Franz Mehring‎ > ‎1903‎ > ‎

Franz Mehring 19030824 Die Aufgaben der Partei

Franz Mehring: Die Aufgaben der Partei

24. August 1903

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 194, 24. August 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 594-596]

In der Sonntagsnummer des „Vorwärts" veröffentlicht Genosse Bebel eine längere Erklärung zu der Fürstenwalder Resolution, die wir gleichfalls zum Gegenstand einiger kritischer Bemerkungen gemacht hatten. Bebels Auffassung deckt sich wesentlich mit der unsrigen; nur dass er sich deutlicher und schärfer, als wir es um des lieben Friedens willen getan hatten, über den Hintergrund der Fürstenwalder Resolution auslässt. Er meint, dass die Zeit des Vertuschens und des gegenseitigen Komödienspiels in der Partei vorbei sei und wir uns darüber klar sein müssten, wie wir zueinander ständen.

Unter diesem Gesichtspunkt sieht Bebel in der „ganz untergeordneten Frage der Vizepräsidentenwahl" eine Haupt- und Staatsaktion der revisionistischen Seite in der Partei. Sowohl die Gründe, die Genosse Vollmar für die Besetzung der ersten Vizepräsidentenstelle im Reichstag durch die Partei angeführt, wie die Unterstützung, die er in dieser Frage in den ihm gesinnungsverwandten Kreisen der Partei gefunden habe, zeigten, dass in ihr ein gut Stück, ja das Hauptstück der Frage nach der neuen Taktik enthalten sei. In der Tat trifft Bebel damit den Punkt, der jener „ganz untergeordneten" Frage eine lebhafte Teilnahme in Parteikreisen verschafft hat. Als unter all den erhebenden und erschütternden Eindrücken des 16. Juni gerade eine so „untergeordnete Frage" von der revisionistischen Seite in den Vordergrund geschoben wurde, brach überall in der Partei das Gefühl durch: Hier ist ein Anfang, dem entgegengetreten werden muss. Gegenüber dem fast allseitigen Protest genügt es jetzt keineswegs, die so gänzlich ohne Grund in den Vordergrund geschobene Frage wieder mit einer lässigen Handbewegung in den Hintergrund zu schieben. Deshalb ist gar nicht nötig, dass der Parteitag ihr einen unbilligen Teil seiner Zeit opfert; je gründlicher und kürzer die „ganz untergeordnete" Frage abgetan wird, desto besser wird es sein. Sie ist in der Parteipresse ja zur Genüge erörtert worden, und Bebel verspricht, sie in der „Neuen Zeit" noch einmal ausgiebig zu beleuchten.

Zu der Forderung der Fürstenwalder Resolution, die Reichstagswahlen als besondern Punkt auf die Tagesordnung des Parteitags zu setzen, stellt sich Bebel ebenfalls ähnlich, wie wir es getan haben. Er hat nichts Besonderes dagegen einzuwenden, hält es aber für überflüssig, zwei besondere Referenten zu diesem Punkt zu ernennen; es genüge, wenn bei der Debatte darüber die sonst übliche Beschränkung der Redezeit aufgehoben würde. Er fügt hinzu:

Mein Standpunkt in dieser Frage ist ein sehr einfacher. Ich kann kein Bedürfnis nach einer andern parlamentarischen Taktik und nach gänzlich neuen Aufgaben für die Fraktion anerkennen, da ich in dem großartigen Ausfall der letzten Reichstagswahlen zugunsten der Partei nur die dankbare und zustimmende Anerkennung der Wähler zu der Taktik, die bisher die Fraktion im Reichstag innegehalten hat, und zu der Tätigkeit, die sie dort entfaltete, erblicke. Wir sind nicht in den Wahlkampf gezogen mit der Frage, ob wir künftig eine neue Taktik einschlagen und gänzlich neue Aufgaben in Angriff nehmen sollen, sondern ob die Wählerschaft auf Grund unsres bisherigen Verhaltens uns auch ferner und noch kräftiger als bisher unterstützen wolle. Die Antwort war, wie der Ausfall der Wahl zeigt, eine kräftige Bejahung! Von diesem Gesichtspunkte aus grenzt es meiner Meinung nach hart an Naivität, sich den Kopf um eine neue Taktik zu zerbrechen und nach gänzlich neuen Aufgaben sich umzuschauen, wo auch nicht eine einzige Aufgabe, die wir dem letzten Reichstag stellten, in einer uns befriedigenden Weise gelöst wurde. So ist z. B. von allen unsern Initiativanträgen mit Ausnahme von zweien, die mittlerweile durch Gesetzesvorlagen eine keineswegs uns völlig befriedigende Erledigung fanden, kein einziger zur Verhandlung gekommen.“

Diese Ausführungen werden, wie wir glauben, in der Partei die allgemeinste Zustimmung finden. Es ist selbstverständlich, dass der starke Zuwachs, den die sozialdemokratische Reichstagsfraktion durch die Wahlen erhalten hat, sie befähigen wird, ihren Aufgaben noch gründlicher nachzukommen, als es bisher schon geschehen ist, allein da sich die allgemeine parlamentarische und politische Konstellation sonst nicht wesentlich geändert hat, so ist nicht abzusehen, welche neuen Aufgaben zu erfüllen sein sollen, es müsste denn sein, dass man die bisherige Tätigkeit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion als falsch oder unzureichend verleugnen will. Dazu liegt aber kein Grund vor, nachdem diese Tätigkeit durch drei Millionen Wähler ein so glänzendes Vertrauensvotum erhalten hat.

Das Revidieren mag eine sehr angenehme und nützliche Sache sein – und nach dem unermüdlichen Eifer, womit sich manche Genossen ihm seit nun doch schon reichlich einem halben Dutzend Jahre ergeben, ist es sicherlich eine solche Sache –, aber nach dem Wahlsiege des 16. Juni erscheint es in etwas sonderbarem Lichte. Es ist so, als wenn Napoleon nach der Schlacht bei Jena seine moderne Kolonnentaktik zugunsten der friderizianischen Lineartaktik, als wenn die preußischen Truppen nach der Schlacht bei Königgrätz ihre Zündnadelgewehre zugunsten irgendwelcher verrosteten Karabiner revidiert hätten. Nichts ist vollkommen unter der Sonne, und so mag auch an der sozialdemokratischen Taktik manches zu bessern sein, aber eine neue Taktik einzuschlagen wäre ein verzweifeltes Abenteuer, das in seinen Konsequenzen an politischen Selbstmord streifen würde.

Der Parteitag wird sich selbstverständlich darauf nicht einlassen, so gewiss er manche dankenswerte Anregung liefern wird, unsere Sache in Zukunft noch besser zu machen, als wir sie schon in der Vergangenheit gemacht haben. Solche Anregungen gehören ebenso zum innersten Wesen einer revolutionären Arbeiterpartei, wie der Revisionismus nicht dazu gehört. Es ist nur der Schatten, den die Sozialdemokratie in der Sonne ihrer weltgeschichtlichen Erfolge wirft. Freilich wird dieser Schatten nach Dresden nicht verschwinden, sowenig wie er nach Lübeck oder Hannover oder Stuttgart verschwunden ist; genug, wenn sich abermals herausstellt, dass er nur der Schatten und nicht der Körper der Partei ist,

Kommentare