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Franz Mehring 19030909 Bebel und der „Vorwärts"

Franz Mehring: Bebel und der „Vorwärts"

9. September 1903

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 208, 9. September 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 607-610]

Die Erklärung, die Genosse Bebel in unserer Sonntagsnummer veröffentlichte, hat bedeutenden Staub aufgewirbelt, außerhalb der Partei wie innerhalb der Partei. Die bürgerlichen Pressorgane leitartikeln zumeist darüber, manche sogar zweimal, doch ist, was sie sagen, durchweg ohne jede politische Bedeutung. Sie fühlen einmal wieder Frühlingswehen und Knospendurchbruch in ihren welkenden Leibern und verkünden die „Spaltung" der deutschen Sozialdemokratie, wovon nach der Erklärung des Genossen Bebel so wenig die Rede sein wird, wie vor ihr die Rede davon war.

Innerhalb der Partei hat die Erklärung Bebels aber in erfreulicherweise das geschaffen, was sie schaffen sollte: nämlich Klarheit gegenüber den Vertuschungsversuchen, in denen sich der „Vorwärts" gefiel. Wenn das Zentralorgan der Partei überhaupt eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat, so ist es die, ein sicherer Führer durch die praktischen und prinzipiellen Differenzen zu sein, die in einer so großen Partei, wie der deutschen Sozialdemokratie, notwendig auftauchen müssen und gerade durch die historische Entwicklung der modernen Arbeiterbewegung immer wieder aufgeworfen werden. Es ist in erster Reihe seine Pflicht, die auftauchenden Probleme, über die gestritten wird, gründlich zu untersuchen, ihre Bedeutung mit allen Mitteln, über die ein von der Partei so reich ausgestattetes Blatt verfügt, den Parteigenossen klarzulegen, kurzum eine Standarte der großen Parteigrundsätze zu sein. Es ist ihm dann möglich, die vorhandenen Meinungsverschiedenheiten in der Partei auf das denkbar geringste Maß zurückzuführen, das heißt auf die historischen Bedingungen, aus denen sie tatsächlich erwachsen, aus ihnen zu scheiden, was die Partei schädigen, aus ihnen zu entwickeln, was die Partei stärken kann.

Wie wenig der „Vorwärts" nun schon seit langer Zeit dieser wichtigen, um nicht zu sagen wichtigsten Aufgabe eines sozialdemokratischen Zentralorgans gerecht geworden ist, brauchen wir nicht weitläufig auszuführen. Ein Genosse, der lange Jahre in seiner Redaktion gearbeitet hat, schrieb gestern in der „Fränkischen Tagespost" von der „ganzen wechselvollen Stellung" des „Vorwärts" „zur Frage des Revisionismus", und das ist noch sehr milde ausgedrückt. Statt zu führen, hat sich der „Vorwärts" immer treiben lassen; statt die Probleme klarzustellen, hat er vielmehr das gerade Gegenteil getan und sie nach seinen Kräften zu vertuschen gesucht. Wir bestreiten weder den großen Fleiß noch die zeitungstechnische Geschicklichkeit, womit der „Vorwärts" hergestellt wird, aber von einem führenden Partei-, von einem sozialdemokratischen Prinzipienblatt besitzt er auch nicht die Spur.

Die notwendigen Wirkungen eines solchen Zustandes sind denn auch nicht ausgeblieben. So gut der Wille des „Vorwärts" gewesen sein mag, wenn er zu vertuschen suchte, statt aufzuklären, so verhängnisvoll sind die Folgen dieser Taktik gewesen. Bei dem großen Einfluss des Zentralorgans auf die kleine Parteipresse hat der „Vorwärts" jene prinzipiell-theoretische Unsicherheit förmlich herangezüchtet, die heute die Partei nicht zu ihrem Vorteil von den Zeiten unterscheidet, wo sie weniger stark war. Frieden predigen ist sicherlich eine sehr edle und schöne Sache, aber Friedensprediger, die selbst nicht wissen, was sie wollen, pflegen tatsächlich den ärgsten Unfrieden zu säen, wie eben wieder die gegenwärtige Lage zeigt.

Gab es je eine Gelegenheit, wo der „Vorwärts" der Partei einen großen Dienst erweisen konnte, so war es eben jetzt, wo der von revisionistischer Seite hervorgerufene Parteistreit auf seinen sachlichen Kern zu untersuchen war. Indem der „Vorwärts" alle Missverständnisse, Streitereien usw. ausschied, konnte er die streitige Frage so durchdringen, dass der Parteitag vor eine rein prinzipiell-praktische Frage gestellt worden wäre. Aber statt aufzuklären, legte er sich wieder aufs Vertuschen. In seinem berufenen Taktikartikel erklärte er, dass gar keine Meinungsverschiedenheiten in der Partei beständen. Was der „Vorwärts" nicht sieht oder nicht sehen will, das ist eben nicht da. Auf unsere Einwände, die in durchaus parteigenössischem Tone gehalten waren, fälschte er unseren Gedankengang, was er inzwischen aufrechtzuerhalten zwar nicht dreist genug, aber was er zurückzunehmen auch nicht ehrlich genug gewesen ist. Im Übrigen machte er uns den Vorwurf, immer Parteizwiste zu schüren, nach dem berühmten Muster der bürgerlichen Presse, die bekanntlich behauptet, dass die Arbeiter in völliger Ruhe leben würden, wenn sie nicht von den sozialdemokratischen Agitatoren aufgehetzt würden. Genosse Stadthagen hat in der Tat recht: Der „Vorwärts" behandelt die „Leipziger Volkszeitung" wie ein gegnerisches Blatt. Indessen kommt darauf nichts weiter an. Da die Auffassung, die wir von den Aufgaben der Parteipresse haben, der entsprechenden Auffassung des „Vorwärts" diametral entgegengesetzt ist, so kann er unsere Art zu redigieren unmöglich mit Wohlgefallen betrachten, und wir sterben nicht daran, wenn er seiner Abneigung einen etwas unwirschen Ausdruck gibt.

Schlimmer war, dass der „Vorwärts" sein Vertuschungssystem auch sonst fortsetzte. Seine Leser müssen noch immer annehmen, gegen seinen Taktikartikel habe sich in der Partei nichts geregt als eine verleumderische Stänkerei der „Leipziger Volkszeitung". Dass eine ganze Reihe andrer Parteiblätter, wie die „Sächsische Arbeiterzeitung" und die „Schwäbische Tagwacht", um nur zwei zu nennen, sachlich denselben Standpunkt vertreten haben wie wir, dass sie den wunderbaren Vorschlag des „Vorwärts", aus dem Dresdner Parteitage ein Paradefest à la Katholikentag zu machen, nachdrücklich abgelehnt, dass sie verlangt haben, in Dresden müsse eine ehrliche und klare Auseinandersetzung über die innern Parteidifferenzen stattfinden, das wissen die Leser des „Vorwärts" noch immer nicht. Dann aber schlug dem Vertuschungssystem des „Vorwärts" den Boden aus, dass er die Einsendungen Bebels zurückwies.

Unsre Leser wissen aus unsrer gestrigen Nummer, wie Genosse Gerisch das von ihm vorher gebilligte Verfahren des „Vorwärts" gegen Bebel zu rechtfertigen versucht hat. Wir müssen aber gestehen, dass wir uns einen unglücklicheren Rechtfertigungsversuch nicht wohl denken können. Die Redaktion des „Vorwärts" habe innerhalb ihrer Kompetenz gehandelt, die Partei solle sich doch freuen, dass ihre Redakteure keine Eunuchen, sondern Männer seien, Bebel unterstehe auch dem Organisationsstatut der Partei usw. Das ist alles so richtig, wie es gemeinplätzlich ist und den eigentlichen Kern der Sache umgeht. Gewiss, Bebel ist kein Gott, er hat sich schon manches Mal verhauen und wird von diesem unveräußerlichen Menschenrechte möglicherweise auch künftig Gebrauch machen, aber eine vierzigjährige Parteiarbeit, namentlich wie sie Bebel vollbracht hat, ist am Ende doch kein Pappenstiel, und wenn Bebel es für nötig hält, im Interesse der Partei sich öffentlich zu äußern, so sollte ihm jedes Parteiblatt, das er darum angeht, auch seine Spalten öffnen. Wenigstens werden wir stets so verfahren, auch auf die Gefahr hin, dass Genosse Gerisch uns nicht mehr für Männer, sondern nur noch für Eunuchen hält.

Die Masse der Parteigenossen hat auch sofort den wirklichen Kern der Sache erfasst. Dafür zeugt die Erklärung der Presskommission des „Vorwärts" und die Resolution der Parteikonferenz für Berlin und die Provinz Brandenburg. Mit Bebels Vorgehen ist die Vertuschungskampagne des „Vorwärts" gescheitert, und der Parteitag wird nunmehr zu entscheiden haben, ob die künftige Taktik der Partei nach den Grundsätzen des Marxismus oder des Millerandismus1 geregelt werden soll. Dass diese Klärung nicht zu erreichen war, ohne dass jener Staub aufwirbelte, von dem wir im Eingange dieser Zeilen sprachen, mag zu bedauern sein, aber die Schuld daran fällt nicht auf Bebel, sondern auf den „Vorwärts".

1 Erscheinung des Opportunismus, so genannt nach Alexandre Millerand, der als erster sozialistischer Abgeordneter 1899 Mitglied des reaktionären französischen Ministeriums mit General Galliffet, dem Henker der Pariser Kommune, wurde und damit die Arbeiterbewegung verriet.

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