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Franz Mehring 19030429 Der Liberalismus im Wahlkampf

Franz Mehring: Der Liberalismus im Wahlkampf

29. April 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Zweiter Band, S. 129-132. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 547-550]

Der alte Attinghausen aus Schillers „Teil" steht bei unseren Liberalen augenblicklich in hohen Ehren; sie werden nicht müde, oder wenigstens die gescheiteren von ihnen werden nicht müde, zu rufen: Seid einig, einig, einig!

Beschämt durch die traurige Rolle, die der Liberalismus in diesem Wahlkampf wieder zu spielen begonnen hat, befürworten sie nicht etwa eine Verschmelzung der liberalen Fraktionen und Gruppen, deren es nicht ganz ein halbes, aber mehr als ein viertel Dutzend gibt; zu solcher Vermessenheit wagt sich selbst die kühnste Phantasie der liberalen Ideologen nicht zu versteigen. Aber sie meinen, wenigstens für den Wahlkampf ließe sich doch ein Zusammengehen der „bürgerlichen Linken" ermöglichen. Sie sei ja in der praktischen Politik fast immer einig; deshalb solle sie gemeinsame Ziele für die nächste Zeit aufstellen und diese allen anderen Parteien gegenüber nach rechts und links geschlossen vertreten. „Man muss die Wähler begeistern, sie entflammen, soll Großes erreicht werden. Und um Großes handelt es sich. Es muss ohne Spitze nach irgendeiner Seite ausgesprochen werden, dass für das Parteigerinnsel der Linken es schwer halten wird, die Wählerschaft zu enthusiasmieren, weil es in kleine Bächlein zerfließt, aus denen sich kein majestätischer Strom bilden will." So wird neben Attinghausen auch Saint-Simon als Schwurzeuge an die liberale Fahne gerufen: In der Tat, man muss begeistert sein, um große Dinge zu vollbringen.

An und für sich haben wir gegen diese feierlichen Beschwörungen nichts einzuwenden. Ginge es allein nach unseren Wünschen, so würden sie sich sogar erfüllen. Ein „majestätischer Strom" der liberalen Wahlbewegung wäre uns ganz recht, zumal da hinlänglich dafür gesorgt ist, dass er die sozialdemokratischen Äcker nicht verwüsten kann; befruchtet er dagegen die Einöden, worauf das klerikal-reaktionäre Unkraut so üppig gedeiht, so wäre uns damit sehr gedient. Allein wir haben nicht das geringste Zutrauen darauf, dass die beredtesten Aufforderungen zur Einigkeit die liberale Uneinigkeit beseitigen werden, sei es auch nur für diesen Wahlkampf. Vielmehr sind sie nur ein neues Zeugnis für die unheilbaren Illusionen, womit der deutsche Liberalismus sich seit vierzig Jahren abgewirtschaftet hat. Man könnte sogar mit größerem Rechte umgekehrt sagen wie jene Einheitsschwärmer: Gerade in seiner Uneinigkeit bedeutet der Liberalismus im Wahlkampf noch etwas, wenn auch wenig genug; gelänge es, seine Splitter und Splitterchen auf irgendwelche verschwommene Phrasen zu einigen, so würde er zerfließen wie ein wesenloses Wolkengebilde.

Jene Blätter, die aus der Uneinigkeit des Liberalismus seine politische Ohnmacht demonstrieren, appellieren an Pontius und Pilatus. Indem sie von zwei Wirkungen die eine zur Ursache erheben, glauben sie Ursache und Wirkung erschöpfend erklärt zu haben. Es ist so, als wenn man ein Gewitter damit erklären wollte, dass man den Donner als die Ursache des Blitzes oder den Blitz als die Ursache des Donners deklarierte. Liberale Uneinigkeit und liberale Ohnmacht sind die Folgeerscheinungen der Tatsache, dass die deutsche Bourgeoisie weder gegen den Absolutismus und den Feudalismus, noch gegen den Sozialismus, weder gegen die überlebten Mächte der Vergangenheit, noch gegen die heranwachsende Macht der Zukunft eine ehrliche und konsequente Politik getrieben hat. Der Liberalismus war vor vierzig Jahren ebenso ohnmächtig wie heute, das heißt zu einer Zeit, wo er in der Tat sich rühmen konnte, die ganze Nation hinter sich zu haben, wo selbst in die preußische Geldsackvertretung trotz des ganzen gouvernementalen Wahldrucks nicht einmal ein Dutzend Konservativer gelangen konnte und das einzige sozialdemokratische Organ in Deutschland gerade nur 400 Abonnenten zählte. Schon diese Ziffer zeigt, wie vollkommen haltlos das Gerede ist, dass der Liberalismus, der in der preußischen Konfliktszeit eben daran gewesen sei, der Himmel weiß welche wundervollen Siege zu erfechten, durch den Abfall der Arbeiter das Spiel verloren habe. Mindestens ein Jahrzehnt lang war die Sozialdemokratie viel zu schwach, die liberalen Heldentaten zu hindern, ganz abgesehen davon, dass ihr diese Absicht immer vollkommen fern gelegen hat, dass sie sich immer, mit Worten wie mit Taten, gleich bereitwillig gezeigt hat, dem Liberalismus jede gewünschte Heeresfolge zu leisten, sobald er nur einmal die Miene machte, einen ernsthaften Kampf mit der politischen und sozialen Reaktion zu führen.

Richtig mag sein und richtig ist sogar zweifellos, dass der schwächliche Kampf des Liberalismus gegen jene Reaktion dadurch noch schwächlicher geworden ist, dass sich die Arbeiterklasse zu organisieren begann, um ihre Klasseninteressen zu vertreten. Allein daran trug nicht die Sozialdemokratie, sondern nur das böse Gewissen der Bourgeoisie oder – höflicher ausgedrückt – jene Unfähigkeit die Schuld, die wir schon als die eigentliche Ursache der liberalen Uneinigkeit wie der liberalen Ohnmacht gekennzeichnet haben: die Unfähigkeit, eine ehrliche und konsequente Politik gegen König- und Junkertum auf der einen und gegen das Proletariat auf der anderen Seite zu treiben. Sie musste sich darüber klar sein und war sich auch im Grunde darüber klar, dass sie ohne Hilfe der Arbeiterklasse den Absolutismus und Feudalismus nicht besiegen könne. Sie musste sich ferner darüber klar sein und war sich im Grunde auch darüber klar, dass sie im Augenblicke des Sieges den bisherigen Bundesgenossen als Gegner sich gegenüber haben werde. Allein statt daraus den Schluss zu ziehen, dass ein Pakt mit der Arbeiterklasse auf leidliche Bedingungen für sie die einzige Möglichkeit biete, einmal – wenngleich nicht auf ewig – zur Herrschaft zu gelangen, gefiel sie sich in einer schaukelnden und schwankenden Politik, die, soweit sie überhaupt noch eine erkennbare Tendenz hatte, nach dem Grundsatz verfuhr, dass der schmählichste Verrat der eigenen Grundsätze an Absolutismus und Feudalismus noch viel erträglicher sei als das kleinste ehrliche Zugeständnis an die Arbeiterklasse.

So hat sich denn jener Zustand entwickelt, den die liberalen Einheitsschwärmer ganz richtig mit den Worten schildern: „Die immer wiederholten Wandlungen, Sezessionen und Parteiverschiebungen sprechen ganze Bände. Die Konservative Partei besteht seit der Gründung des Reiches noch immer fort, die Sozialdemokratie auch und ebenso das Zentrum, aber innerhalb des Liberalismus hat es, abgesehen von der Nationalliberalen Partei, mehr als ein halbes Dutzend Parteien gegeben, die sich trennten und wieder verschmolzen, sich schlugen und vertrugen." So war es, und nichts kann verständlicher sein, als dass es so war. Die Konservative, die Ultramontane, die Sozialdemokratische Partei haben, jede in ihrer Art, Prinzipien; sie wissen die historischen Interessen der Klassen zu vertreten, deren politische Organisationen sie sind. Das weiß der Liberalismus aber nicht; er hat das historische Interesse der Bourgeoisie preisgegeben, und so rinnt er wie Flugsand aus- und durcheinander oder ballt sich zu kleinen Konglomeraten zusammen, je nach irgendwelchen untergeordneten Gesichtspunkten, nach den materiellen Bedürfnissen irgendwelcher Klassenfraktion, nach provinziellen oder selbst nur lokalen Kirchturminteressen, oder gar nur nach den persönlichen Rivalitäten der so genannten Führer. Einen halbwegs festen Bestand kann er sich nur noch dadurch sichern, dass er sich mit Haut und Haaren der Reaktion verkauft, wie es die Nationalliberale Partei getan hat.

So begreiflich die Klage und der Schmerz der liberalen Einheitsschwärmer über diesen trübseligen Zustand sind, sowenig wissen sie ihm abzuhelfen. Ihre Behauptung, dass alle die liberalen Schattierungen im Grunde ganz einig seien und deshalb unter einer Fahne marschieren könnten, ist in der Voraussetzung ebenso richtig, wie in der Schlussfolgerung falsch. Ein liberales Programm, das alle liberalen Fraktionellen unterschreiben könnten, lässt sich allerdings in fünf Minuten herstellen, aber deshalb noch lange keine liberale Schlachtordnung, die marschieren und schlagen kann. In dieser Beziehung wissen die liberalen Einheitsschwärmer bezeichnenderweise nur die eine Parole auszugeben: geschlossen nach rechts und links, mit anderen Worten dieselbe Parole, deren nur allzu getreue Befolgung den Liberalismus seit vierzig Jahren tiefer und tiefer in den Sumpf gelockt hat.

Wir verkennen dabei keineswegs, dass die Lage für den deutschen Liberalismus heute ungleich schwieriger ist, als sie vor vierzig Jahren war. In diesen Tagen haben die Leipziger Arbeiter eine kleine Schrift herausgegeben, aus der man urkundlich ersehen kann, wie leicht und wie wohlfeil die deutsche Bourgeoisie damals die treue Bundesgenossenschaft des Proletariats hätte haben können. Seitdem sind die sibyllinischen Bücher ungleich teurer geworden, das ist gewiss unbestritten und ebenso gewiss eine für die Bourgeoisie sehr unbequeme Lage der Dinge. Den Kampf, den sie vor vierzig Jahren noch führen konnte als die überlegene Leiterin der Arbeiterklasse, den kann sie heute nur noch führen, falls sie ihn anders wirksam führen will, als Hilfstruppe der Sozialdemokratie. Es ist vielleicht die demütigendste Zumutung, die je an das historische Selbstbewusstsein einer Klasse gestellt worden ist, und rein menschlich mag man verstehen, dass sich die Bourgeoisie dagegen aufs äußerste sträubt. Proben davon haben wir genug gerade in den letzten Tagen erlebt. Die Freisinnige Vereinigung, die in den Kämpfen um den Zolltarif konsequent genug war, gemeinsam mit der Sozialdemokratie zu operieren, erlässt einen Wahlaufruf, worin sie wieder wohlgemut auf die Angst des Philisters vor dem roten Gespenst spekuliert, und die ganz selbstverständlichen Bedingungen, die von der preußischen Delegiertenkonferenz für die sozialdemokratische Wahlbeteiligung an den preußischen Landtagswahlen gestellt worden sind, entreißen den liberalen Blättern den Schmerzensschrei: Lieber mag die Reaktion siegen, ehe wir uns solchen Bedingungen unterwerfen.

Vom rein menschlichen Standpunkt aus mag man das, wie gesagt, begreifen. Aber alles begreifen heißt in diesem Falle keineswegs alles verzeihen. Die demütigende Anforderung, sich mit der zweiten Stelle zu begnügen, wo ihr nach ihren historischen Existenzbedingungen die erste gebühren würde, stellt niemand anders an die Bourgeoisie als sie selbst. Sie hat es eben darnach getrieben, vierzig lange Jahre hindurch, und sie sollte deshalb nicht über andere Leute schelten, sondern an ihre eigene Brust schlagen mit dem reumütigen Bekenntnis: mea culpa, maxima mea culpa. Vor allem aber sollte sie, wenn sie sich nicht dazu überwinden kann, die Dinge zu nehmen, wie sie sind – und wir wiederholen, dass diese Überwindung für sie eine sehr schwierige Sache ist –, sich nicht in neuen Illusionen berauschen, sich nicht selbstgefällig in der Utopie spiegeln, dass sie „geschlossen nach rechts und links" in majestätischer Pose in den Wahlkampf rauschen könne, sondern sich an das halten, was sie praktisch noch leisten kann, um die herrschende Reaktion einzudämmen, ohne dass sie ihrem Selbstbewusstsein eine unbillige Zumutung zu stellen braucht.

Mit anderen Worten: Die liberalen Blätter, denen es noch einiger Ernst um die politische Opposition ist, sollten beizeiten darauf bedacht sein, wenigstens dem Verrat zu steuern, den die liberalen Wähler bei den Stichwahlen zu üben gewohnt sind. Hier ist die Gegenleistung längst von den sozialdemokratischen Wählern gezahlt worden und wird abermals gezahlt werden; hier handelt es sich für die liberalen Wähler einfach um eine politische Pflicht, die zu erfüllen eine Ehre und die zu vernachlässigen eine Schande ist. Diese Pflicht den liberalen Wählern nachdrücklich und rechtzeitig einzuprägen wäre praktisch viel nützlicher, als es nützlich ist, ihnen den Kopf mit nebelhaften Phantasien über den majestätischen Strom der liberalen Einigkeit zu verdunkeln.

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