Franz Mehring‎ > ‎1902‎ > ‎

Franz Mehring 19020607 Unterm Hasenpanier

Franz Mehring: Unterm Hasenpanier

7. Juni 1902

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 128, 7. Juni 1902. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 480-483]

Über den bekannten Historiker Bernhardi, der zeitweise auch als Militärbevollmächtigter in preußischen Diensten gestanden hat, äußerte Bismarck einmal zu „seinen Leuten": „Man dachte, als man ihn anstellte, er würde was leisten, und an Quantität hat er viel geleistet – auch in der Form. Er schreibt gefällig, und wie für ein Feuilleton, aber wenn ich seine eng und klein und zierlich geschriebenen Berichte durchsehe, da steht bei all ihrer Länge eigentlich nichts darin." Es kann hier dahingestellt bleiben, ob dies Urteil Bismarcks über Bernhardi berechtigt war oder nicht; die Möglichkeit, dass es berechtigt gewesen ist, lässt sich nicht bestreiten, wenn man in Bernhardis Denkwürdigkeiten die Räubergeschichten über die moderne Arbeiterbewegung liest, die sich der Brave von irgendwelchen Spitzeln hat aufbinden lassen. Aber was uns veranlasst, diese Worte Bismarcks zu zitieren, ist vielmehr der Umstand, dass sie dem dritten Nachfolger Bismarcks wie auf den Leib gesprochen sind.

Als Graf Bülow angestellt wurde, erwartete man viel von ihm und dachte, er würde was leisten, und an Quantität hat er auch viel geleistet. Allein wenn man all seine Reden durchgeht, so findet man eigentlich nichts darin. Ja, auch seine Form lässt sich nicht mehr loben, denn solche Geschmacklosigkeiten wie der Hasen- und Kaninchenvergleich müssen auch den bewährtesten Feuilletonisten um allen Kredit bringen. Die polnischen Abgeordneten im preußischen Landtage haben sich die willkommene Gelegenheit nicht entgehen lassen und den edlen Grafen in einer Weise vermöbelt, die vielleicht keinen Hasen und kein Kaninchen, aber gewiss einen Hund jammern konnte. Dabei hagelten zwar die Ordnungsrufe des Präsidenten nur so auf sie nieder, aber um so mehr hatten sie die Sympathien aller anständig und rechtlich denkenden Leute auf ihrer Seite, und der Reichskanzler selbst quittierte im Voraus dankend über die Schläge, die er empfing, indem er sich vor dem drohenden Strafgerichte drückte.

Es fügte sich, dass zu gleicher Zeit der Kaiser das Wort ergriff, um die Polenpolitik seiner Regierung zu rechtfertigen. Bei einem jener prunkenden Feste, die zur Tagesordnung des offiziellen Deutschlands gehören und in so schneidendem Gegensatze zu der keuchenden Misere der Krachs stehen, die verheerend durch die Massen des Volkes schleicht, sagte der Kaiser: „Polnischer Übermut will dem Deutschtum zu nahe treten, und ich bin gezwungen, mein Volk aufzurufen zur Wahrung seiner nationalen Güter." Wenn dem Kaiser von seinen verantwortlichen Ratgebern gesagt worden ist, dass „polnischer Übermut" dem „Deutschtum" zu nahe treten wolle, so war es in der Tat unverantwortlich von dem obersten dieser verantwortlichen Ratgeber, gleichzeitig das Wort von der Kaninchenjagd in die Welt zu schleudern. Denn geistloser und hohler als in diesem Worte konnte sich „deutsche", wenn auch tatsächlich nur junkerliche Hochnäsigkeit gegen die Polen nicht offenbaren, und auf die Generalpächter der monarchischen Gesinnung in Deutschland, soviel es deren noch geben mag, wird es denn auch wohl einen erhebenden Eindruck machen, den Kaiser so herbe durch den Reichskanzler verleugnet zu sehen.

Auffallend ist auch, dass die verantwortlichen Ratgeber der Krone dem Kaiser nicht abgeraten haben, just von der Marienburg und bei einer Gedenkfeier des Deutschen Ordens von „polnischem Übermut" zu sprechen. Es ist ja bekannt genug, dass der Deutsche Orden, der auf der Marienburg seinen Sitz hatte, die slawischen Nachbarvölker mit „deutschem Übermut" so lange geplagt hat, bis die Polen ihm verdientermaßen all seine Frevel mit Zinseszinsen heimzahlten, in der furchtbaren Schlacht bei Tannenberg, am 15. Juli 1410. Zahllose Leichen bedeckten das Schlachtfeld – die Überlieferung nennt mehr denn hunderttausend –, einundfünfzig deutsche Banner ließ der polnische König im Krakauer Dom aufhängen, und nie hatten die polnischen Waffen einen glänzenderen Tag, als da sie diese gründliche Strafe über „deutschen Übermut" verhängten.

Seitdem verkam der Deutsche Orden elendiglich, so dass sogar ein patriotischer Historiker seufzend gestehen muss: „Nie hat eine Großmacht kläglicher geendet." Von dem Deutschen Orden ist jede Spur auf deutscher Erde verschwunden und, um das lärmende Fest auf der wiederhergestellten Marienburg mit Statisten zu beleben, mussten die „Brüder St. Johannes" zusammengetrommelt werden, die Mitglieder des Johanniterordens, der sich als spielerischer Junkersport bis auf unsere Tage erhalten hat. Wenn übrigens dieser Adelsklub das Volk repräsentieren soll, das der Kaiser zum Schutze der nationalen Güter aufruft, so hat der „polnische Übermut" nicht viel zu besorgen.

Von der ganzen Redewendung, die „mein Volk zur Wahrung seiner nationalen Güter" aufruft, verstehen wir nicht, wie die verantwortlichen Ratgeber der Krone sie politisch verantworten wollen. Sie mag ja ganz nett klingen, aber wenn man sie auf ihre Berechtigung untersucht, so findet man wirklich auch gar nichts darin. Der preußische Staat hat die polnischen Landesteile, die er besitzt, einfach geraubt, mit nicht größerem moralischem Recht, als ein Straßenräuber einem wehrlosen Wanderer die Börse abnimmt; dass der Beraubte sonst mancherlei Sünden auf dem Buckel haben mochte, tut nichts zur Sache; selbst nach den Grundsätzen der bürgerlichen Justiz darf man keinen Menschen berauben oder totschlagen, weil er angeblich oder wirklich an dem Mangel moralischer Qualitäten leidet. Die Staaten, die wie hungrige Wölfe über das wehrlose Polen herfielen, hatten ein nicht minder langes Sündenregister als Polen, und am allerwenigsten waren Leute wie Friedrich II. von Preußen oder Katharina II. von Russland dazu berufen, die Gebote moralischer Gerechtigkeit zu vollstrecken. Wenn Kosziusko im Jahre 1794 oder Mieroslawski im Jahre 1848 ihr Volk „zur Wahrung seiner nationalen Güter" aufriefen, so hatte das seinen guten historischen Sinn, denn die Deutschen haben den Polen allerdings ihre „nationalen Güter" geraubt, aber welche „nationalen Güter" den Deutschen von den Polen geraubt oder auch nur angetastet sein sollen, das ist wirklich nicht abzusehen.

Der polnische Staat ist zerfallen, aber die polnische Nation lebt, und sie kämpft in der Tat für „nationale Güter", wenn sie ihre Sprache gegen die abgeschmackt-barbarischen Ausrottungsgelüste der preußischen Bürokratie verteidigt. Dass solche Gelüste sich heute noch auswachsen dürfen, mehr als hundert Jahre nach der Teilung Polens, ein kläglicheres Armutszeugnis kann dieser Bürokratie schwerlich ausgestellt werden. Das großmächtige Deutsche Reich fürchtet sich vor den paar Millionen Polen, die weiter gar nichts wollen, als dass man ihnen ihre Sprache lässt und sie nicht noch unter das bescheidene Maß staatsbürgerlicher Rechte hinab stößt, das der deutsche Reichs- und preußische Staatsbürger genießt. Deshalb glauben wir, dass der Reichskanzler die Krone nicht gut beraten hat, als er ihr empfahl, den Aufruf zur Wahrung der nationalen Güter gegen den polnischen Übermut von der Marienburg zu erlassen.

Das deutsche Volk wird auf diesen Ruf nicht hören. Es hat seine „nationalen Güter" gegen gar zu viele Feinde zu verteidigen, gegen die ewigen Übergriffe des Absolutismus, gegen den unverschämten Brotwucher der Junker, gegen das drückende Joch pfäffischer Intoleranz, gegen die Ausbeutungssucht der habgierigen Bourgeoisie, gegen die Büttelwirtschaft der heiligen Hermandad, gegen tausend andere, die nationale Kultur erwürgende Zustände. In diesem Kampfe wird das deutsche Volk, oder doch seine große Mehrzahl, die Arbeiterklasse, immer auf dem Posten sein, aber gegen die paar Polen, die seine nationale Kultur zu schädigen weder die Macht noch auch nur den Willen haben, wird es nicht mobil machen.

Da sieht es lieber mit ehrfürchtigem Staunen zu, wie unser heldenhafter Reichskanzler mit nerviger Faust das Panier der Hasen ergreift und todesmutig vorwärts stürmt unter dem dröhnenden Schlachtruf: Auf zur Kaninchenjagd!

Kommentare