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Franz Mehring 19021119 Parlamentarischer Selbstmord

Franz Mehring: Parlamentarischer Selbstmord

19. November 1902

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 225-228. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 509-512]

Die selbstmörderische Verblendung, die wir vor acht Tagen als immer stärker hervortretende Eigenschaft des ostelbischen Junkertums und seiner agrarischen Anhängsel kennzeichneten, hat sich in der Beratung und Beschlussfassung des Reichstags über den Antrag Aichbichler von neuem offenbart. Um die Geschäftsordnung an einem Punkte zu ändern, der an sich nur wenig dazu beitragen konnte, die Pläne der Brotwucherer zu fördern, sind sie wie die wilde Jagd über die Geschäftsordnung selbst hinweg gestürmt und haben eine Reihe wüster Skandalszenen hervorgerufen, die ganz dazu angetan waren, dem Reichstag das Ansehen zu rauben, das er etwa noch genießen mag.

Als die Orgie sich ausgetobt hatte, überfiel ihre Urheber der Katzenjammer. In dieser grauen Stimmung fragen sie sich: Wozu der ganze Spektakel, wenn wir selbst nicht einmal wissen, was wir wollen? So arbeiten sie denn jetzt hinter den Kulissen an der „Verständigung" über den Brotwucher, und nach den dunklen Andeutungen ihrer eingeweihtesten Blätter, etwa der „Germania" und der „Deutschen Tageszeitung", haben sie auch irgendeine Teufelei zurecht gemachenschaftet, mit der sie herausrücken werden, sobald sie wieder eine Mehrheit im Reichstagsgebäude beisammen haben. Die Gerüchte, die über die Art und Weise dieser Teufelei umlaufen, können an dieser Stelle auf sich beruhen bleiben, da die saubere Bescherung vielleicht schon ans Tageslicht gekommen sein wird, ehe diese Zeilen gedruckt werden. Genug, dass die Zöllner nichts mehr aushecken können, dem die sozialdemokratische Opposition nicht gewachsen ist.

Am wenigsten schreckhaft ist ihre Drohung: Haben wir uns erst einmal „verständigt", dann wehe der „Obstruktion"! Nach den Leistungen, die sich die agrarische Mehrheit bei der Behandlung des Antrags Aichbichler gestattet hat, kann man von ihr wohl auf alles mögliche gefasst sein; nicht undenkbar, dass sie die ganze Geschäftsordnung niedertrampelt, um den Hungertarif oder wenigstens den Brotwucher vor dem Gericht der nächsten Reichstagswahlen zu retten! Aber wen würde sie damit schädigen?

Doch nur sich selbst. Wollen die bürgerlichen Parteien selbst den bürgerlichen Parlamentarismus ruinieren, wohlan denn! Jede bürgerliche Klasse und Partei, mit Einschluss des ostelbischen Junkertums, braucht den bürgerlichen Parlamentarismus viel nötiger, als die Sozialdemokratie ihn braucht. Wollt ihr dem Scheinkonstitutionalismus die letzten Flitter abreißen, wollt ihr ihn nur noch herumlaufen lassen wie einen nackten Spatz, so seht zu, wie weit ihr damit kommt. Wir halten's gut und gern aus.

Mit der Art, wie die Mehrheit der Brotwucherer die oppositionelle Minderheit vergewaltigt, gibt sie ein treffliches Vorbild, wie einmal die Regierung den Reichstag selbst vergewaltigen kann. Darauf beruht alles parlamentarische Wesen, dass die Rechte der Minderheit so unantastbar sind wie die Rechte der Mehrheit; eine Mehrheit, die das Recht der Minderheit nicht achtet, gibt damit auch den Anspruch auf, ihr eigenes Recht geachtet zu sehen. Sie legitimiert nach oben den Staatsstreich und nach unten die Revolution. Auf diese Mehrheit trifft das Wort Carlyles zu: „Täglich und stündlich rückt irgendein Chartist, irgendein bewaffneter Cromwell heran, um solch einem Parlament anzuzeigen: Ihr seid kein Parlament! Im Namen des Allerhöchsten – packt euch!" Das ist ganz richtig, mag Graf Bülow auch kein Cromwell und mögen die deutschen Chartisten auch noch nicht so weit sein, diesem Parlament zuzuherrschen, dass es seine Siebensachen packen soll.

Soviel ist jedenfalls klar, dass der parlamentarische Selbstmord, den die Brotwuchermehrheit des Reichstags betreibt, die revolutionäre Entwicklung beschleunigen muss und wird. In dem bürgerlichen Parlamentarismus wird eine Schutzwehr der herrschenden, nicht jedoch der beherrschten Klassen nieder gerannt. Hier liegt auch einer der Gründe, die Eugen Richters schmähliche Fahnenflucht veranlasst haben. Genosse Parvus schreibt in seiner „Weltpolitischen Korrespondenz": „Richters Taktik ist so töricht, dass man versucht ist zu fragen: Ist der Kerl gekauft? Allein es ist bloß der Hass gegen die Sozialdemokratie, der ihn blendet. Er gönnt uns unsere Erfolge, unseren Einfluss auf die Massen nicht. Er gönnt uns die Obstruktion nicht, die unsere Bedeutung steigert." Diese Auffassung trifft wohl die nächstliegenden Empfindungen des großen Freisinnshäuptlings, aber nicht seine letzten Beweggründe. Nicht nur blasser Neid verzehrt ihn, sondern auch die Sorge um den Scheinkonstitutionalismus, der ihm und seinesgleichen gestattet, sich als Männer von Wichtigkeit aufzuspielen. Er vertritt den Standpunkt, dass man die Opposition nie weiter treiben dürfe, als der schwache Magen jenes Konstitutionalismus vertrage. Man dürfe den Kampf nie so scharf führen, um die parlamentarischen Formen zu gefährden, gleichviel, wie es um ihren Inhalt stehe.

Es ist die alte Taktik; die den bürgerlichen Liberalismus seit vierzig Jahren so tief heruntergebracht hat, die alte Taktik, die, als sie noch verhältnismäßig jung war, schon Lassalles Arbeiteragitation hervorrief und durch die riesenhaften Erfolge dieser Agitation freilich nicht bekehrt; sondern nur zu immer ohnmächtigerem Neid aufgestachelt worden ist. In Politikern, wie Eugen Richter einer ist, hat eine vierzigjährige Erfahrung kein Licht der Erkenntnis angezündet, sondern sie sind immer noch die im Irrgarten des Scheinkonstitutionalismus taumelnden Kavaliere, und die Devise: Nur nicht drängeln! steht heute noch ebenso auf ihrer Fahne geschrieben, wie vor vier oder fünf Jahrzehnten. Ihre einzige Entschuldigung mag man darin suchen, dass sie schließlich nicht mehr leisten können als die Klasse, die hinter ihnen steht. Es gibt nicht leicht eine törichtere Vorstellung, als dass an dem Verfall des bürgerlichen Freisinns die Leithammel schuld seien und nicht vielmehr die Herde selbst. Soviel Verstand hat Herr Eugen Richter schon, um den ganzen Jammer der Rolle zu erkennen; die er in den Kämpfen um den Brotwucher spielt, aber dieser eine Trost ist ihm geblieben, dass der zusammenschmelzende Haufe seiner Bewunderer ihm gern Absolution erteilt, wenn er lieber die Auspowerung der Volksmassen zugibt, ehe er den Scheinkonstitutionalismus gefährdet.

Gerade umgekehrt ist es um die Taktik der Arbeiterklasse bestellt. Für sie ist der bürgerliche Parlamentarismus nicht der letzte und höchste Zweck; er kann es schon deshalb nicht sein, weil er eben bürgerlicher Parlamentarismus ist. Sie benutzt ihn, wie sie andere Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft benutzt, auf deren Boden sie ihren Emanzipationskampf durchführen muss, aber sie kann nie auch nur einen Augenblick daran denken, ein proletarisches Interesse weniger energisch zu vertreten, weil seine energische Vertretung möglicherweise den bürgerlichen Parlamentarismus schädigt, der in Deutschland nicht einmal die Herrschaft der Bourgeoisie sichert, sondern nur die Herrschaft historisch noch weit rückständigerer Gesellschaftsschichten verdeckt. Deshalb mag vom Standpunkt des beschränkten feigen Philistertums aus ein gewisser Sinn in der Wehklage liegen, dass die sozialdemokratische „Obstruktion" gegen den Brotwucher den Parlamentarismus ruiniere, indem sie die Brotwucherer zu Gewaltschlägen gegen diesen Parlamentarismus aufreize; unter proletarischem und damit historisch fortschrittlichem Gesichtspunkt ist diese Wehklage das abgeschmackteste Gerede von der Welt.

Die Sozialdemokratische Partei bequemt sich zum Kampfe auf parlamentarischem Boden nicht um der schönen Augen ihrer Gegner willen, sondern aus ihrem eigenen Interesse. Er ist nicht ihr bequemstes Schlachtfeld, schon deshalb nicht, weil seine Atmosphäre gewissermaßen mit Illusionen gesättigt ist, die keine Partei so sehr zu scheuen hat, wie eine Arbeiterpartei: mit Illusionen, die nicht nur in den parlamentarischen Fraktionen selbst entstehen können, sondern ebenso in den Massen, die durch das Geräusch des parlamentarischen Kampfes leicht zu der Annahme verleitet werden, als ständen dabei große Dinge auf dem Spiele, während tatsächlich nach einer alten Erfahrung der Lärm in den Parlamenten in dem Maße größer zu werden pflegt, worin die Parlamente weniger mitzureden haben. So nistet sich gar leicht die grundfalsche Einbildung ein, als könne die Arbeiterklasse jemals auf dem Wege parlamentarischer Diskussion, wenn auch just nicht zu ihrer völligen Befreiung aus der Lohnsklaverei, so doch zu einer wesentlichen Hebung ihrer Klassenlage gelangen, und wenn wir auch keineswegs behaupten wollen, dass diese Einbildung in der deutschen Arbeiterklasse je einen besonderen Spielraum gewonnen hat, so kann man doch sagen: Besser ist besser, und die agrarische Mehrheit des Reichstags schafft eine dankenswerte Klärung der Situation durch den parlamentarischen Selbstmord, den sie begeht, um die Volksmassen auspowern zu können.

Damit ist zwar nicht der bürgerliche Parlamentarismus, aber wohl alle gemütliche Selbsttäuschung über ihn beseitigt. Die Arbeiter können diese Waffe, so schwach sie sein mag, auch jetzt nicht entbehren, aber sie sind in dringlichster Weise daran gemahnt, dass sie aus ihr ein wirkliches Werkzeug des Kampfes machen müssen. In der Tat befinden sich die Brotwucherer in der üblen Lage, dass sie mit jedem Versuch, der Sozialdemokratie eine packende Wahlparole zu entreißen, ihr nur noch eine packendere Wahlparole liefern. Der Antrag Aichbichler und alles, was sich daran knüpft, wird die Wählermassen noch mehr aufstürmen als der Brotwucher selbst, und schärfer denn je werden sie erkennen, dass die einzige Partei, auf die sie sich unbedingt verlassen können, die Sozialdemokratie ist.

Wir sind noch lange nicht am Ziele, und wir müssten die Parteien der gegenwärtigen Reichstagsmehrheit schlecht kennen, wenn wir nicht noch auf manchen Verzweiflungsstreich von ihnen gefasst wären, aber wir sind im rüstigen Vormarsch zum Ziele, wie seit den Tagen des Sozialistengesetzes nicht wieder, und je wilder sich die Gegner gebärden, desto zuversichtlicher sehen wir den Reichstagswahlen des nächsten Jahres entgegen.

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