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Franz Mehring 19020212 Ein parlamentarisches Canossa

Franz Mehring: Ein parlamentarisches Canossa

12. Februar 1902

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Erster Band, S. 609-612. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 448-452]

Unsere vor acht Tagen an dieser Stelle geäußerten Zweifel, ob der Reichstag seine Rechte gegenüber dem Erlass des Herrn v. Tirpitz wahren werde, haben sich in vollem Maße bestätigt; ja es ist uns wirklich gelungen, eine nicht ganz leichte Aufgabe zu lösen und den deutschen Parlamentarismus noch zu überschätzen. Wenn wir die Möglichkeit zuließen, dass die ultramontanen Staatsmänner wenigstens donnernde Reden gegen den in erster Reihe ihnen gespielten Possen vom Stapel lassen würden, so sind sie im Gegenteil, und mit ihnen fast die ganze übrige Staatsmannschaft der bürgerlichen Parteien, bemüht gewesen, mit flammenden Reden den Backenstreich abzuleugnen, den man auf ihren Wangen flammen sah. Die einzige Ausnahme bildete Herr Eugen Richter, der dadurch in die tragikomische Lage geriet, als Verteidiger des Etatsrechtes nun dieselbe Sozialdemokratie neben sich zu haben, von der seine manchesterliche Weisheit so unzählige Male bewiesen hat, dass sie von der Polizei erfunden worden sei, um die edlen Ritter und ehernen Gestalten des bürgerlichen Liberalismus lahm zu legen.

Was dies parlamentarische Canossa veranlasste, ist ein offenes Geheimnis; Herr Barth hat es sogar in den Verhandlungen über den Erlass des Marinestaatssekretärs aller Welt offenbart. Er meinte, Herr v. Tirpitz sei in Sachen der uferlosen Flottenpläne nicht der Treibende, sondern der Bremsende; mit anderen Worten: Gemäß dem höfischen und parlamentarischen Kulissenklatsch will der Kaiser noch viel mehr Schiffe bauen als Herr v. Tirpitz, mag dieser auch mehr Schiffe bauen wollen, als der Reichstag bauen will. Also wenn der Reichstag Herrn v. Tirpitz verleugnet, weil dieser die Rechte des Reichstags mit souveräner Nichtachtung behandelt hat, so kommt ein anderer an seine Stelle, der mit den Rechten des Reichstags noch viel souveräner umspringen wird. Aus diesem moralisch und politisch gleich erhebendem Grunde stürzten die Führer aller bürgerlichen Parteien, mit jener einzigen Ausnahme, zu den Füßen des Marinestaatssekretärs und quittierten dankend den moderierten Fußtritt, den sie von ihm empfangen hatten, rein aus staatsmännischer Fürsorge um die ungemessenen Fußtritte, die sie von seinem Nachfolger empfangen könnten. Eine überwältigendere Apotheose hat noch nie ein Angeklagter erhalten, der auf der Armensünderbank saß und selbst seine Sache nur mit Stottern und Zagen zu führen wagte; die Mohrenwäsche, die den eifrigsten Offiziösen des Marineamtes misslungen war, vollbrachten die Führer der parlamentarischen Opposition spielend und im Handumdrehen.

Die Taktik selbst ist nicht neu, ja im Wesen der Sache ist sie dieselbe Taktik, durch die der deutsche Reichstag seit dem Tage seiner Geburt sein armes Leben hingeschleppt hat. Man gab allemal der Regierung nach, aus Angst vor einem Konflikt mit ihr. Zwar wurde die Regierung dadurch nur immer dreister, aber je dreister sie wurde, um so mehr gab der Reichstag nach. Bei dieser Schraube ohne Ende geht schließlich die Scham vor die Hunde, und wenn die Taktik selbst nichts Neues war, so hatte diese ihre letzte Probe allerdings auch für den Kenner des deutschen Parlamentarismus etwas Verblüffendes. Der Scheinkonstitutionalismus hat ebendaher seinen Namen, dass er wenigstens den Schein aufrechtzuerhalten sucht, als sei er Konstitutionalismus, aber in dem Falle Tirpitz ist sogar dieser Schein sans façon preisgegeben worden. Die Krone fragt nie nach dem Willen des Parlaments, aber das Parlament fragt immer nach dem Willen der Krone, und nicht einmal nur nach ihrem Willen, sondern nach ihren Ahnungen, Stimmungen, Wallungen. Als vor Jahren irgendein Raubstaat mit einer konstitutionellen Verfassung beglückt wurde, drängten sich die neu erwählten Volksvertreter wie eine ängstliche und verschüchterte Hammelherde auf der rechten Seite des Saales zusammen, weil sie den bisher absoluten Oberherrn dadurch zu reizen fürchteten, dass sie sich auf den Bänken der linken Seite niederließen. Diese Schnurre, die dazumal durch die Blätter ging, ist von dem deutschen Reichstag im vierten Jahrzehnt seiner Existenz in die Region hoher Politik erhoben worden.

Natürlich wird für diese so lächerliche wie verächtliche Taktik die ganze Fülle tiefsinniger Argumente aufgeboten, über die schon der Bediente Karl Buttervogel gebot. Ist es nicht praktische Politik, das Schlimmste durch das weniger Schlimme abzuwenden? Soll man die Krone reizen, jetzt wo sie gerade sich anschickt, ihre Ungnade den agrarischen Brotwucherern zuzuwenden? Und so mit Grazie ins Endlose. Schade um jedes Wort, das an diese echte Bedientenlogik verschwendet würde! Es ist die Sache der Lakaien, die Launen ihres Gebieters abzulauschen, aber es ist nicht die Sache eines Parlaments, seine Politik danach einzurichten, was die Krone dazu sagen dürfte, könnte, möchte oder würde. Man stelle sich einmal vor, was aus der Geschichte der modernen Zivilisation geworden wäre, wenn sich die englische Volksvertretung einem Karl I. und die französische Volksvertretung einem Ludwig XVI. gegenüber auf diesen Standpunkt gestellt hätte. Man mag einwenden, dass der heutige Absolutismus ein ganz anderer sei, als der Absolutismus eines Karls I. oder Ludwigs XVI. war. Das ist ganz richtig, nur dass der Unterschied nicht dem heutigen Parlamentarismus zugute kommt. Ganz im Gegenteil! Der Absolutismus eines Karls I oder Ludwigs XVI. hatte historisch immerhin noch etwas hinter sich, während der heutige Absolutismus nur durch die nichtsnutzige Feigheit des heutigen Parlamentarismus besteht. Es ist ein beschämendes, ein historisch niederschmetterndes Schauspiel, dass in einem Lande, wo die moderne Industrie so hoch entwickelt ist, wie in Deutschland, die auf Grund des allgemeinen Stimmrechts gewählten Volksvertreter sich aufs Abhorchen der Schlosstüren verlegen, wie es nur je die Höflinge eines Karls I. und eines Ludwigs XVI. getan haben.

Selbstverständlich ist es auch die reine Illusion, wenn sie sich einbilden, durch ihre würdelose Nachgiebigkeit in Sachen der uferlosen Flottenpläne die Krone gegen den agrarischen Brotwucher scharfzumachen. Wodurch ist denn die Krone, die noch vor einigen Jahren selbst das Stichwort des „Brotwuchers" prägte, nicht um der schönen Augen der Liberalen willen, sondern in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse, wodurch ist sie so weit auf die Seite des ostelbischen Junkertums getrieben worden? Doch eben nur dadurch, dass die Junker so dreist und gottesfürchtig waren zu erklären, ihre viel gerühmte Königstreue sei ihnen nicht einen Pfifferling wert, wenn die Krone sich nicht in den Dienst ihrer Klasseninteressen stelle. Nichts abgeschmackter, als wenn die liberalen Blätter über dergleichen brotwucherische Offenherzigkeit mit gesträubtem Haar und entsetzt rollenden Augen berichten, als wenn sie im Gegensatz dazu ihre „wahre Königstreue" wie ein seidenes Tuch herausstreichen. Entweder glaubt ihnen niemand, und das wäre noch der günstigste und für sie ehrenvollste Fall, oder man glaubt ihnen allgemein, und dann dürfen sie sich auch nicht darüber verwundern, wenn die Diener der Krone sich nicht in große Unkosten stürzen für Leute, die sie ein für allemal in der Tasche haben.

Es ist richtig: Auch die Konservative Partei hat sich im Reichstag an dem loyalen Wettrennen vor Herrn v. Tirpitz beteiligt, aber für sie lag die Sache ganz anders als für die Ultramontanen oder gar die Nationalliberalen und die Freisinnigen des rechten Flügels. Die Konservative Partei hat ihre sicheren Stützen am Hofe, im Heere, in der Verwaltung, sie verfügt über die exekutiven Machtmittel des Staates, neben der Krone und oft genug trotz der Krone; für sie ist der parlamentarische Boden nur ein nebensächliches, und keineswegs das hauptsächliche Schlachtfeld wie für die anderen bürgerlichen Parteien. Sie weiß auch hier für ihre Zwecke zu kämpfen, und die berüchtigten Landratskammern der fünfziger Jahre haben den Scheinkonstitutionalismus immerhin ganz anders auszumünzen verstanden, als ihn der deutsche Reichstag in all seiner modernen Herrlichkeit auszumünzen versteht. Aber dass die Junker in einer Volksvertretung, die durch das allgemeine Stimmrecht gewählt ist, niemals die Mehrheit erlangen können, wissen sie recht gut; deshalb passt es in ihren Kram, und sie helfen an ihrem Teile gern mit, wenn der Reichstag politischen Selbstmord treibt, wie in dem Canossaparademarsch vor Herrn v. Tirpitz.

Einstweilen berauschen sich die liberalen Flügelmänner dieses Marsches noch immer in der naiven Hoffnung, durch ihre Diplomatie – eine Diplomatie zum Speien, wie Lassalle in ähnlichen, obschon längst nicht so krassen Fällen zu sagen pflegte – die Regierung in der Zolltariffrage festgemacht zu haben. Graf Bülow hat endlich die ersehnte Erklärung abgegeben, dass der Entwurf der Regierung anzunehmen oder abzulehnen sei, dass die Junker auf keine weiteren Zugeständnisse an ihren brotwucherischen Heißhunger zu rechnen hätten. Es wäre auch töricht, sich durch den Lärm täuschen zu lassen, den inzwischen die Generalversammlung des Bundes der Landwirte über das „schaurig kalte Herz" des Reichskanzlers für ihre heilige Sache erhoben hat. Vielmehr ist der ganze Spektakel im Zirkus Busch diesmal nur eine Kanonade, die den Rückzug der wilden Agrarierjagd auf die Regierungsvorlage decken soll. Was wir darüber vor acht Tagen ausführten, hat sich inzwischen durchaus bestätigt; es ist kein Zweifel mehr möglich, dass Graf Bülow es mit seiner so genannten Absage an die Agrarier ernst meint. Man braucht deshalb keineswegs seine staatsmännische Einsicht zu bewundern; dass ihm diese schöne Eigenschaft vollständig fehlt, beweist schon der Zolltarif, wie er steht und liegt. Aber so viel Verstand gibt dem Reichskanzler sein Amt, um zu erkennen, dass man dem agrarischen Bogen den schlechtesten Dienst leistet, wenn man ihn so lange überspannt, bis er bricht.

Möglich, dass sich Graf Bülow noch dies oder jenes Trinkgeld von den Agrariern abzwacken lässt, aber im Wesentlichen wird der Entwurf der Regierung der eigentliche Feind bleiben. Seine ernsthaften Gegner werden gut tun, diese Tatsache immer im Auge zu behalten, sich durch keine Angstmeierei von dieser und durch keine Großmäuligkeit von jener Seite den entscheidenden Gesichtspunkt verdunkeln zu lassen. Es ist schon Unheil genug dadurch angerichtet worden, dass man sich von den grotesken Selbstporträts hat täuschen lassen, die das edle Junkertum in edler Selbstverleugnung und – in ganz pfiffiger Spekulation von sich selbst an die Wand geworfen hat. Hätten sich die bürgerlichen Fraktionen des Reichstags nicht von den unsinnigen Übertreibungen der agrarischen Demagogie ins Bockshorn jagen lassen, sie wären vielleicht doch nicht in so blamabler Weise vor Herrn Tirpitz zu Kreuze gekrochen.

Indem sich die Krone so weit, wie in der Zolltarifvorlage, von den Junkern zur einseitigen Vertretung der Junkerinteressen hat vortreiben lassen, geht sie schon weit über ihr eigenes wohlverstandenes Interesse hinaus. Sie müsste in der Tat mit der unheilbaren Verblendung der englischen Krone zur Zeit Karls I. oder der französischen Krone zur Zeit Ludwigs XVI. geschlagen sein, wenn sie die agrarischen Forderungen erfüllen wollte, die über den von ihren Dienern ausgearbeiteten Entwurf hinausgehen. Jedes Wort der Anerkennung dafür, dass sie wenigstens an dieser Grenze still hält, ist im Grunde eine blutige Beleidigung für sie, und nur die lang gewohnte Knechtseligkeit der bürgerlichen Reichstagsfraktionen konnte die Illusion erwecken, als sei noch irgendeine Liebedienerei nötig, um die Krone wenigstens bei dieser Stange zu halten.

Aber das wohlverstandene Interesse der Krone ist keineswegs identisch mit dem wohlverstandenen Interesse des Volkes, und wenn die Diener der Krone schon deren eigene Interessen in dem Zolltarifentwurf vernachlässigt haben, so begreift sich leicht, wie völlig gleichgültig ihnen die Interessen der Nation und in erster Reihe der erwerbstätigen Volksklassen dabei gewesen sind. Diese Klassen können nur durch den rücksichtslosesten Kampf zu ihrem Rechte kommen, und sie werden sich über diese sehr einfache Tatsache um so weniger täuschen oder täuschen lassen, als ihre angeborene Spann- und Tatkraft sie ohnehin für solche Canossamärsche unfähig macht, wie die bürgerliche Reichstagsmehrheit eben in der Tirpitziade vollzogen hat.

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