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Franz Mehring 19031117 Defizit und Weltpolitik

Franz Mehring: Defizit und Weltpolitik

17. Januar 1903

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 13, 17. Januar 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 523-525]

Am nächsten Montag wird im Reichstag die Generaldebatte des Reichsetats beginnen und neue Stürme über das Haupt der unfähigen Staatskunst heraufbeschwören, die es so ausgezeichnet versteht, den Reichskarren immer gründlicher zu verfahren. All das frivole Geschwätz von der Unerschöpflichkeit der Reichsfinanzen, womit vor drei Jahren die uferlosen Flottenpläne durchgedrückt wurden, hat sich in blauen Dunst verflüchtigt; das Reichsdefizit ist da, und neue Steuern werfen ihre unheimlichen Schatten vor sich her; dafür fehlt selbst der magerste Lorbeer, der die getäuschte Nation über die herbe Notwendigkeit trösten könnte, von Jahr zu Jahr den Schmachtriemen enger anzuziehen.

Es gab eine Zeit, wo das Defizit der sicherste Vorbote der Revolution war. So am Ende des 18., so auch noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese altväterisch-patriarchalischen Tage sind vorbei.

Mit dem Auswachsen der kapitalistischen Gesellschaft hat auch die Pumpwirtschaft enorme Dimensionen angenommen; um die alten Löcher zu stopfen, werden immer neue und immer größere Löcher aufgerissen. Freilich, wenn das Einmaleins in unserer glorreich fortgeschrittenen Zeit noch nicht jede Beweiskraft verloren hat, so muss und wird einmal ein fürchterlicher Krach kommen.

Was Moltke ehedem gesagt und neuerdings der Warschauer Bankier Bloch in seinem dickleibigen Werke über den Krieg mit aller ziffernmäßigen Genauigkeit bewiesen hat: „Noch fünfzig Jahre bewaffneten Friedens, und Europa ist ruiniert!", das ist eine Prophezeiung, die sich unfehlbar erfüllen wird. Aber daran denken einige Staatsweisen nicht, und davor fürchten sie sich auch nicht; je mehr die kapitalistische Wirtschaft in ihrer Sünden Blut tritt, um so groteskere Trugbilder gaukelt sie ihren Gläubigen vor, und wie sollte dies Geschlecht, das beinahe so viel Kirchen baut wie Mordwerkzeuge rüstet, nicht darauf rechnen, dass der liebe Gott an jedem Wochenschluss die Zeche mache?

Vor allem an der Weltpolitik werden die Vertreter des arbeitenden Volks in den bevorstehenden Etatsdebatten ihre einschneidende und aufklärende Kritik üben. Es hat schon manche Nation gegeben, die um trügerischer Lorbeeren willen ihre kostbarsten Kräfte in den unersättlichen Schlund der Eroberungspolitik geworfen hat, aber die deutsche Nation ist die erste, die Milliarden über Milliarden verschleudert, um Blamage über Blamage zu ernten. Es sind jetzt bald zwanzig Jahre, seitdem die deutsche Kolonialpolitik begonnen hat. Sie trat bezeichnenderweise zuerst als ein Mittel auf, um die deutschen Wähler über den beginnenden Krach der Bismärckerei hinwegzutäuschen, in den Reichstagswahlen von 1884. Damals ahnte noch niemand, zu welchem ungeheuerlichen Ungetüm sie sich auswachsen würde, und Bismarck selbst war nüchtern genug, die Kosten des Humbugs nicht allzu sehr anschwellen zu lassen. Sowenig er sich scheute, die traurige Hilfe in seiner drängenden Not anzunehmen, so glaubte er es doch seinem diplomatischen Rufe schuldig zu sein, sich als den Getriebenen, nicht als den Treibenden hinzustellen; er pflegte mit Vorliebe zu betonen, dass er eigentlich und von Haus aus kein Kolonialschwärmer gewesen sei.

Die heutigen Weltpolitiker bestreiten das nun auch nicht, schon weil sie es nicht bestreiten können. Aber sie haben sich dafür die geniale Wendung zurechtgelegt: Ja, das war eben die Schattenseite des Säkularmenschen; er musste fallen, weil er nicht begriff, dass die Stunde der deutschen Weltpolitik geschlagen hatte, weil er das Deutsche Reich für „gesättigt" hielt, weil er nicht einsah, dass die „gepanzerte Faust" in allen exotischen Weltteilen möglichst viel Land an sich raffen müsse, und seien es auch nur große Sand- und Sumpfstrecken. Die kapitalistische Wirtschaft muss sich weiter und weiter ausdehnen; bleibt sie stehen, so geht sie auch zurück; die Nationen, mit denen Deutschland auf dem Weltmarkt zu konkurrieren hat, England, Russland, Frankreich, besitzen bereits ungeheure Kolonialreiche. Trachtet Deutschland nicht danach, einen gleichwertigen Besitz zu erlangen, so gerät es unfehlbar ins Hintertreffen und kann auf dem Weltmarkt nicht mehr als ebenbürtige Macht konkurrieren.

Vom kapitalistischen Standpunkt liegt in dieser Beweisführung eine gewisse Berserkerlogik, und es ist möglich, dass bei Bismarcks nüchternem Urteil über die Kolonialpolitik die Beschränktheit des ostelbischen Landjunkers mitgesprochen hat, dessen Nachfahren ja auch heute von der „grässlichen Flotte" nichts wissen wollen. Aber es ist sicherlich das verkehrteste Mittel, die Gefährlichkeit des kapitalistischen Stillstandes dadurch zu überwinden, dass man sich die Augen verbindet, um entschlossen in sein offensichtliches Verderben zu rennen. Was hat denn die deutsche Kolonialpolitik seit bald zwanzig Jahren gewonnen? Einige Brosamen, die vom Tische der großen Kolonialmächte gefallen sind und unendlich viel mehr gekostet als eingebracht haben, das ungeheuere und immer wachsende Defizit der uferlosen Flotten Wirtschaft und die achselzuckende Missachtung der internationalen Welt über die Rolle des Hansdampfs, die die offizielle Reichspolitik an möglichst viel Ecken und Enden der Meere spielt.

Den einzigen Weg, den es für den deutschen Kapitalismus gab, sich nicht nur ebenbürtig auf dem Weltmarkte zu behaupten, sondern in der Tat einmal an der Spitze der modernen Zivilisation zu marschieren, haben die großen Denker des Sozialismus schon vor Jahrzehnten ausgesprochen: Lassalle, indem er sagte, dass der Nation die Herrschaft auf dem Weltmarkte gehören werde, die sich zuerst zu einer sozialen Reform im großen Maßstabe entschließe, Marx, indem er eine gesellschaftliche Reform für notwendig erklärte, die, solange es noch Zeit sei, die Produktions- und Verkehrsweise nach den aus den modernen Produktivkräften hervorgehenden Bedürfnissen der Produktion selbst umwälze und dadurch die Erzeugung neuer Produktivkräfte möglich mache, welche die Überlegenheit der deutschen Industrie sichere und so die Nachteile der geographischen Lage ausgleiche.

Diese weltgeschichtliche Weltpolitik ist freilich für den Bülow des Hungertarifs ein ebenso unentzifferbares Rätsel, wie sie es für den Bismarck des Sozialistengesetzes war. Ebendeshalb aber werden die Erben der Lassalle und Marx mit den Bülows so fertig werden, wie sie mit den Bismarcks fertig geworden sind. Sie allein sind die Träger einer schöpferischen Weltpolitik, einer Politik, die eine Welt zu schaffen vermag, worin die Menschheit endlich ein menschenwürdiges Dasein führen wird.

Von diesem sichern und unerschütterlichen Standpunkt aus werden unsere parlamentarischen Vertreter in den bevorstehenden Etatsdebatten des Reichstags die Weltpolitik des Defizits kritisieren, die der deutsche Kapitalismus allein noch treiben kann.

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