zweite und dritte Lesung passiert hat. Solange diese beiden Bedingungen nicht gesichert sind, helfen alle Änderungen der Geschäftsordnung nichts, und wären sie auch noch viel einschneidender als der Antrag Aichbichler. Ein beschlussfähiges Haus ist aber ohne Diäten auf Monate nicht zusammenzuhalten, und auf Diäten ist nicht zu rechnen, wie überhaupt nicht auf irgendwelche Hilfe der Regierung, die den von ihrem Standpunkt aus gar nicht so üblen Instinkt hat, sich zu Ehren der Brotwucherer nicht noch mehr zu kompromittieren, als sie schon getan hat. Ist keine Möglichkeit gegeben, ein beschlussfähiges Haus auf längere Dauer beisammen zu halten, so hat ein Umfall auf die „mittlere Linie" freilich seine großen Bedenken für die Brotwucherer. Sie können ihn nur riskieren unter unbedingter Sicherheit des Erfolges; würden sie alle ihre heroischen Positionen aufgeben und die Felle schwämmen ihnen dann doch davon, so wären sie bis auf die Knochen blamiert, und ihre Aussichten für die nächsten Wahlen würden gewaltig zusammenschrumpfen.

Genug, es hat vielleicht niemals eine so verfahrene Situation in einem Parlament gegeben, wie die ist, in der die agrarische Reichstagsmehrheit steckt. Das wirkt natürlich sehr verstörend auf die Laune der „maßgebenden" Partei, und die ultramontane Presse zetert über die so genannte „sozialdemokratische Obstruktion" noch mehr als die Presse des ostelbischen Junkertums. In der Tat würde das Scheitern des Zolltarifs auch die wohltätige Folge haben, der parlamentarischen Vorherrschaft des Zentrums einen Schlag zu versetzen, den sie schwer verwinden könnte. Wenn sie nicht einmal einen so profitablen Kuhhandel fertig bringen, wie er durch den Zolltarifentwurf der Regierung eingeleitet war, was haben die großen Staatsmänner Spahn und Konsorten dann überhaupt noch für eine politische Existenzberechtigung?

Kein Zweifel, dass sie alle ihre Mogelkünste aufbieten werden, um den Brotwucher zu retten, ehe die Reichstagswahlen des nächsten Jahres mit einem energischen Quos ego! dazwischenfahren. Die agrarische Mehrheit des Reichstags weiß, dass die Wähler fürchterliche Musterung unter ihr halten werden; sie kann nur noch über einen Abend verfügen, und sie wird alles daran setzen, diesen Abend auszunutzen. Man wird gut tun, noch auf alle möglichen Teufeleien von ihr gefasst zu sein. Aber es ist keine Kombination mehr denkbar, die nicht von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion durchkreuzt werden könnte, und das ist der entscheidende Punkt der augenblicklichen Situation.

Indem die preußischen Junker vor die Klinge der deutschen Arbeiter kommen, treffen sie endlich auf den Gegner, der ihnen überlegen ist. Von ihm haben sie keine Schonung zu erwarten; und der Sieg in diesem Kampfe ist so zweifellos, wie das großindustrielle Deutschland ohne das moderne Proletariat nicht einen Tag bestehen könnte, während seine Entwicklung nicht einmal eine Sekunde durch das spurlose Verschwinden des Junkertums vom Erdboden aufgehalten werden würde. Deshalb mag der Kampf noch langwierig und schwierig genug sein, aber die allzu lange Stockung unserer inneren Zustände wird endlich in frischen Fluss kommen, wenn die agrarische Mehrheit des Reichstags mit all ihren krampfhaften Bemühungen an dem Widerstand der sozialdemokratischen Minderheit zerschellt und diese dann mit siegreich wehenden Fahnen in die nächste Wahlschlacht marschieren kann, um die breitesten Massen des Volkes gegen die brotwucherischen Volksverwüster aufzustürmen.

1 capitis diminutio (lat.) - das römische Recht formuliert den Verlust der Freiheits-, Bürger- und Familienrechte als „deminutio capitis" - maxima, media oder minima - (caput = das Haupt, der Kopf; deminution "= Schmälerung, Verminderung). Mehring benutzt hier den juristischen Begriff abgewandelt, indem er statt „deminutio" (Verminderung) schärfer „diminutio" (Vernichtung, Zerschmetterung) formuliert, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Agrarier auf die völlige und gewaltsame Vernichtung des bürgerlichen Parlamentarismus sannen.

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