Franz Mehring‎ > ‎1902‎ > ‎

Franz Mehring 19020205 Zur politischen Lage

Franz Mehring: Zur politischen Lage

5. Februar 1902

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Erster Band, S. 577-579. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 444-447]

Die liberale Presse verzeichnet die „kalten Wasserstrahlen", die von einigen offiziösen Organen an die bündlerische Agitation für den Brotwucher gerichtet worden sind, mit einiger Genugtuung. Jedoch spiegelt sich in dieser Genugtuung nur die gewohnte Kurzsichtigkeit des Liberalismus. Zwar zweifeln auch wir nicht daran, dass diese Wasserstrahlen ernsthaft gemeint sind, aber ebendeshalb sind wir keineswegs erbaut davon. Nur wenn der neue Zolltarif eine an und für sich erwünschte Sache oder mindestens ein ganz unabwendbares Übel wäre, könnte die Dämpfung des agrarischen Übermuts durch die Regierung als ein willkommener Zwischenfall erscheinen; wer dies Attentat auf den Magen der Volksmassen aber überhaupt noch abzuwenden hofft, wird keinen Anlass zum Triumph darin sehen, dass die Möglichkeit seines Gelingens näher gerückt wird, wie es der Zweck der offiziösen Kundgebungen ist und vermutlich auch ihre Wirkung sein wird.

Es gibt keine Partei, die so viel lärmt und spektakelt wie die agrarische, aber es gibt auch keine, die mitten in allem noch so sinnlos klingenden Wortschwall ihr praktisches Ziel so kaltblütig und unverwandt im Auge behält, wie sie. Gerade das satte Behagen, womit die liberalen Blätter augenblicklich konstatieren: Da haben nun die Agrarier ordentlich eins von der Regierung abbekommen, ist ein Erfolg der agrarischen Taktik. Wenn all das Trommelwirbeln und Trompetenblasen, das die Heißsporne des Brotwuchers vollführen, nur die eine Wirkung hätte, dass der Philister sich schon beglückwünscht, wenn es nur bei dem Zolltarifentwurf der Regierung bleibt, so hätte es sich reichlich bezahlt gemacht. Keine bequemere Manier, einen Gegner zu entwaffnen, als indem man ihm solche groteske Schreckbilder vormalt, dass er sich lieber gleich auf Gnade und Ungnade unterwirft. Freilich gehört dazu ein Gegner wie der deutsche Liberalismus, aber die ostelbischen Junker kennen ihre Leute und haben oft genug aus ihrem Schreien, Schreien und abermals Schreien bare Münze geschlagen, um das erprobte Rezept auch beim Zolltarif zu versuchen.

Nun soll es eine Blamage für die agrarische Agitation sein, dass sie sich schließlich mit einem weit geringeren Maße dessen begnügt, was sie ursprünglich gefordert hatte, oft unter den heiligsten Beteuerungen, dass sie verflucht sein wolle, wenn sie sich mit einem geringeren Maße begnügen würde. Allein dies Los ist auch das regelmäßige Los des Liberalismus, nur mit dem Unterschied, dass er sich gewöhnlich noch viel gründlicher den Mund wischen muss und dass er sich von Position zu Position zurückdrängen lässt, während das Junkertum von vornherein einen gewaltigen Aufschlag macht, um tatsächlich das zu erreichen, was es wirklich erreichen kann und will. Den politischen Schacher verstehen die Junker aus dem ff, und wenn sie über den jüdischen Schacher lästern, so ist ihr christlich-germanischer Schacher viel gemeingefährlicher und namentlich viel raffinierter.

Sie haben zudem ihre guten Freunde in der Regierung, und wenn die offiziöse Presse die Meute zurückpfeift, so entspricht dies vermutlich den Wünschen der junkerlichen Brotwucherer selbst oder geschieht sogar auf ihren Anstoß. Nachdem sie mit ihren Drohungen glücklich erreicht haben, dass der Philister sich abermals ins Bockshorn jagen lässt, müssen sie auch darauf bedacht sein, den Bogen nicht zu straff zu spannen und der Steigerung des Brotwuchers nicht wirkliche Hindernisse in den Weg zu wälzen. Namentlich das Hinschleppen der Kommissionsverhandlungen über die Transitlager und Ursprungszeugnisse war ein bedenkliches und zweischneidiges Spiel, das beinahe den Verdacht erwecken konnte, als sei die Auflösung der Junkerklasse schon so weit fortgeschritten, um sie ihre praktischen Vorteile nicht mehr richtig erkennen zu lassen. Hiergegen einzuschreiten, mochte ihren Freunden in der Regierung ratsam erscheinen, und die Liberalen könnten sich beglückwünschen, wenn sie in ähnlichen Fällen ebenso gelinde und sachlich gerüffelt würden wie die agrarischen Brotwucherer in diesem Falle. In der wohlwollendsten Weise warnt sie die Regierung davor, nicht Dinge zu verlangen, die ihnen bei der heutigen industriellen Entwicklung des Deutschen Reiches kein Bundesrat und kein Reichskanzler bewilligen könne, und stellt damit nur fest, was die alten ehrlichen Brotwucherer, etwa von einer verlorenen Vorhut abgesehen, selbst sehr gut wissen.

Dabei unterlässt die Regierung sogar, ihrer Warnung irgendeine kategorische Form zu geben, sondern drückt sich, wie unsere Altvorderen zu sagen pflegten, so ohnmaßgeblich aus, dass die Agrarier noch nicht alle Hoffnung aufzugeben brauchen, wenigstens etwas mehr herauszuschlagen. In dieser Hoffnung verharren einzelne ihrer Blätter noch auf dem trutziglichen Standpunkt des non possumus; andere aber, und die einflussreicheren, lenken ein und versprechen Besserung. Das ist nun eine nichts weniger als frohe Aussicht, und wir beneiden die Liberalen nicht um die Illusionsfähigkeit, die sich daran erquickt, dass die Junker durch die Regierung gezwungen worden seien, vom hohen Rosse herabzusteigen.

Glücklicherweise liegt die Entscheidung über den Zolltarif nicht bei den liberalen Philistern, denn sonst wäre sie längst verspielt. Andere Leute lassen sich nicht so leicht durch die Scheinmanöver der Junker täuschen, und für sie bleibt der Zolltarifentwurf, so wie er liegt und steht, der wirkliche Feind, der aufs Haupt geschlagen werden muss. Im großen und ganzen haben sich die Aussichten darauf in letzter Zeit mehr verstärkt als vermindert, was denn auch sein Teil zu der Vernunftpredigt der Regierung an die Adresse der Agrarier beigetragen haben mag. Den Großindustriellen wie dem Zentrum wird doch angst und bange bei ihrem Bunde mit dem junkerlichen Brotwucher, und das „Prestige" des Grafen Bülow hat sich so gründlich und so schnell abgewirtschaftet, dass solange er den Posten des Reichskanzlers bekleidet, eine geschickte und kräftige Opposition mindestens die Aussicht hat, die Frage vor die Triarier zu bringen, sie bis zu den nächsten Reichstagswahlen hinzuziehen. Dann wird die Schlacht auf freiem Blachfelde geschlagen werden, und den Gegnern des Brotwuchers braucht um ihren Ausgang nicht bange zu sein.

Es wird dann auch noch manche andere Rechnung beglichen werden, so die Rechnung wegen der Weltpolitik und der uferlosen Flottenpläne, die durch den neulich vom „Vorwärts" veröffentlichten Erlass des Staatssekretärs für die Marine zur peinlichen Überraschung ihrer Bewunderer und Förderer auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Es ist einer jener boshaften Witze, die der Kurs Bülow auf sich selbst zu machen liebt, wenn er den verantwortlichen Redakteur des „Vorwärts" wegen Hehlerei verfolgen lässt, weil unser Genosse ein amtliches Aktenstück veröffentlicht hat, dessen für den Reichstag höchst wertvollen Inhalt die Regierung gleichwohl der Volksvertretung zu verhehlen für gut befunden hatte. Der Reichstag selbst wird in den nächsten Tagen die Gelegenheit haben, sich darüber mit Herrn v. Tirpitz auseinanderzusetzen; die Mohrenwäsche, die dieser Herr durch seine Offiziösen an sich selbst hat vornehmen lassen, will nicht viel bedeuten. Alle Tüfteleien helfen darüber nicht weg, dass der Reichstag, und in erster Reihe das Zentrum, ein wenig über den Löffel barbiert worden ist, und eine halbwegs selbstbewusste Volksvertretung hätte den dringendsten Anlass, die Gelegenheit zur nachdrücklichsten Wahrung ihrer Rechte zu benutzen. Eine andere Frage ist, ob es wirklich geschehen wird, und eine dritte endlich, ob, wenn sich Herr Bachem oder Herr Lieber zu einer donnernden Rede aufschwingen sollte, die Regierung sich davon imponieren lassen wird.

Die bürgerlichen Parteien des Reichstags haben zu lange und zu schwer gesündigt, indem sie der Regierung wieder und wieder eine willfährige Mehrheit stellten, als dass sie nun mit einem Schlage sich den Respekt wiedererobern könnten, den sie durch ihre eigene Schuld längst verloren haben. Ein französischer, wir wissen im Augenblick nicht welcher, Parlamentsredner, der immer gehofft und vertraut hatte, bis endlich der Augenblick kam, wo sich ihm die niederschmetternde Erkenntnis aufdrängte, dass all sein Hoffen und Vertrauen ihm nichts anderes eingebracht habe, als dass er bei der Regierung in um so größere Missachtung verfallen war, brach auf der Tribüne mit dem Schmerzensschrei zusammen: Gott und die Menschen müssen mich verfluchen, dass ich solche Zustände herbeigeführt habe. Die Klage war so ohnmächtig, wie sie beweglich war, aber die platte Selbstgefälligkeit unserer ultramontanen Staatsmänner wird es nicht einmal dazu bringen; die spreizen sich in ihren Löwenfellen noch, wenn selbst Herr v. Tirpitz, der doch auch kein überwältigendes Licht ist, mit ihnen spielt wie die Katze mit der Maus.

Nirgends bewährt sich das Wort der Bibel, dass sich die Sünden der Väter noch an den Kindern und Enkeln rächen, so sehr wie in der Politik. Dafür, dass vor vierzig Jahren das preußische Abgeordnetenhaus seinen Konflikt mit der Krone nicht ehrlich ausgeschlagen hat, muss heute der deutsche Reichstag noch im Schatten tagen. Und es wird nicht eher besser werden, als bis die Wähler eine „konfliktslüsterne" Mehrheit in den Reichstag senden. Einiges Zutrauen darf man in dieser Beziehung schon auf die nächstjährigen Wahlen setzen, vorausgesetzt, dass Herr v. Bülow so weiter arbeitet wie in letzter Zeit und dass die Frage des Brotwuchers zur ersten Wahlparole wird. Das Ziel winkt jetzt in greifbarer Nähe, und auf den Grafen Bülow ist auch sicherer Verlass.

So harmlos, wie jener alte, würde dieser neue Konflikt nicht ausgehen. Er würde die Volkssache ein gutes Stück vorwärts bringen, denn nicht mehr die Bourgeoisie, sondern das Proletariat würde seine Kerntruppen stellen.

Kommentare