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Franz Mehring 19020423 Ein dunkler Maitag

Franz Mehring: Ein dunkler Maitag

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 97-101. Nach Schriften, Band 14, S. 464-468, auszugsweise in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke Band 4, 1925, S. 344-346]

Vielleicht über keine Erscheinung, die aus dem Emanzipationskampf des modernen Proletariats erwachsen ist, gehen die Meinungen so weit auseinander wie über das internationale Maifest. Während die einen darin eine scharfe und wuchtige Waffe sehen, sind die anderen in ihren Ansprüchen an den Maitag viel bescheidener; für sie ist er kaum mehr als ein erfrischender und erquickender Erholungstag, sozusagen eine große Familienfeier oder gar nur ein gemütliches Kaffeekränzchen der Arbeiterklasse.

Es hieße mit einer bürgerlichen Trivialität aufwarten, wenn man sagen wollte, dass die Wahrheit in der Mitte läge. Vielmehr kann der Maitag das eine oder das andere oder auch ein mittleres zwischen diesen Extremen sein, je nach Ort und Zeit und Umständen, von denen er ebenso abhängig ist wie jede andere politische Kundgebung. Es ist bekannt genug, dass er für die Arbeiterklasse des einen Landes eine viel größere Bedeutung haben kann und hat als für die Arbeiterklasse des anderen Landes, aber auch für dasselbe nationale Proletariat wechselt seine Art und sein Wesen, je nachdem die Zeiten wechseln. „Begeisterung ist keine Heringsware, die man einpökelt auf lange Jahre", hat schon Goethe gesagt; nichts natürlicher und unvermeidlicher, als dass die Wiederkehr des Maifestes nicht immer die gleiche Begeisterung weckt, dass der Festtag der Arbeit das eine Mal mit wuchtigerem Schritte auftritt und sich's das andere Mal bequemer macht.

Nach einem anderen Worte Goethes ist nichts so schwer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen, und vielleicht haben die verhältnismäßig langen Jahre des industriellen Aufschwunges das Maifest ein wenig in der Richtung beeinflusst, dass es mit einigem Scheine von Recht als ein gemütliches Familienfest aufgefasst werden konnte. In diesem Jahre aber steigt es in dunklen Schatten empor, und mehr denn je werden die deutschen Arbeiter auf seine historische Bedeutung hingedrängt. Auf ihnen lastet die verheerende Wucht einer Weltmarktkrisis, und wenn sonst solche Ungewitter die revolutionäre Kraft der internationalen Arbeiterbewegung auszulösen pflegen, so ist zwar diese Wirkung an sich nicht ausgeblieben, aber der erste Ausbruch jener revolutionären Kraft hat mit einer traurigen Niederlage des Proletariats geendet, mit einer traurigen, weil selbstverschuldeten Niederlage, die ihre verdunkelnden Schatten auf dies Maifest werfen wird, überall wo sich moderne Arbeiter zu seiner Feier versammeln.

Wenn wir vor acht Tagen an dieser Stelle die Befürchtung aussprachen, dass sich für die belgischen Arbeiter das anscheinend gefahrlosere Spiel der liberalen Zwischenträger gefährlicher erweisen werde als die gewaltsamen Methoden der ultramontanen Reaktion, aber die Hoffnung hinzufügten, dass die liberalen Zwischenträger in dem einmal entbrannten Kampfe fortgefegt werden würden, so hat sich nur unsere Befürchtung, nicht jedoch auch unsere Hoffnung erfüllt. Unsere belgischen Genossen oder vielmehr ihre Führer haben sich von den süßen Reden der liberalen Heuchler betören lassen; sie haben das unerbauliche Schauspiel gegeben, innerhalb hundert Stunden den Generalstreik erst zu kommandieren und dann abzukommandieren. Alle tönenden Redensarten, dass damit der Sieg im Kampfe ums allgemeine und gleiche Wahlrecht zwar aufgeschoben, aber nicht aufgehoben sei, ändern durchaus nichts an dem peinlichen Charakter eines Misserfolges, wie er in gleicher Weise mindestens seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, seit dem Wirken der Internationalen Arbeiterassoziation, nicht mehr in den Jahrbüchern des kämpfenden Proletariats verzeichnet worden ist.

Sicherlich hat die Arbeiterklasse schon viel schwerere und viel verhängnisvollere Niederlagen erlitten; in dieser Beziehung sind wir weit entfernt davon, die Vorgänge in Belgien irgendwie zu überschätzen. Entscheidende Schlachten des proletarischen Emanzipationskampfes können und werden auf dem engen Boden dieses kleinen Landes gewiss nicht geschlagen werden; ob die belgischen Genossen das gleiche Wahlrecht jetzt oder erst in Jahren oder selbst überhaupt nickt erlangen, das ändert an dem großen Gange der Dinge wenig. Aber Niederlagen und Niederlagen sind für die Arbeiterklasse ganz verschiedene Dinge, je nachdem die Schlacht ehrlich und rechtschaffen ausgeschlagen oder vorzeitig in kurzsichtiger Verblendung abgebrochen worden ist; jene Niederlagen stärken die unterlegenen Kämpfer und machen sie tüchtig für künftige Siege, diese entnerven und lähmen und zerrütten auf lange Zeit die ganze Arbeiterbewegung.

In dieser Beziehung darf man die belgischen Vorgänge denn auch nicht unterschätzen und sich am wenigsten an ihrer Kritik mit der Redensart vorbeidrücken, der Takt gebiete, sich nicht in die Angelegenheit einer Schwesterpartei zu mischen. Nicht nur haben die belgischen Arbeiterführer die Unterstützung aller europäischen Arbeiterführer für ihren Kampf angesprochen, was natürlich ihre Pflicht wie ihr Recht war, wenn sie diesen Kampf siegreich durchzuführen beabsichtigten, sondern ihre ganze verfehlte Taktik – und das mag man ihren Personen zur Entlastung anrechnen – ist keineswegs ein spezifisch belgisches, sondern ein europäisches Übel. Das Streben, mit der alten, ehrlichen, revolutionären Taktik des klassenbewussten Proletariats zu brechen, mit jener Taktik, die einzig und allein die Emanzipationsinteressen der Arbeiterklasse im Auge hat und die keinen Augenblick vergisst, dass sie sonst auf der weiten Welt nur offene Feinde und falsche Freunde besitzt, das Streben, statt dieser Taktik mit aller möglichen Menschheit zu mogeln, auf die Ehrlichkeit und das Wohlwollen der Liberalen zu vertrauen und aus diskreter Entfernung mit leibhaftigen Fürsten sanfte Liebesblicke oder gar Händedrücke zu tauschen, dies Streben behindert mehr oder minder alle europäischen Arbeiterparteien, und deshalb hat es in Brüssel ganz logischer- und verdienterweise mit einer europäischen Blamage geendet.

Es ist auch ganz logisch und ganz verdient, wenn jetzt die Organe desselben Liberalismus, um dessentwillen die belgischen Arbeiterführer den Feldzug um das allgemeine und gleiche Wahlrecht verfahren haben, am lautesten über die „enorme Niederlage" der belgischen Sozialdemokratie lärmen. Wir sehen keineswegs einen Vorzug darin, dass die Tatsache dieser Niederlage aus der Welt geschafft werden soll mit rednerischen Künsten, die nur beweisen, dass, wenn man einmal mit dem liberalen A angefangen hat, sich nun auch bis zum liberalen Z durchbuchstabieren muss. Ein Spezialberichterstatter einiger Parteiblätter, der die belgischen Arbeiterführer als „herrliche Menschen" geschildert hatte, in einem Stil, der bisher in der Parteipresse als unbeneidete Eigentümlichkeit des „Berliner Tageblattes" und „Lokalanzeigers" zu gelten pflegte, war nun auch ausersehen, die Gründe ihrer Taktik „nach eingehenden Unterredungen" zu offenbaren. Er argumentierte so: Es wäre sehr leicht gewesen, einen „Bürgerkrieg" – dies ist nämlich der „staatsmännische" Ausdruck für Revolution – zu entfesseln und den König von Belgien zu verjagen. Aber dann hätte man mehr als das allgemeine und gleiche Stimmrecht erreicht, und dies Mehr wäre vom Übel gewesen. Denn „entfesselt man ihn", nämlich den „Bürgerkrieg", „so kann nur die Errichtung der sozialen Republik sein Ziel sein. Aber dazu erachten die einsichtigen belgischen Genossen, die ein ausgeprägtes Verantwortlichkeitsgefühl besitzen, das dortige Proletariat noch nicht reif." Zudem aber würde, im Falle der König von Belgien daran glauben müsste, eine ausländische militärische Intervention wahrscheinlich, wenn nicht sicher sein, und die Bajonette der Preußen und Franzosen würden das belgische Proletariat über den Haufen rennen. Also muss das Proletariat auf den Generalstreik zur Eroberung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes verzichten, denn der Generalstreik könnte gar zu leicht dazu führen, den „Bürgerkrieg" mit all jenen verhängnisvollen Folgen zu entfesseln.

Man findet diesen Galimathias in der Nummer des „Vorwärts" vom 23. April d. J., wobei wir jedoch bemerken wollen, dass sich die Redaktion unseres Zentralorgans ausdrücklich dagegen verwahrt. Kulturhistorisch ist er aber als proletarische Kundgebung aus dem Jahre 1902 von einem gewissen Interesse, denn man findet hier alle „staatsmännischen" Gesichtspunkte der liberalen Märzminister aus dem Jahre 1848 wieder: die schönen Worte von der Revolution, die ehrerbietig an den Stufen des Thrones stehen bleibt, von der sozialen Republik, die fix und fertig ist, wenn irgendeine armselige monarchische Null zum Lande hinaus spediert wird, von den „einsichtigen" Staatsmännern, die, von ihrem „Verantwortlichkeitsgefühl" beseelt, das Volk für noch „nicht reif" halten, um die Freiheit zu genießen, endlich von dem ausländischen Habicht, der das einheimische Küchlein Freiheit zerfleischen wird, wenn es ein wenig zu piepsen wagen sollte. In dieser famosen Darstellung schwillt König Leopold zu einer Art vorsintflutlichem Mammut auf: Er verkörpert in sich die ganze bürgerliche Gesellschaft, die mit ihm spurlos vom Schauplatz verschwindet, und er ist ein so kostbarer Träger des monarchischen Berufs, dass um seiner Restauration willen selbst nicht einmal die französische Republik den Weltkrieg scheut, der mit einer militärischen Besetzung des neutralen Belgiens verbunden wäre.

Auf ganz gleichen Ton mit diesem Spezialberichterstatter einiger deutschen Parteiblätter ist der „Peuple" gestimmt, das Brüsseler Parteiorgan, das noch am vorigen Sonnabend mit äußerster Energie für den Generalstreik eintrat und schon zwei Tage darauf, nämlich am Montag, mit gleicher Energie die Fahne des Rückzugs schwenkte. Auch ihm hat es der König Leopold angetan: „Der König wird sich nicht bis zum Äußersten mit dieser Erwürgungspolitik solidarisch erklären." Freilich gehört es zum Wesen einer so tiefsinnigen Politik, dass ihr alle Dinge zum Besten dienen müssen, und in der Hauptsache demonstrieren der „Peuple" und der Spezialberichterstatter allerdings aus den genau entgegengesetzten Gesichtspunkten. Während dieser erklärt, es müsse rückwärts marschiert werden, weil sonst das Königtum aus purem Überschuss an Kraft sozusagen beiläufig über den Haufen gerannt werden könne, begründet der „Peuple" den Rückmarsch vielmehr wie folgt: „Die Arbeiter werden begreifen, dass es unsere gebieterische und heilige Pflicht ist, von ihnen kein unnützes Opfer zu verlangen von dem Augenblick an, wo die Regierung gezeigt hat, dass sie vollkommen entschlossen war, nichts zu bewilligen, und sich von diesem Entschluss weder durch das Elend des Volkes noch durch blutige Opfer abbringen zu lassen." Der eine marschiert rückwärts, um die Regierung nicht versehentlich über den Haufen zu rennen, der andere marschiert rückwärts, weil die Regierung mit aller Gewalt nicht über den Haufen gerannt werden kann, aber was kommt es viel auf die Gründe an, wenn doch einmal rückwärts marschiert werden soll?

Der einzige Trost an der trostlosen Affäre war die Haltung des belgischen Proletariats, das, voll revolutionärer Energie zu jeder Kraftanstrengung und jedem Opfer bereit, sein Spiel allein durch die falsche Taktik seiner Führer verloren hat. Irgendeinen bösen Willen haben diese Führer gewiss auch nicht gehabt, aber die edle Absicht entschuldigt in der Politik nicht den Misserfolg, und gerade wenn die falsche Taktik, die in Belgien zu einer so empfindlichen und peinlichen Niederlage geführt hat, aus lauteren Beweggründen getrieben worden ist, muss sie um so rücksichtsloser bekämpft werden. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, und die belgische Kampagne ums Wahlrecht hat zur Genüge gezeigt, welche Früchte der „Opportunismus" oder der „Revisionismus" zeugt oder wie sich die berühmte Methode sonst noch nennen mag, die dadurch am schnellsten vorwärts zu kommen glaubt, dass sie die Pferde hinter den Wagen spannt.

So fällt manch dunkler Schatten auf das Maifest dieses Jahres, aber deshalb soll es uns nicht schlechter sein. Im Gegenteil, um so mehr wird es vor der Gefahr gedankenloser Zerstreuung geschützt sein, um so wirksamer wird es demonstrieren nicht nur für den Achtstundentag, nicht nur gegen den Militarismus, sondern auch für die alte, ehrliche, revolutionäre Taktik, die mit niemandem liebäugelt, um stets das ausschließliche Interesse des Proletariats im Auge zu behalten, die der Partei noch immer durch das raueste Gelände geholfen hat, während die scheinbar grünenden Wiesen der Kompromisse sich allemal als die schillernden Decken unergründlicher Sümpfe erwiesen haben und erweisen.

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