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Franz Mehring 19020115 „Was du ererbt von deinen Vätern hast-"

Franz Mehring: „Was du ererbt von deinen Vätern hast-"

15. Januar 1902

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 11, 15. Januar 1902. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 442 f.]

Brauchen wir zu sagen, dass dies schöne Zitat aus Goethe wieder vom Grafen Bülow gebraucht worden ist, um seine glorreiche Politik zu verteidigen? Diesmal im preußischen Abgeordnetenhause, und zwar, um die Wreschener Vorgänge1 zu beschönigen! Das hat sich Goethe auch nicht träumen lassen, dass die Weisheit seines „Faust" einmal missbraucht werden würde zur Verherrlichung einer Politik, die wehrlose Schulkinder halb tot prügelt, um ihnen ihre Muttersprache abzugewöhnen.

Von seinen „Vätern" mag Graf Bülow die polnischen Landesteile des preußischen Staats „ererbt" haben, denn die ostelbischen Junker haben ihrerzeit mit der hohen polnischen Aristokratie die Zerreißung Polens abgekartet. Jedoch das „deutsche Schwert", an das Graf Bülow in erhabener parlamentarischer Pose schlug, hat damit wirklich auch gar nichts zu tun gehabt. Lug und Trug, Bestechungskünste und Verrätereien der schändlichsten Art waren die Paten, die dem preußischen Staate die „Ostmark" aus der Taufe hoben. Wie die Harpyen stürzten sich die Itzenplitze und Zitzewitze nach den polnischen Teilungen in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts über die kirchlichen und starosteilichen Güter in Posen her. Wir behalten uns vor, darauf einmal zurückzukommen; es scheint, dass der deutsche Michel ganz und gar vergessen hat, wie das Borussentum in Polen „germanisiert" hat.

Die Geschichte kennt Fälle, wo der Raub an Land und Leuten dadurch geadelt worden ist, dass die geraubten Landesteile eben durch den Raub auf eine höhere Kulturstufe gehoben worden sind. Ein bekanntes Beispiel dieser Art ist der Raub Elsass-Lothringens durch Ludwig XIV. von Frankreich. Zwar nicht dieser Despot oder seine verkommenen Nachfolger – die „Gnade Gottes" scheint zu zivilisatorischer Tätigkeit wenig zu befähigen –, aber wohl die große französische Revolution hat Elsass-Lothringen auf eine höhere Kulturstufe gehoben, als es jemals im Banne des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hätte erreichen können. Man weiß, wie eng dadurch diese deutschen Landschaften mit Frankreich verwachsen sind, so dass die liebende Mutter Germania die wieder gewonnenen Kinder nun schon seit mehr als dreißig Jahren unter der eisernen Zuchtrute des Diktaturparagraphen halten muss, um sie von ihrer mütterlichen Zärtlichkeit zu überzeugen. Elsass-Lothringen mit den gleichen Mitteln für sich zu gewinnen, womit einst Frankreich diese Provinzen für sich gewonnen hat, dieser einfache Gedanke ist für borussische Staatskunst lange nicht tiefsinnig genug.

Nun gar was diese Staatskunst an den polnischen Landesteilen des preußischen Staates gesündigt hat, das gehört zu den traurigsten Kapiteln der europäischen Geschichte im letzten Jahrhundert. Es ist aber gar nicht einmal nötig, die Jahrbücher der Geschichte aufzuschlagen, denn man hat die ganze Apotheke dieser kleinlichen Rankunepolitik in der Rede, die der Reichskanzler am Montag im preußischen Abgeordnetenhause gehalten hat, gleich beisammen. Dispositionsfonds für die Bürokratie, Prämien für borussifizierende Gendarmen und Schulmeister, Garnisonen, die immer mit dem hauenden Säbel und der schießenden Flinte auf dem Quivive? stehen, um eine unzufriedene Bevölkerung zufrieden zu machen – alles dies hundertmal Probierte und hundertmal Misslungene trug Graf Bülow mit einem Pathos vor, als hätte er nun glücklich den Stein der Weisen entdeckt. Wollte er wirklich Goethe zitieren, dann hätte ihm billigerweise ein anderes Wort aus dem „Faust" einfallen sollen: Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet!

Unter stürmischem Beifall des bekanntlich reaktionären Abgeordnetenhauses hat Graf Bülow erklärt, dass er in nationalen Fragen keinen Spaß verstände. Das ist in diesem Munde eine schöne Tirade, wie eine andere auch; wer aber wirklich seit mehr als hundert Jahren durch Kämpfe und Opfer der schönsten Art bewiesen hat, dass er in nationalen Fragen keinen Spaß versteht, das ist der Pole selbst. Man braucht für seine Aristokratie und seine Bourgeoisie so wenig Sympathie zu haben wie für die Aristokratie und die Bourgeoisie irgendeines anderen Volkes, aber den Ruhm muss man der polnischen Nation lassen, dass sie um ihre Existenz mit einem Heldenmute gerungen hat und ringt, von dem die deutschen Philister allen Grund hätten, mit einigem Respekt zu sprechen.

Sicherlich ja, die Polen sind durch ihr Junkertum um ihre nationale Unabhängigkeit gekommen, aber die deutschen Patrioten, die sich eben durch die ostelbischen Schlachtschitzen in den Sumpf treiben lassen, wo er am tiefsten ist, sind die letzten dazu, Polen zu „zivilisieren".

1 Wreschener Vorgänge - im Mai 1901 weigerten sich die polnischen Schüler der Stadt, im Religionsunterricht Fragen in deutscher Sprache zu beantworten (Verfügung des preußischen Kultusministeriums vom Juli 1900, Religionsunterricht in Posen in der Oberstufe nur noch in deutscher Sprache zu erteilen). Gegen die körperlichen Züchtigungen der Schüler durch die Lehrer (zum Teil mit Ruten) protestierten die Eltern. Am 19. November 1901 wurden 24 polnische Eltern wegen „Landfriedensbruchs" zu Freiheitsstrafen bis zu 2½ Jahren verurteilt.

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