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Franz Mehring 19030805 Desorganisation der Geister

Franz Mehring: Desorganisation der Geister

5. August 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Zweiter Band, S. 577-581. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 574-578]

Die Ausführungen, die wir vor fünf Wochen an dieser Stelle über die von dem Genossen Bernstein angeschnittene Frage veröffentlichten, ob die neue sozialdemokratische Reichstagsfraktion mit einer Verbeugung vor der monarchischen Staatsform beginnen solle, haben die Kritik des Genossen Bernstein und auch des Genossen Vollmar gefunden. An und für sich könnten wir diese Kritiken auf sich beruhen lassen, da die Frage heute schon als im Sinne unserer Ausführungen entschieden gelten darf; nach den Kundgebungen der Parteipresse ist kein Zweifel mehr daran gestattet, dass die große Masse der Parteigenossen auch nicht ein Titelchen ihres republikanischen Prinzips opfern wird um des ärmlichen, um nicht zu sagen erbärmlichen Vorteils willen, dass sie in einem so ohnmächtigen Parlament, wie der deutsche Reichstag leider noch immer ist, einen wesentlich dekorativen Posten besetzen darf. Allein die Art, wie die Genossen Bernstein und Vollmar unsere Ausführungen kritisiert haben, hat eine gewisse symptomatische Bedeutung, an die es wohl verlohnt, einige Worte zu verlieren.

Genosse Vollmar hat in seiner Münchener Rede unseren Artikel dadurch zu diskreditieren gesucht, dass er ihn der „Stimmungsmache" beschuldigte und zum Beweis dieses harten Vorwurfes vier aus dem ganzen Zusammenhang gerissene Satzbruchstückchen aneinanderreihte, damit auf die Heiterkeit einer Hörerschaft rechnend, von der vielleicht nicht der Hundertste unseren Artikel gelesen hatte. „Stimmungsmache" in der Tat, aber wo? Wir bekennen uns übrigens gern zu jenen vier Satzbruchstückchen, auch in der Form, die ihnen der Genosse Vollmar zu geben beliebt hat; wir wiederholen mit besonderem Vergnügen die von den Münchener Genossen mit „großer Heiterkeit" begrüßte Behauptung, dass es „die drei Millionen sozialdemokratischer Wähler als einen Schlag ins Gesicht" empfinden würden, wenn die sozialdemokratische Reichstagsfraktion ihre Tätigkeit damit beginnen würde, dass ein Vizepräsident aus ihren Reihen, eingekeilt zwischen einem ultramontanen und einem nationalliberalen Brotwucherer, beim Oberhofmarschallamt in Berlin alleruntertänigst um eine Audienz bei Sr. Majestät nachsuchen würde. Das ist nämlich der wirkliche Hergang bei jener „gegenseitigen Begrüßung" „Freier und Gleicher", von der Genosse Vollmar, und jenem „Besuch beim Kaiser", von dem Genosse Bernstein spricht, als handle es sich um ein gemütliches Plauderstündchen zwischen guten Freunden und getreuen Nachbarn. Doch dies nebenbei! Wenn aber die Münchener Genossen über unsere Ansicht lachen, dass die sozialdemokratischen Wähler die Beteiligung der Fraktion an einem Akte, den die „Kreuz-Zeitung" ganz richtig als eine Huldigung getreuer Untertanen vor der von Gott gesetzten Obrigkeit definiert, peinlich empfinden würden, so stehen wir vor einem jener bajuwarischen Rätsel, die nach der oft gehörten Versicherung des Genossen Vollmar für uns andere Sterbliche unentzifferbar sind.

Noch in einer anderen Beziehung hat Genosse Vollmar unseren Artikel vor den Münchener Genossen lächerlich zu machen gesucht, indem er uns die Meinung unterstellte, wir hätten den in manchen Verfassungen vorgeschriebenen Treueid der Abgeordneten für eine formale Sache, aber einen formellen Staatsbesuch beim Kaiser für einen Prinzipienverrat erklärt. Genosse Vollmar hat dabei vergessen, seinen Hörern den springenden Punkt unserer Beweisführung vorzutragen. Wir hatten gesagt: Wenn sich die Partei am parlamentarischen Leben beteilige, so dürfe sie sich an den verfassungsmäßigen Formalien nicht stoßen, aber es sei ganz etwas anderes, wenn sie sich, um einen Präsidentensitz zu erhandeln, von ihren politischen Gegnern einen Verstoß gegen ihre Prinzipien vorschreiben ließe. So kluge Leute wie die Münchener Genossen würden diesen Unterschied sofort begriffen haben, wenn er ihnen vorgetragen worden wäre, aber die eigentümliche Lückenhaftigkeit, in der ihnen unser Gedankengang vermittelt wurde, mag dann freilich wohl ihre Lachmuskeln gereizt haben. „Stimmungsmache" in der Tat, aber wo?

Genosse Bernstein seinerseits sucht uns mattzusetzen durch die Behauptung, wir hätten ihm einen „schwer gelehrten Kursus" über die Entstehung der Reichsverfassung gehalten. Wir haben nicht die geringste Lust, uns mit einer Redewendung auseinanderzusetzen, der die bittere Verlegenheit darüber an der Stirn geschrieben steht, dass die Behauptung über die annähernd republikanische Entstehung der Reichsverfassung selbst unter den engeren Freunden des Genossen Bernstein ein gelindes Entsetzen erregt hat. Auch den neuen Gewährsmann, den Genosse Bernstein für seine Ansicht anführt, einen sächsischen Liberalen, einen sichern Herrn Martin in Leipzig, sind wir großmütig genug, ihm zu schenken. Dagegen müssen wir uns ein Wort darüber erlauben, dass sich Genosse Bernstein auf das allgemeine Wahlrecht bezieht als den annähernd republikanischen Rechtstitel der Reichsverfassung. Hätte vor fünfzig Jahren, wir sagen nicht einmal ein Demokrat, sondern nur ein Liberaler auf die Verfassung des zweiten Kaiserreichs als eine annähernd republikanische hingewiesen, weil sie das allgemeine Wahlrecht enthalte, so würde der Mann in ganz Deutschland derselben „großen Heiterkeit" verfallen sein, unter der die Münchener Genossen unseren armen Artikel begraben haben, aber Genosse Bernstein ist darüber anderer Ansicht.

Auf die Gefahr hin, noch einmal seinen Unwillen durch einen „schwer gelehrten Kursus" zu erregen, sei daran erinnert, dass Bonaparte im Dezember 1851 seinen Staatsstreich gegen die liberale Bourgeoisie durch die Wiederherstellung des allgemeinen Stimmrechts machte. Er spekulierte dabei namentlich auf die politische Unerfahrenheit der bäuerlichen Bevölkerung, und diese Rechnung trog ihn vorläufig nicht. Genau nach demselben Muster, genau aus denselben Gründen und genau zu denselben Zwecken machte Bismarck im Jahre 1866 seinen Staatsstreich, und auf diesem bonapartistischem Wege ist das allgemeine Wahlrecht in die deutsche Reichsverfassung gekommen. Dass die beiden Staatsstreichkünstler mit diesem Wahlrecht ihre eigentümlichen Erfahrungen gemacht haben, dank dem klassenbewussten Proletariat, das ist eine Sache für sich. Aber auf Grund des allgemeinen Wahlrechts mit der Reichsverfassung paktieren wollen, die alle Fürstenrechte so ins Unerträgliche steigert, wie sie alle Volksrechte ins Unerträgliche kürzt, das heißt eben in jenen Bonapartismus fallen, dessen Spuren Genosse Bernstein vor zehn Jahren an dem unglücklichen Lassalle mit so unerbittlichem Eifer aufspüren wollte, wenn auch nicht konnte. Indessen warum denn auch nicht? Wenn Jaurès jenseits der Vogesen die friderizianische Legende mit einem Eifer predigt, deren in Deutschland der loyalste Privatdozent aus Achtung vor der historischen Wahrheit nicht mehr fähig ist, weshalb sollte diesseits der Vogesen die bonapartistische Legende nicht ihre fröhliche Urständ feiern?

Auf Jaurès bezieht sich Genosse Vollmar dann direkt, indem er zustimmend dessen Worte zitiert: „Nur durch ihre Tätigkeit kann die Partei die Welt revolutionieren, und sie kann nur tätig sein in dem Milieu, das ihr durch die Geschichte gegeben wurde. Für Versuchungen empfänglich können nur jene sein, die fürchten, dass ihr politischer Glaube Schaden nehmen könnte durch den Umgang mit einer königlichen Majestät oder durch die sieghafte Anziehungskraft eines diplomatischen Lächelns." Wir kennen die Weise, wir kennen den Text, wir kennen auch die Verfasser. Es wundert uns einigermaßen, dass Genosse Vollmar in Frankreich gesucht hat, was er in Deutschland in viel frischerer Originalprägung finden konnte, nämlich in den Reden, die Bennigsen und Miquel und der „Heiterkeitsmacher" Braun, und wie sie sonst hießen, nach dem großen Umfall von 1866 gehalten haben. Sollte Genosse Vollmar es wünschen, so sind wir gern erbötig, ihm aus den Reden dieser staatsmännischen Größen die Sätze von Jaurès gleich zu Dutzenden herauszusuchen. Ebenso seinen eigenen Satz: „Wenn wir so stark sein werden, dass uns endlich auch der gebührende Anteil an der vollziehenden Gewalt zufallen muss – sollen wir alsdann auch unser Handeln durch solche Formeln lähmen lassen?" Danach scheint Genosse Vollmar anzunehmen, dass es einmal ein sozialdemokratisches Ministerium oder doch sozialdemokratische Minister Sr. Majestät Kaiser Wilhelms II. geben wird. Eine herrliche Aussicht gewiss; nur schade, dass, ehe sie sich verwirklichen könnte, unser Parteiprogramm ein Fidibus geworden sein müsste, gerade noch gut genug, den Kamin zu heizen, an dem Genosse Vollmar diese Zukunftsträume spinnt.

Damit sind wir an die symptomatische Seite der Polemik gelangt, die sich an die elende Vizepräsidentenfrage geknüpft hat. Das Recht des Genossen Bernstein, diese Frage anzuregen, haben wir schon vor fünf Wochen anerkannt; mit der Denk- und Meinungsfreiheit innerhalb der Partei meinen wir es so ehrlich wie irgendjemand. Jeder Genosse hat es nur mit seinem politischen Gewissen abzumachen, ob er seine Anregungen und Einfälle und Zweifel zum besten geben will, unbekümmert darum, ob sie, bewusst oder unbewusst, mittelbar oder unmittelbar, in ihren ferneren oder ihren näheren Konsequenzen das Parteiprogramm zerrütten; hierüber kann keine andere Instanz entscheiden, wenn nicht eine gefährliche Ketzerrichterei einreißen soll1. Allein was den einen recht ist, das muss den anderen billig sein, und hierüber scheinen die Begriffe innerhalb der Partei hier und da etwas ins Unklare geraten zu sein. Wir andern, die wir möglicherweise doch auch staatsmännische Anregungen und Einfälle und Zweifel haben könnten – und so übermäßig viel Geisteskraft gehört am Ende nicht dazu, hinter jeden bewährten Parteigrundsatz ein Fragezeichen zu machen –, aber die wir alle solche Einfälle und Anregungen und Zweifel erst an dem Parteiprogramm prüfen, ehe wir sie veröffentlichen oder billigen, wir andern haben doch auch das Recht der Denk- und Meinungsfreiheit. Deshalb sollte man nicht über demagogische „Stimmungsmache" lärmen, wenn wir an den großen Prinzipien unseres Parteiprogramms festhalten, und man sollte nicht einen Parteiveteranen, wie Bebel, wegen „Schulmeisterei" auf das Armesünderbänkchen setzen, wenn er einmal mit einem ungeduldigen Worte zwischen die ewige Anzweiflung der Grundsätze fährt, mit denen sein ganzes Leben verwachsen ist.

Hieran zu erinnern, schien uns nicht ganz unnützlich zu sein. Sollte unser Wunsch aber nicht beachtet werden, so wäre es eben das. Wir, deren politisches Gewissen unser Parteiprogramm ist, werden all den Anregungen, Einfällen und Zweifeln, die sich mit diesem Programm mehr oder weniger in den Haaren liegen, die angeblich die kapitalistische Gesellschaft allmählich aushöhlen wollen, ihr tatsächlich aber kein Haar krümmen und nur das demokratische Empfinden der Massen aushöhlen, die, wenn sie ungestört fortwuchern, eine völlige Desorganisation der Geister innerhalb der Partei herbeiführen müssen, wir werden ihnen einen unerschütterlichen Widerstand entgegensetzen, und wir werden siegen, nicht weil wir klüger oder stärker sind als unsere staatsmännischer veranlagten Genossen, sondern weil wir einen Bundesgenossen haben, der auch durch die geistreichsten Anregungen, Einfälle und Zweifel nicht erstickt werden kann, wir meinen das revolutionäre Klassenbewusstsein des modernen Proletariats.

Dieser Bundesgenosse hat bereits die Vizepräsidentenfrage entschieden, aber wie weit dabei die Geister auseinander gekommen sind, sei an einem Beispiel gezeigt. Am Schlusse seiner Münchener Rede erörtert Genosse Vollmar die Frage, was geschehen würde, wenn sich die Fraktion zu dem so genannten „Besuch beim Kaiser" bereit erklärte, aber dann doch die Vizepräsidentenstelle nicht erhielte. Wir erkennen an, dass diese Frage vom Standpunkt des Genossen Vollmar aus sehr erwähnenswert ist, aber die Antwort, die er darauf gibt, ist uns vollkommen unverständlich. Genosse Vollmar sagt nämlich: „Das würde dann nicht nur von unseren Wählern, sondern weit darüber hinaus im deutschen Volke verstanden werden und unserer Stellung in anderer Weise zugute kommen." Wie gesagt, das verstehen wir einfach nicht.

An unserem Teile meinen wir vielmehr: Wenn der vom Genossen Vollmar vorausgesetzte Fall einträte, wenn die Partei das Opfer ihres republikanischen Prinzips brächte und dann von den bürgerlichen Mehrheitsparteien um den Preis ihres Opfers geprellt würde, so würde sie nicht als gekränkte Unschuld vom deutschen Volke getröstet werden, sondern ein Sturzbad von Hohn und Spott würde sich über sie ergießen wie noch nie über eine Arbeiterpartei, und zwar von Rechts wegen.

1 Mehring sah nicht, dass die Revisionisten unter der Losung der Meinungsfreiheit auftraten, um desto leichter gegen das Parteiprogramm und gegen die Beschlüsse der Partei arbeiten zu können. Sie hatten längst den Boden des Parteiprogramms von Erfurt (1891) und der Taktik der Partei verlassen und sich damit eigentlich außerhalb der Partei gestellt.

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