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Franz Mehring 19030831 Das Erste, was not tut

Franz Mehring: Das Erste, was not tut

31. August 1903

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 200, 31. August 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 597-599]

Nachdem die Parteiversammlungen, die in den letzten Wochen zur Beschickung des Parteitags überall im Reiche abgehalten worden sind, sich in weit überwiegender Mehrheit dahin ausgesprochen haben, auf dem Dresdner Parteitag endlich einmal klare Bahn zu schaffen über die Taktik der Partei, veröffentlicht der „Vorwärts" in seiner Sonntagsnummer einen Leitartikel, worin er nachzuweisen versucht, dass diese klare Bahn längst bestände, und demgemäß den taktischen Auseinandersetzungen der letzten Zeit jede Bedeutung abspricht. Er zählt sie zu den nun einmal üblichen Sommerdiskussionen, die zwar nichts nützen, aber auch nichts schaden, jedoch erfüllt ihn die augenblickliche politische Lage mit der Sorge, man könnte auch nur einen irgendwie wesentlichen Teil der kostbaren Dresdner Zeit mit zwecklosen internen Auseinandersetzungen verschwenden.

Diese Sorge des „Vorwärts" ist an sich sehr berechtigt. Es ist ja klar, dass, wenn die Delegierten zum Parteitag nahezu in allen Teilen des Reichs den Auftrag erhalten haben, interne Auseinandersetzungen in Dresden hervorzurufen, dies auch geschehen wird. Hält der „Vorwärts" diese internen Auseinandersetzungen für „zwecklos", so ist das seine subjektive Ansicht, die als solche natürlich ihr gutes Recht hat. Aber die Arbeitermassen, deren untrügliches politisches Urteil der „Vorwärts" sonst als die entscheidende Instanz rühmt, sind anderer Ansicht; sie haben das ewige Anzweifeln unseres Programms aus der Partei heraus, die unaufhörlichen Bemühungen, aus der Arbeiterpartei des revolutionären Klassenkampfs eine „sozialistisch-demokratische Reformpartei" zu machen, endlich einmal satt, und eben weil sie mit dem „Vorwärts" darin übereinstimmen, dass wir sehr ernsten Zeiten entgegengehen, verlangen sie, dass mit diesen Dingen in Dresden Schicht gemacht werde.

Der „Vorwärts" scheint allerdings von jenem ewigen Anzweifeln des Parteiprogramms und jenen unaufhörlichen Bemühungen nichts gehört zu haben, obgleich das fürchterliche Hallo, das die gegnerische Presse seit reichlich einem halben Dutzend Jahren darüber macht, wohl zu seinen Ohren gedrungen sein könnte. Er spricht von der Vizepräsidentenfrage als einem „kläglichen Problemchen", das dem „unerforschlichen Ratschluss eines grübelnden Parteischriftstellers" entsprungen sei. Der arme Bernstein! Wir werden niemals die großen Dienste vergessen, die er der Partei in schwerer Zeit geleistet hat, und wenn wir seinen Wegen schon seit lange nicht mehr folgen können, so haben wir nie daran gezweifelt, dass er nach seinem besten Wissen und Gewissen das Wohl der Partei will. Er hat die Vizepräsidentenfrage in aller Ehrlichkeit als ein Glied seiner revisionistischen Bestrebungen aufgerollt, und so rollte sie auch der Genosse Vollmar in seiner Münchner Rede auf. Dann aber, als gerade dieser Tropfen Wasser den Geduldseimer der Parteimassen überlaufen ließ, hieß es: Wie? dieser Tropfen Wasser, diese „qualifizierte Dummheit", dieses „klägliche Problemchen" soll den Parteitag beschäftigen? Die so sprechen, tun dem Genossen Bernstein in der Tat bitteres Unrecht. So wie Genosse Bernstein die Frage aufgeworfen hat und so wie sie mit Recht von den Arbeitermassen aufgefasst worden ist, als ein Glied in einer seit lange gesponnenen Kette bestimmter Bestrebungen, fordert sie das Urteil des Parteitages heraus, der, wenn er sich diesem Urteile entzöge, allerdings jenem „Vertuschen" und „Komödiespielen" verfallen würde, vor dem Genosse Bebel mit so großem Rechte gewarnt hat.

Ähnlich liegt es mit der Frage der Mitarbeit von Parteischriftstellern an bürgerlichen Blättern. Fünf Parteimitglieder, darunter drei, die nunmehr dem Reichstage angehören, haben von dem Parteivorstande eine Entscheidung in dem Sinne beansprucht, dass Parteischriftsteller an der Hardenschen „Zukunft" mitarbeiten dürfen, an einem Blatte, das schon vor zehn Jahren wegen seiner servilen Liebedienerei vor Bismarck und wegen seiner ruchlosen Verleumdung der russischen Freiheitskämpfer von den Genossen Liebknecht, Bernstein und Kautsky als infam gekennzeichnet worden ist, das seit zehn Jahren jede denkbare Büberei an der deutschen Sozialdemokratie verübt hat. Der Parteivorstand hat selbstverständlich die von ihm gewünschte Entscheidung abgelehnt, im Gegenteil erklärt, es widerstreite dem Parteiinteresse, dass Parteischriftsteller an solchen Blättern mitarbeiten, die gehässige oder hämische Kritik an der Partei üben. Auf erneute Proteste hat dann der Parteivorstand beschlossen, seine Entscheidung dem Parteitage zu unterbreiten, der sich also damit zu beschäftigen haben wird, gleichviel ob es der „Vorwärts" für „zwecklos" hält oder nicht.

Dass solche Fragen den Parteitag überhaupt beschäftigen – wir empfinden es so schmerzlich wie der „Vorwärts"; ja, wir empfinden es in unserem Sinne viel schmerzlicher, als es der „Vorwärts" in seinem Sinne nur immer empfinden mag. Allein die Schuld daran tragen einzig die Genossen, die derartige Fragen aufgeworfen haben und in deren Hand es übrigens liegt, die kostbare Zeit des Parteitags mit diesen Dingen nicht länger als fünf Minuten aufzuhalten. Sie brauchen ja nur ein für allemal auf „qualifizierte Dummheiten" und „klägliche Problemchen" zu verzichten, und der Parteitag wird nicht einmal fünf Minuten nötig haben, um damit aufzuräumen. Aber nach dem bisherigen Verlaufe schweigend über diese Dinge weggehen, wäre das Verhängnisvollste, was der Parteitag tun könnte, wenn auch selbstverständlich nicht tun wird.

Der „Vorwärts" kennt „nur eine Aufgabe" des Parteitags: „Rat zu pflegen, auf welche Weise, in welchen Formen wir unser Dreimillionenmandat für die Interessen des Proletariats, des deutschen Volkes und der Zukunft nutzbar zu machen vermögen." Wenn damit gesagt sein soll, dass es eine Hauptaufgabe des Parteitags sein wird, die praktischen Aufgaben zu erörtern, die sich aus dem Wahlsiege des 16. Juni ergeben, so haben wir dagegen so wenig einzuwenden, dass wir uns erst vor einigen Tagen eingehend mit solchen praktischen Aufgaben befasst haben. Aber wir machen kein Hehl daraus, dass dieses „Ratpflegen" rein akademisch bleiben und in der Tat eine nutzlose Vergeudung kostbarer Zeit sein wird, wenn der Parteitag nicht endlich einmal den proletarisch-revolutionären Klassencharakter der Partei von jenen ewigen Anzweiflungen befreit, die seit sechs Jahren den unaufhörlichen Spott der Gegner hervorrufen, das heißt, den Charakter der Partei, der ihr in den schweren Kämpfen der Zukunft allein den Sieg verbürgt. Dies ist das Erste, was not tut.

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