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Franz Mehring 19020618 Etwas über Prinzipienpolitik

Franz Mehring: Etwas über Prinzipienpolitik

18. Juni 1902

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 353-355. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 484-487]

Auf dem bayerischen Parteitag, der dieser Tage in Ludwigshafen stattgefunden hat, ist die Zustimmung der Münchener Landtagsfraktion zu der bekannten Wahlrechtsresolution diskutiert worden. Die Fraktion hat schließlich ein Vertrauensvotum erhalten, allerdings unter Umständen, die einem Pyrrhussieg ziemlich ähnlich sehen. Doch soll darauf nicht näher eingegangen werden, da die Frage in diesen Spalten von Bebel behandelt worden ist, der vermutlich darauf zurückkommen wird. Wir möchten nur eine einzelne Bemerkung eines Redners aufgreifen, die ein über den konkreten Fall hinausgehendes Interesse hat, die Bemerkung nämlich, das Prinzip hochhalten könne jeder, der nichts gelernt habe, dazu gehöre gar nichts. Wir lassen natürlich auch ganz dahingestellt sein, in welchem Zusammenhang und zu welchem Zwecke die Äußerung getan worden ist; wir halten uns nur an sie selbst.

Für den so genannten gesunden Menschenverstand hat sie etwas ungemein Einleuchtendes. Was ist leichter, als ein Prinzip, eine Formel auswendig zu lernen, an ihr die ungemeine Vielgestaltigkeit des Lebens zu messen, überall nein zu sagen, wo sich Ding und Wort nicht decken, und sich dabei im Ruhme eines unerschütterlichen Geistes zu sonnen, der sich nicht einmal bewegt, wenn die Ruinen einer Welt über ihm zusammenstürzen? Es hat ohne Zweifel auch solche Prinzipienpolitiker gegeben; um nur einen sehr bekannten Namen zu nennen, so gehörte Johann Jacoby in den Jahren nach 1866 dazu. Für ihn hörte das historische und politische Verständnis auf, als er die Blut- und Eisenpolitik Bismarcks siegen sah; wie Hebbels Tischlermeister Anton verstand er die Welt nicht mehr; am Prinzip der Freiheit gemessen, taugten diese neuen Zustände ganz und gar nichts, und so verwarf Jacoby sie, in gemessener Feierlichkeit, die dem persönlich so höchst achtbaren und in seinen jungen Jahren auch politisch so verdienten Manne etwas von der Würde eines Propheten gab.

Wenn ihm nun aber seine demokratischen und liberalen Genossen sagten: Ja, alter Freund, Bismarck hat ohne Zweifel großes Unrecht getan, aber deshalb kann doch nicht die Welt stille stehen und können wir doch nicht alle zu Säulenheiligen werden; das Prinzip hochhalten kann jeder dummer Junge, aber eine viel schwerere Kunst ist, sich in die böse Zeit zu schicken und herauszuholen, was sich irgend herausholen lässt – so hatten sie in ihrer Weise allerdings nicht so ganz unrecht. Die nationalliberale Wirtschaft von 1866 bis 1876 war sicherlich keine erhebende und herzstärkende Ära, aber sie hat den deutschen Boden doch von manchem verfallenen Gerümpel befreit und insofern allerdings mehr vor sich gebracht, als Jacobys ohnmächtiger Protest vor sich bringen konnte.

Stände die Frage der Prinzipienpolitik so, wie sie damals zwischen Jacoby und seinen von ihm abfallenden Freunden stand, dann wäre sie allerdings nach der Seite der Intelligenz hin leicht zu entscheiden. Ohne Zweifel gehörte mehr Verstand dazu, auch nur einen Paragraphen der Gewerbeordnung zu entwerfen, die bei aller Unvollkommenheit doch immerhin ein historischer Fortschritt war, als in ziemlich derselben Modulation stets nein zu sagen. Jedoch die Prinzipienpolitik, die heute die Sozialdemokratie treibt, ist eine andere Prinzipienpolitik, als sie Johann Jacoby am Ende seines Lebens trieb. Er selbst hat dafür ein sehr überzeugendes Zeugnis abgelegt. Bekanntlich schloss er sich in seinen letzten Lebensjahren der Sozialdemokratischen Partei an, nicht weil er sich in ihre eigentümlichen Anschauungen eingelebt hatte, sondern um gegen ein Unrecht zu demonstrieren, das ihr zugefügt worden war, gegen die Verurteilung Liebknechts und Bebels im Leipziger Hochverratsprozess. Bei der durchaus berechtigten Verehrung, die sein reiner Charakter unter den Arbeitern genoss, wählten ihn die sozialdemokratischen Wähler von Leipzig-Land in den Reichstag. Aber nun lehnte Jacoby sehr energisch ab, da der Reichstag auf Gewalt und Unrecht beruhe, also in ihm zu sitzen eine Prinzipienwidrigkeit sei, was die Wähler von Leipzig-Land bis heute noch nicht gehindert hat, an dieser Prinzipienwidrigkeit festzuhalten.

Prinzipienpolitik und Prinzipienpolitik sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die eine beruht darauf, dass ihre Bekenner die Welt nicht oder nicht mehr verstehen, dass sie sich an dem Strohhalm einer Formel auf dem brausenden Strome der Zeit oben zu halten suchen. Diese Prinzipienpolitik ist die Sache von Politikern oder Parteien, die von der historischen Entwicklung überholt worden sind. Die andere Prinzipienpolitik beruht gerade umgekehrt auf dem tiefsten Verständnis der historischen Welt; ihr Prinzip ist keine starre Formel, sondern der Ariadnefaden, der durch die unendliche Mannigfaltigkeit des täglich wechselnden Lebens leitet; es ist das klar erkannte Ziel, das über den tausend verwirrenden Erscheinungen des Tages niemals aus den Augen verloren werden darf. Darnach ist klar, dass, wenn jene erste Art der Prinzipienpolitik allerdings keine besonderen geistigen Fähigkeiten, ja geradezu eine gewisse Beschränktheit des Geistes voraussetzt, diese zweite Art das denkbar höchste Maß von Intelligenz erheischt, wie es ihre klassischen Vertreter, wie es Marx, Engels und Lassalle auch besessen haben.

Nicht minder klar ist, dass, wenn in dieser zweiten Art von Prinzipienpolitik Prinzip und Praxis zusammenfallen, weil sich eben in der steten Verfolgung des klar erkannten Ziels, in der steten Praxis das Prinzip verkörpert, zu jener ersten Art die so genannte praktische Politik allerdings im Gegensatz steht, jene Politik, die gänzlich unbekümmert um jede Formel, um jede allgemeinere Auffassung der Dinge nach jedem Vorteil schnappt, den sie aufschnappen kann, gleichviel was daraus wird. Nach der intellektuellen Seite hin steht diese praktische Politik zwischen der ersten und der zweiten Art der Prinzipienpolitik. Allzu beschränkt dürfen ihre Träger nicht sein, denn sonst können sie von der Konkurrenz allzu leicht übers Ohr gehauen werden, aber über eine gewisse Geriebenheit und Pfiffigkeit dürfen sie auch nicht hinausgehen, denn sonst werden sie zu weitsichtig und dadurch untauglich für den plump handgreiflichen Schacher, der das Wesen dieser praktischen Politik ausmacht. Lässt man ihre Hauptvertreter von Lasker in den siebziger bis zu Lieber in den neunziger Jahren einmal Revue passieren, so wird man lauter mittelmäßige Intelligenzen entdecken, oder man wird finden, dass gescheitere Köpfe, die dazwischen laufen, wie Miquel bei den Liberalen und Windthorst bei den Ultramontanen, sofort in den Verdacht geraten, als sei es ihnen nicht biedermännischer Ernst mit der praktischen Politik, als ob sie vielmehr ihren mephistophelischen Spott damit trieben.

Jene zweite Art der Prinzipienpolitik ist es nun, der die deutsche Sozialdemokratie huldigt. Sicherlich treibt sie nicht jeder Sozialdemokrat oder treibt sie vielmehr kein Sozialdemokrat mit der Festigkeit und Klarheit eines Marx, Engels oder Lassalle, aber wie viel man immer im gegebenen Falle an dem subjektiven Verständnis des einzelnen auszusetzen haben mag, so ist doch unbegreiflich, wie man diese Politik objektiv als eine Sache hinstellen kann, zu der gar nichts gehöre, die jeder hochhalten könne, auch wenn er nichts gelernt habe. Unbegreiflich wenigstens an einem sozialdemokratischen Redner. Denn die Gegner der Partei lieben es freilich, sei es aus bösem Willen oder sei es, weil sie es nicht besser verstehen, es so darzustellen, als teile die Sozialdemokratie jene formelhafte Prinzipienpolitik, in der sich historisch überholte Parteien und Politiker gefallen. Allein in der Partei selbst sollten doch richtigere Vorstellungen der eigenen Prinzipienpolitik herrschen, und man sollte hier nicht auf den sonderbaren Irrtum stoßen, dass von unserer Prinzipienpolitik zur so genannten praktischen Politik eine Brücke intellektuellen Fortschritts führe. Die Sache liegt wirklich gerade umgekehrt. Zum Hochhalten des Parteiprinzips gehört schon etwas, und dazu muss man manches gelernt haben, was man gut und gern entbehren kann, wenn man sich auf dem Pferdemarkt versucht, sei es mit Glück oder Unglück.

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