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Franz Mehring 19021203 Neue Kämpfe, neue Siege

Franz Mehring: Neue Kämpfe, neue Siege

3. Dezember 1902

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 289-292. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 513-517]

Die parlamentarisch-politische Situation im Deutschen Reiche spitzt sich mehr und mehr auf jenen „entscheidenden Punkt" zu, den wir vor drei Wochen an dieser Stelle hervorhoben; auf der einen Seite die Bande der Junker und Pfaffen und in ihrem Tross fast alle Trümmer des Liberalismus, auf der anderen Seite das Heer der Sozialdemokratie, die immer fester, klarer und stolzer als die Hüterin alles dessen hervortritt, was einer großen Nation das Leben lebenswert machen kann. Es ist wörtlich eingetroffen, was wir damals sagten: „Man wird gut tun, noch auf alle möglichen Teufeleien der agrarischen Reichstagsmehrheit gefasst zu sein. Aber es ist keine Kombination mehr denkbar, die nicht von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion durchkreuzt werden könnte." Freilich sind die Teufeleien, in denen sich die agrarische Mehrheit versucht hat, noch immer versucht und fernerhin versuchen wird, viel dümmer und gewaltsamer, als sich menschenmöglicherweise annehmen ließ, aber in demselben Masse ist auch für die Sozialdemokratie die Fähigkeit und die Möglichkeit gewachsen, all diesen Teufeleien durch die Parade zu fahren.

Die nächsten Reichstagswahlen hätten die Brotwucherer sicherlich sehr ins Gedränge gebracht, wenn der Zolltarifentwurf an dem gesetz- und verfassungsmäßigen Widerstand der sozialdemokratischen Opposition gescheitert wäre. Aber hieraus den Schluss zu ziehen, dass sie ihre Lage im Wahlkampf verbessern würden, wenn sie den Entwurf unter gewaltsamem Bruche der Geschäftsordnung durchpeitschten, ist nur ein Zeichen mehr für ihre historische Blindheit. Nicht nur liefern sie damit der sozialdemokratischen Wahlagitation noch weit schärfere und wirksamere Waffen, sondern sie machen den Zolltarif selbst zu einem mehr oder weniger wertlosen Wisch bedruckten Papiers, indem sie ihn vor den Augen von ganz Europa mit juristisch und moralisch gleich verwerflichen Mitteln durchdrücken; wie diese Grundlage künftiger Handelsverträge den Ministern auswärtiger Staaten imponieren wird, die es eben mit angesehen haben, aus welchem wirren und wüsten Chaos der missratene Bastard hervorgegangen ist, kann sich schließlich schon ein Kind vorstellen. Nachdem die Mehrheit sich soweit kompromittiert hat, wie im Antrag Kardorff und alledem, was damit zusammenhängt, wird sie nicht ruhen, bis sie ihren Willen durchgesetzt hat, aber je zäher der Widerstand ist, den sie findet, desto gründlicher wird sie um den Preis ihrer unsauberen Treibereien geprellt werden. Mag sie auch in ihrer kopflosen Wut den letzten Paragraphen der Geschäftsordnung zertreten, so wird ihr der erschlichene Zolltarif in den nächsten Wahlen viel gefährlicher werden, als ihr der gescheiterte je geworden wäre.

Davon hat sie auch noch so viel Bewusstsein, dass sie sich abquält, die öffentliche Aufmerksamkeit möglichst von ihren Nichtswürdigkeiten abzulenken, durch eine sehr alte, sehr schäbige, aber für den deutschen Philister noch immer bis zu einem gewissen Grade wirksame Finte, durch eine hochpatriotische und hochsittliche Hetze gegen die Sozialdemokratie. Wie viel davon heuchlerische Grimasse und wie viel scharfmacherischer Ernst ist, lässt sich deshalb schwer sagen, weil die Hetzer selbst darüber sich kaum ganz klar sein werden. Zunächst lag es nahe, die Blamage, die bei der berühmten „Verständigung" über die „mittlere Linie" des Zolltarifs auf alle Beteiligten fiel, so zu verdecken, dass man sich dem verblüfften Philister gegenüber mit der Redensart aufspielte, der Sozialdemokratie dürfe ihr Wille nicht gelassen werden, dass man diese erhebende Erwägung als den eigentlichen Grund der „Verständigung" angab. Sobald man dann sah, dass die sozialdemokratische Reichstagsfraktion nicht entfernt daran dachte, vor dem Antrag Kardorff auf Annahme des Zolltarifentwurfes in Bausch und Bogen die Segel zu streichen, sich vielmehr rüstete, nunmehr erst recht jeden Fußbreit des gesetz- und verfassungsmäßigen Bodens vor dem Ansturm der Brotwucherer zu verteidigen, redete man sich immer tiefer in die angebliche Notwendigkeit hinein, die Bestie zu zähmen, wie sich die „Kreuz-Zeitung" in ihrer anmutigen Junkersprache ausdrückt.

Wenn wir diese Finte sehr alt und sehr schäbig, ebendeshalb noch immer bis zu einem gewissen Grade wirksam für den deutschen Philister nannten, so ist der schlagendste Beweis für unsere Ansicht die mehr als klägliche Rolle, die der bürgerliche Liberalismus in der gegenwärtigen parlamentarisch-politischen Krisis spielt. Es sind nicht nur die Nationalliberalen, die sich zu offenen Helotendiensten für die junkerlichen Brotwucherer hergeben, sondern auch der bürgerliche Freisinn und die Süddeutsche Volkspartei spielen ein zweideutiges Spiel, dessen praktische Wirkung durchaus der reaktionären Mehrheit förderlich ist; die einzige Ausnahme, das kleine Häuflein der Freisinnigen Vereinigung, bestätigt nur die Regel des liberalen Verrats. Die „Freisinnige Zeitung" treibt in ihrer Art die Sozialistenhetze nicht weniger munter als die „Kreuz-Zeitung", geradeso, wie es vor Erlass des Sozialistengesetzes geschah; wer die damaligen Vorgänge noch einigermaßen in lebhafter Erinnerung hat, wird sich durch die heutigen Tageserscheinungen oft genug an sie erinnert finden.

Damit soll gewiss nicht gesagt sein, dass wir schon am Vorabend eines neuen Sozialistengesetzes ständen. Nur darf man die Möglichkeit neuer Gewaltschläge gegen die Arbeiterklasse deshalb nicht von sich weisen, weil zweifellos kein fester Entschluss und kein greifbarer Plan dafür vorliegen. Eben dadurch ist die Möglichkeit gegeben, dass man auf der reaktionären Seite vor halt- und ratlosem Ingrimm gar nicht mehr weiß, wohin man treibt. Was sich heute im Reichstag abspielt, dies zerfahrene Hin und Her, worin schließlich immer gerade die dümmste Brutalität die Oberhand erhält, ist von „hervorragenden" Führern der Mehrheit noch vor wenigen Wochen für ganz undenkbar erklärt worden; so ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass wir in drei Wochen schon Dinge erleben werden, die heute noch für ganz unmöglich gelten und einstweilen selbst von den wildesten Reaktionären in gutem Glauben für unmöglich erklärt werden mögen.

Ein Glück, dass wir uns über solche Möglichkeiten nicht die Köpfe zu zerbrechen brauchen. Die Taktik der Sozialdemokratischen Partei ist durch die Ehre und die Interessen der deutschen Arbeiterklasse unabänderlich vorgezeichnet: Sie kann keine andere sein, als unerschütterlicher Widerstand gegen alle Kniffe und Pfiffe, gegen alle Gewalt und List der Brotwucherer. Am wenigsten darf sie sich durch die hochgezogenen Brauen der Spießbürger beirren lassen, die in ihrer biedermännischen Weisheit dazu raten, den Bogen nicht zu straff zu spannen und vor allem das Ansehen des Reichstags zu wahren. Geht es im deutschen Reichstag zu, wie im weiland polnischen Reichstag, so fällt die historische Verantwortlichkeit auf die, denen das Recht des Reichstags gerade gut genug war, um es unter ihre Füße zu rollen. Je wilder das Geschrei ertönt, dass mit dem bisschen Parlamentarismus im Deutschen Reiche aufgeräumt werden müsse, weil er zum ersten Mal der arbeitenden Klasse eine wirksame Handhabe gegen die raffgierigen Ausbeutungsinteressen der herrschenden Klassen geboten hat, desto notwendiger ist es, diese Handhabe auf ihre Widerstandsfähigkeit bis aufs Äußerste zu prüfen. Erträgt sie die Probe, umso besser; zerbricht sie darüber oder wird sie darüber zerbrochen, so muss es darum sein. Die Arbeiterklasse kann keine Waffen gebrauchen, die sie nur in den Silberschrank hängen darf, um sich daran zu ergötzen; sie ist nicht um des Parlamentarismus willen da, sondern sie benützt den Parlamentarismus um ihretwillen; dächte sie anders, so würde sie auf den verhängnisvollen Wegen wandeln, die den bürgerlichen Liberalismus so tief in den Sumpf geführt haben.

Mag deshalb in dem Schoße der Bourgeoisie über den „polnischen Reichstag" eitel Heulen und Zähneklappern sein; durch die Reihen des Proletariats geht ein frischer Hauch revolutionärer Tatkraft, seitdem sich die Anzeichen häufen, dass in den überlebten Klassen, die allzu lange noch das Heft in der Hand behalten haben, der geistige und moralische Bankrott in vollem Gange ist. Die ganze Geschichte des Zolltarifentwurfes ist eine einzige Anhäufung solcher Anzeichen. Je toller sie es treiben, umso besser wird es für uns sein. Mag ihre angstgepeitschte Phantasie sich in allerlei Gewaltstreichen berauschen, ja mögen solche Gewaltstreiche in ihrer wachsenden Verzweiflung explodieren, wie es sicherlich über kurz oder lang geschehen wird, wir fürchten keinen Kampf, den sie uns aufdrängen, denn wir wissen, dass wir in jedem dieser Kämpfe siegen werden.

Für viele guten Leute und schlechten Musikanten ist es eine peinliche Überraschung gewesen zu sehen, wie verhältnismäßig leicht es den Brotwucherern gelungen ist, in das Recht des Reichstags einzubrechen. Und gewiss – wäre der deutsche Parlamentarismus eine reelle Macht, so wäre der Antrag Kardorff vom Präsidenten des Reichstags mit einer verächtlichen Handbewegung zurückgewiesen worden und damit auf den Kehrichthaufen geflogen. Graf Ballestrem hat sich dazu nicht aufgeschwungen, und wir machen ihm persönlich keinen Vorwurf daraus; im Gegenteil, es ist schon ganz respektabel, dass er wenigstens schmerzlich die Miene verzogen und einen Augenblick daran gedacht hat, zwar nicht seinen Posten mutig zu verteidigen, aber sich doch würdig von ihm zurückzuziehen. Mehr hätte kein bürgerlicher Präsident getan, und manch anderer hätte nicht einmal soviel geleistet, und woher sollte er die Courage auch nehmen? Der Reichstag hat bisher noch keinen ernsthaften Kampf mit der Regierung zu führen gewagt; er hat sich immer ihren noch so unberechtigten Ansprüchen gefügt, und wie konnte er da die selbstbewusste und stolze Haltung gewinnen, die Biedermeier und Kompagnie jetzt heuchlerisch an ihm vermissen? Eine solche Haltung ist allemal nur die Frucht tapfer durchgefochtener Kämpfe; deshalb ist ihrer auch nur die Sozialdemokratische Partei fähig, die heute unter allen Parteien den Vorzug genießt zu wissen, was sie will.

So steht sie in überlegener Ruhe der neuen Hetze gegenüber, die Hass und Neid aus allen Ecken und Winkeln der kapitalistischen Gesellschaft gegen sie schüren. Sie ist eine Partei des Kampfes, und sie weiß aus einer Erfahrung von vierzig Jahren, dass sie, ihrem Ursprung gemäß, niemals so kräftig ist, sie niemals so rüstig entwickelt wie im Kampfe. Freilich hat der Kampf für sie noch keinen Augenblick aufgehört, aber im Kampfe selbst gibt es Perioden, wo er schwächer und wo er stärker entbrennt; damit in genauem Schritt und Tritt schwillt die revolutionäre Expansivkraft des klassenbewussten Proletariats ab und an. Das lehrt die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei auf jedem ihrer Blätter; je stärker sich die Sturzwelle scheinbar vernichtenden Hasses heran wälzte, um so mächtiger tauchte die Partei regelmäßig aus ihr wieder auf.

So hat sie für das ohnmächtige Toben ihrer Todfeinde nur ein verächtliches Achselzucken, wie sie gegen ihre brutalen Gewaltstreiche die schlagfertige Faust hat. In gelassener Zuversicht antwortet sie auf die unzähligen Herausforderungen, die ihr jeder Tag bringt: Neue Kämpfe, neue Siege!

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