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Franz Mehring 19031231 Der Streik in Crimmitschau

Franz Mehring: Der Streik in Crimmitschau

31. Dezember 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Zweiter Band, S. 417-420. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 620-624]

In den Jahrbüchern des proletarischen Emanzipationskampfes wird das heute ablaufende Jahr immer einen Ehrenplatz beanspruchen; in seiner Mitte der gewaltige Sieg des 16. Juni, an seinem Ende der Heldenkampf der Spinner und Weber in Crimmitschau. Die beiden großen Zweige der deutschen Arbeiterbewegung haben in diesem Jahre gleich glorreich ihre Feuerprobe bestanden; im politischen wie im gewerkschaftlichen Kampfe haben die Arbeiterbataillone fest und unerschütterlich ihre Fahne in allem Sturm und Drang der Feinde hochzuhalten gewusst.

Es ist unmöglich, den inneren Zusammenhang zu verkennen, der zwischen dem sozialdemokratischen Wahlsieg und der frivolen Aussperrung der Crimmitschauer Arbeiter durch ihre Ausbeuter besteht. Heute, wo das deutsche Proletariat den Spieß umgedreht hat, mag es den Textilbaronen der sächsischen Stadt unbequem sein, daran erinnert zu werden, dass sie die „Machtfrage" aufgeworfen haben, aber die Tatsache bleibt deshalb nicht weniger bestehen. An Bescheidenheit und Geduld haben es die Crimmitschauer Arbeiter nicht fehlen lassen; seit mehr als vier Jahren petitionieren sie um eine geringe Verkürzung der Arbeitszeit, und nur ein mäßiger Grad wohlwollenden Entgegenkommens hätte dazu gehört, den Streit im Keime zu ersticken. Aber die Fabrikanten wollten einmal darauf trumpfen, dass sie „Herren im eigenen Hause" seien, und in ihrem frevlen Übermut trieben sie die Dinge auf die Spitze, so dass an der örtlichen Reibung sich ein Klassenkampf entzündete, der weithin durch das Reich Bourgeoisie und Proletariat als feindliche Heerlager gegenüberstellt.

Auf Seite der Bourgeoisie stehen die Organe des Klassenstaats; unbedenklich, als müsste es so sein, wenden sie alle Machtmittel an, die ihnen im Interesse des Gemeinwohls anvertraut sind, um die bedrängten Arbeiter niederzuschlagen. Der schöne Traum von der unparteiischen Staatsgewalt, die über den einseitigen Klassenkämpfen als höhere Instanz waltet, zerrinnt bei dieser ernsthaften Probe, wie er noch immer bei jeder ernsthaften Probe zerronnen ist. Wir werden die letzten sein zu bestreiten, dass es im Klassenstaat so sein muss und nicht anders sein kann, allein in dem gehässigen Scharfsinn, den die Behörden des „roten Königreichs" aufbieten, um sich vor aller Welt als die Kommis des Kapitalismus zu bekunden und in dieser Lakaienlivree einher zu stolzieren, sind sie ihren Konkurrenten im übrigen Deutschland um eine Nasenlänge voraus. Sie verschmähen so recht aus Herzenslust „der Heuchelei dürftige Maske", und selbst vor ihrem gepriesenen „Fest der Liebe" hält ihr staatsretterischer Eifer des Zerstörens nicht inne. Lieber als eine Weihnacht wäre ihnen eine Bartholomäusnacht fürs Proletariat, wie es Freiligrath schon vor einem halben Jahrhundert mit seherischem Blicke aus der Seele der sächsischen Großmacht gesungen hat.

Auf der Seite der Bourgeoisie steht auch die Kirche, die kein Wort des Protestes gegen das Attentat auf ihr heiligstes Fest gehabt hat. Erst seitdem die empörten Proletarier dieser angeblichen Helferin der Armen aufzusagen beginnen, jammert sie, dass sie an dem Verbot der Weihnachtsbescherungen keinen Anteil gehabt habe. „Ich weiß deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärst! Weil du aber lau bist, und weder kalt noch warm, so werde ich dich ausspeien aus meinem Munde", wie geschrieben steht in der Offenbarung Johannis, 3. Kapitel, 15. und 16. Vers.

Auf der Seite der Bourgeoisie steht ferner die bürgerliche Intelligenz. Nichts jammervoller, als in den letzten Wochen die bürgerliche Presse über den Crimmitschauer Streik zu verfolgen, speziell diejenige Presse, die den Mund nicht voll genug nehmen kann mit ihrer Arbeiterfreundlichkeit, vorausgesetzt, dass die Arbeiter sich auf billige Forderungen beschränkten und diese Forderungen in friedlicher Weise geltend machten. Nun wohl, ist diese Voraussetzung jemals erfüllt, so von den Crimmitschauer Arbeitern in ihrem Kampfe um den Zehnstundentag. Wer noch das Unglück hat, an die Verheißungen der bürgerlichen Presse zu glauben, der musste erwarten, dass sie sich wie ein Mann für die Streikenden erheben würde, mit jenem ganzen Heldenmut, der sie nach ihrer eigenen Behauptung schmückt. Jedoch diese weltlichen Laodicäer treiben es nicht besser als die geistlichen; wenn sie nicht kurzweg gegen die Crimmitschauer Arbeiter die urältesten Tiraden über die Gemeingefährlichkeit oder doch Zweischneidigkeit des Streikens vom Stapel ließen, so begnügten sie sich, einige platonische Ermahnungen an die Fabrikanten zu richten, die diesen höchstens ein verächtliches Lächeln abnötigen, um dafür die Arbeiter mit hochmütigen Ratschlägen zu belästigen, die den also Beglückten auch nicht einen Strohhalm breit vorwärts helfen.

Es kann und soll nicht bestritten werden, dass schon mancher Streik Sympathie in der bürgerlichen Welt gefunden hat und durch diese Sympathie wirksam unterstützt worden ist. Selten aber mag ein Streik so berechtigt gewesen sein – berechtigt im Sinne der bürgerlichen Auffassung –, eine solche Teilnahme zu beanspruchen, als der Streik oder vielmehr die gewissenlose Aussperrung der Crimmitschauer Arbeiter durch ihre so genannten Arbeitgeber. Wenn sich gleichwohl die bürgerliche Welt – mit kaum zu erwähnenden Ausnahmen – offen um diese nichts weniger als anmutigen Vorkämpfer schart, so darf man auch darin eine Wirkung des 16. Juni sehen. Sosehr sich die kapitalistische Presse bemüht hat, den sozialdemokratischen Wahlsieg zu verkleinern, so erledigt sich das ganze Gerede durch das Dichterwort: „Wenn die Kinder sind im Dunkeln, Wird beklommen ihr Gemüt, Und um ihre Angst zu bannen, Singen sie ein lautes Lied." Das laute Lied, das nun schon seit einem halben Jahre über die innere Hohlheit der Dreimillionenpartei angestimmt worden ist, hat keineswegs die Angst der bürgerlichen Welt gebannt, und deshalb unterstützt diese Welt, heimlich oder offen, die Kraftprobe, die das Crimmitschauer Unternehmertum vom Zaune gebrochen hat. Würde die „Machtfrage" in Crimmitschau zugunsten des Kapitals entschieden, so hätte die liebe Seele für einige Zeit wieder Ruh.

Gegenüber diesem konzentrischen Angriff der Gegner haben die Crimmitschauer Arbeiter nur einen Freund auf der ganzen Welt, der ihnen helfen will und zum Glück auch helfen kann: ihre Arbeits- und Klassengenossen. Mit richtigem Blicke hat das deutsche Proletariat erkannt, worum es sich in Crimmitschau handelt, und den Klassenkampf angenommen, so wie er ihm vom Kapital angeboten worden ist. Es hat seine starken Glieder gereckt und gestreckt, und wenn die Crimmitschauer Fabrikanten neunzehn Wochen jünger wären, so würden sie sich nach den Erfahrungen, die sie gemacht haben, wohl dreimal besinnen, ehe sie das glühende Eisen anfassten. Auch die sächsische Regierung beginnt zu kapitulieren, wenn sich anders die neueste Nachricht bestätigt, dass sie einen Ministerialbeamten zur gütlichen Beilegung des Streiks nach Crimmitschau gesandt hat oder doch senden will. Nach all den empörenden Angriffen der Behörden auf die Arbeiter, die ihr gesetzmäßig verbürgtes Koalitionsrecht zu gebrauchen so frei waren, ist die Entsendung eines amtlichen Friedensboten nichts anderes als ein Eingeständnis der Regierung, dass sie das Spiel verloren hat und zur Kapitulation gezwungen ist.

Ob der Friedensschluss überhaupt schon und wie er im bejahenden Falle erfolgt, das lässt sich nicht vorhersagen, und so dürfen wir uns alle Vermutungen darüber sparen. Ebenso wenig würde es sich schicken, den Crimmitschauer Arbeitern dreinzureden, auf welche Bedingungen hin sie die Arbeit wieder aufnehmen wollen. Soweit aber der Kampf über die örtlichen Grenzen hinausgegriffen hat, soweit er ein allgemeiner Klassenkampf des deutschen Proletariats geworden ist, lässt sich seine Wirkung heute schon als ein großer Erfolg registrieren, der sich in seiner Art ebenbürtig neben den Wahlsieg des 16. Juni stellen darf. Er würde es auch dann tun können, wenn die Crimmitschauer Arbeiter nicht alle ihre Forderungen aufrechterhielten und dem geschlagenen Gegner eine goldene Brücke bauten. Das Entscheidende wäre eben, dass die Crimmitschauer Fabrikanten mit ihrem vorwitzigen Aufwerfen der „Machtfrage" an dem entschlossenen Widerstande der deutschen Arbeiter gründlich abgeblitzt sind, und mit ihnen das Unternehmertum, das ihnen begeisterte Heerfolge leistete. Die guten Leute haben eine derbe Lektion erhalten für ihren unverschämten Anspruch, „Herren im eigenen Hause" zu sein, in dem Sinne, dass sie denjenigen Arbeitern, mit denen sie einen freien Vertrag über Kauf und Verkauf der Arbeitskraft eingegangen sind, als echte Feudalherren das letzte Blut aus den Adern und das letzte Mark aus den Knochen saugen dürfen.

Freilich eine moralisch mildernde Wirkung auf den Unternehmertrutz darf man sich von dieser derben Lektion nicht versprechen. Er wird sich künftig die Sache viel genauer überlegen, ehe er seine Krallen vorstreckt, aber nimmermehr lässt er sich diese Krallen so beschneiden, dass er nicht mehr kratzen kann. Wer auch nach den Crimmitschauer Erfahrungen noch an der süßen Einbildung von der Abschwächung des proletarischen Klassenkampfes und seiner fortschreitenden Humanisierung festhält, dem muss nun schon der liebe Gott zur richtigen Erkenntnis verhelfen, denn die Kraft menschlicher Überzeugung hat an ihm Hopfen und Malz verloren. Gerade der Crimmitschauer Fall zeigt, dass der kapitalistische Hoch- und Übermut sich in seinem ungestümen Tatendrang um so mehr gekitzelt fühlt, je bescheidener und besonnener die Arbeiter ihre Ansprüche abmessen.

Es ist ganz richtig zu sagen, dass eine leichtfertige Verschärfung des Klassenkampfes nur zum Schaden ihrer Urheber ausschlägt. Aber man sollte diese wohlwollende Beobachtung nicht an die Adresse der Arbeiter richten, die sich darüber längst klar sind, sondern an die Adresse der Unternehmer, die in ihres Sinnes Torheit nicht aufhören, ein Feuer zu schüren, an dem sie sich immer mehr verbrennen. Solange aber dies selbstmörderische Treiben dauert, brauchen die Arbeiter darüber nicht melancholische Betrachtungen anzustellen; je weniger sie für die Verschärfung des Klassenkampfes verantwortlich, um so wirksamere Handhaben gewinnen sie dadurch, ihre eigene Sache zu fördern, und in dem Crimmitschauer Streik haben sie gezeigt, wie gründlich sie eine solche Gelegenheit auszunützen wissen.

Sie dürfen dem scheidenden Jahre einen freudigen Abschiedsgruß widmen und ein fröhliches Glückauf dem neuen Jahre, das, wenn nicht alle Anzeichen trügen, ihrem Befreiungskampfe wachsende Erfolge bescheren wird.

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