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Franz Mehring 19030422 Die Musterung vorm Kampfe

Franz Mehring: Die Musterung vorm Kampfe

22. April 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Zweiter Band, S. 97-100. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 547-550]

Das Maifest des Proletariats fällt dieses Mal in die bewegte Zeit des Wahlkampfes. Es wird eine Generalmusterung des Heeres sein, das sich für eine entscheidende Schlacht rüstet. So in Deutschland, aber auch sonst in der Welt, wo immer die Arbeiterklasse ihr Frühlingsfest vorbereitet. Überall geschieht es, um mit einem ihrer Dichter zu sprechen, in „Wetterschein und Regenguss"; es ist der Krieg und abermals der Krieg, den die Unterdrücker in die Kundgebung der Unterdrückten für den Weltfrieden tragen.

In Holland ist das einfachste, das selbstverständlichste Recht der modernen Arbeiter gemeuchelt worden, dasjenige Recht, das ihnen die kapitalistische Gesellschaft selbst zubilligt und zubilligen muss, wenn sie anders ihre eigenen Konsequenzen anerkennen will, das Recht der Koalition. Eben gegen dies Recht unternehmen auch die deutschen Kapitalisten gerade jetzt einen heftigen Sturm, in Bremen, in Iserlohn, in Pirmasens, in manchem anderen Orte noch; es ist, als wollten sie das antike Schicksalswort bestätigen, dass die Götter den blenden, den sie verderben möchten. Kann es vom kapitalistischen Standpunkt aus etwas Widersinnigeres geben, als gerade jetzt, am Vorabend eines Wahlkampfes, in den alle bürgerlichen Parteien mit halb schon gebrochenen Reihen ziehen, durch die dreiste Antastung des ursprünglichsten Arbeiterrechtes selbst diejenigen Proletariermassen aufzurütteln, die bisher noch dem Emanzipationskampf ihrer Klasse gleichgültig gegenübergestanden haben?

Dennoch liegt eine unabweisbare Logik in dem scheinbaren Widersinn. Das Kapital fürchtet in dem Klassenbewusstsein des Proletariats seinen Todfeind, und beherrscht von solcher Furcht, lässt es nie von den Versuchen ab, diesen Todfeind aufs Haupt zu schlagen, sobald es sich mächtig genug dazu glaubt. Das ist sein Schicksal, dem es willenlos unterliegt, auch gegen die bessere Einsicht, die sich hier oder da in Kapitalistenkreisen selbst regen mag. Mögen einzelne Kapitalisten und selbst einzelne Schichten der Kapitalistenklasse einem friedlich-schiedlichen Einvernehmen mit den gewerkschaftlichen und politischen Organisationen des Proletariats geneigt sein, so wird in ihrer Masse doch immer die unbezähmbare Furcht das letzte Wort haben, so wird die Bourgeoisie im letzten Grunde kein anderes Programm gegenüber einer selbständigen Arbeiterbewegung besitzen als den heiseren Schrei Karls IX. in der Bartholomäusnacht1: Töte! Töte!

So war es vor vierzig Jahren, als sich die deutschen Arbeiter zuerst zu regen begannen, als mit einiger Vor- und Umsicht der Bourgeoisie diese Bewegung noch auf lange hinaus verschleppt werden konnte. So ist es heute, wo die deutsche Bourgeoisie im Augenblick einer für sie schicksalsschweren Entscheidung nichts Klügeres zu tun weiß, als auch den noch nicht zum Klassenbewusstsein erwachten Schichten der Arbeiterklasse gewaltsam zu demonstrieren, dass sie selbst dem bescheidensten, dem unanfechtbarsten Rechte der Arbeiter den Krieg bis aufs Messer zu machen entschlossen ist. Allein so töricht diese kapitalistische Politik erscheinen mag, so waltet in ihr doch eine Dialektik, der man die historische Vernunft nicht absprechen darf, so besteht, um ein Wort Lassalles anzuwenden, das ganze Unrecht dieser Unsinnigen doch nur darin, recht zu haben. Sie besitzen eben die Klarheit aller herrschenden Klassen über ihre Klasseninteressen, und sie wissen ganz genau, dass, wenn einmal das Klassenbewusstsein der Arbeiter erwacht, nimmermehr Friede sein kann zwischen Bourgeoisie und Proletariat, dass damit ein Kampf beginnt, der erst mit dem Sturze der Bourgeoisie enden kann, es sei denn, dass es ihr gelänge, die Arbeiterklasse gewaltsam zu bändigen, sie wieder herabzudrücken zu einer gedanken- und willenlosen Masse, die sich ohne jedes Murren auch den ärgsten Ausbeutungsgelüsten des Kapitals fügt.

Unter diesem Gesichtspunkt sind die unablässigen Herausforderungen des proletarischen Klassenbewusstseins durch die kapitalistischen Unternehmer gar nicht so unüberlegt wie sie aussehen. Ihre wirkliche Torheit besteht darin, dass sie sich gegen ein unabwendbares Schicksal aufzulehnen suchen, dass sie die Unvermeidlichkeit der Niederlage verkennen, die der Bourgeoisie am letzten Ende beschieden ist. Allein rechtzeitig den Zeitpunkt ihrer historischen Abdankung zu erkennen, ist keiner herrschenden Klasse gegeben; ihr allgemeines Schicksal ist, sich gegen das Unabwendbare zu stemmen, mit Mitteln, die von ihrem Klassenstandpunkt aus ganz logisch sind, aber dadurch, dass sie Unmögliches erstreben, unlogisch werden und endlich das Gegenteil von dem erreichen, was sie erreichen sollen. Könnten die Kapitalisten mit Aussperrungen, wie sie jetzt in Bremen, in Iserlohn, in Pirmasens versucht werden, die gewerkschaftliche Organisation zertrümmern, sie wären von ihrem Klassenstandpunkt aus Toren, wenn sie nicht auch auf diesem Wege ihr Heil versuchten. Erst dadurch, dass sie das Unmögliche wollen, dass sie einen auf die Dauer überlegenen Gegner bis aufs Blut reizen, schlägt ihre raffinierte Schlauheit in handgreifliche Dummheit um.

Der Dichter des Proletariats, den wir bereits einmal zitiert haben, hat dies Verhältnis in dem Bilde jenes englischen Königs Johann besungen, der, feige zugleich und grausam, „zu gleicher Zeit ein Schwächling und Tyrann", dennoch der Urheber der englischen Verfassung wurde. Es heißt bei Freiligrath von diesem Johann:

So schafft er sich und seinem Volke Not,

Bis jach ein Heer vor seinem Zelte scharrte,

Bis ihm sein England wild die Stirne bot.

Oh, wie beredt war dessen Kriegsstandarte!

Geht mir mit „guten Fürsten"! – ein Despot

Gab Englands Männern ihre große Charte!

So auch wird das moderne Proletariat seine große Charte nur von einer Bourgeoisie erhalten, die ihre Despotie bis zum letzten Atemzuge mit jeder gewaltsamen Waffe verfochten hat. Sicherlich wäre es vom menschlichen Standpunkt aus viel lobens- und viel wünschenswerter, wenn dieser weltgeschichtliche Kampf mit milderen Mitteln ausgetragen würde, allein dafür ist die Bourgeoisie nicht zu haben, und man soll von ihr nicht mehr verlangen, als sie nach ihren historischen Existenzbedingungen leisten kann. Man soll es umso weniger verlangen, als schon ein flüchtiger Überblick über die moderne Arbeiterbewegung zeigt, wie viel der proletarische Emanzipationskampf der stiermäßigen Wut zu danken hat, womit die herrschenden Klassen auf ihn losschlagen, sobald sie glauben, ihn empfindlich treffen zu können. Unter ihren Streichen fallen zahllose Opfer, aber sie fallen nicht umsonst; sie zeugen mit ihrem Blut für die Entwicklung des Proletariats zu einer revolutionären Klasse, die nicht ruhen und rasten darf, bis ihre siegreiche Fahne auf den Trümmern der kapitalistischen Zwingburg weht.

Jene menschliche Gesinnung, die dem Kapital als solchem fremd ist und, da es sich nicht anders als von Menschenblut nähren kann, auch fremd sein muss, ist um so lebendiger im Proletariat. Nur das böse Gewissen der Bourgeoisie kann ihm jenen Durst nach Blut und jene Gier nach Raub andichten, die tatsächlich die unveräußerlichsten Eigenschaften des Kapitals sind. Jedoch gerade vom Standpunkt seines Klassenkampfes aus ist die an- und eingeborene Humanität des Proletariats keine unbedingt lobenswerte Eigenschaft. Die modernen Arbeiter sehen dadurch die Bedingungen ihrer Emanzipation oft genug in rosigerem Lichte als historisch gerechtfertigt ist; sie bemühen sich, nicht aus feiger, aber aus humaner Scheu vor den furchtbaren Härten und Schärfen eines weltgeschichtlichen Entscheidungskampfes, auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft einen Platz zu finden, der ihnen vielleicht doch ein leidlich menschenwürdiges Dasein zu sichern vermöchte. Wie reich ist die Geschichte der modernen Arbeiterbewegung an solchen Versuchen, und wie oft sind dadurch Rückfälle eingetreten, die sich regelmäßig sehr bald als unnütze Verzögerungen des Vorwärtsmarsches erwiesen haben. Man darf diese Tendenz, die unausrottbar in der modernen Arbeiterklasse lebt, nicht bekämpfen oder verurteilen, denn sie hängt unlöslich mit dem zusammen, was aus dem Proletariat den Erlöser der gesamten Menschheit machen wird. Allein sie bedarf des Gegengewichtes, und sie findet es in der entgegengesetzten Tendenz der Bourgeoisie, in der Tendenz jener mitleidslosen Grausamkeit, die mit unaufhörlichen Geißelschlägen die Arbeiterklasse vorantreibt und vorantreiben muss, bis sie das Werk ihrer politischen und sozialen, ihrer menschlichen Emanzipation vollendet haben wird.

Es ist auch nicht ohne tieferen Sinn, dass die Bourgeoisie sich das Maifest der Arbeiter auszuwählen pflegt, um die kapitalistische Zuchtrute zu schwingen. Gewiss ist der Maitag ein Tag des Friedens, ein Tag, der, wenn anders die ideologischen Schlagworte der Bourgeoisie noch einen Sinn hätten, am ehesten eine Art Versöhnung zwischen Bourgeoisie und Proletariat schiene herstellen zu können. Allein wenn die Bourgeoisie diesen Tag hasst, so ist sie von ihrem Klassenbewusstsein wieder ganz richtig beraten. Denn der Maitag ist eben doch das Symbol des proletarischen Klassenbewusstseins, das Symbol der sozialistischen Gesellschaft, vor deren siegreicher Erkämpfung die Arbeiterklasse nicht abrüsten kann und wird; der Maitag verlöre jeden historischen Sinn, er würde zu einem harmlosen Kaffeekränzchen, wenn er nur der Festtag einer Arbeiterpartei sein sollte und wollte, die sich je nachdem auch mit der kapitalistischen Gesellschaft vertragen könnte. Daher der unversöhnliche Hass der Bourgeoisie gegen diesen Tag, daher ihr unversiegbares Gelüste, ihn an ihrem Teile zu ehren, indem sie dem Götzen des Kapitals Hekatomben von Arbeiterexistenzen opfert.

Nicht mit irgendeiner Art Freude an Dingen, über die sich höchstens Kannibalen freuen könnten, aber mit der stolzen Zuversicht, dass der heftigste Ansturm der Bourgeoisie den Siegeswagen des Proletariats nur in desto schnelleres Rollen bringen muss, wird dieser Maitag die neuesten Gewalttaten der Bourgeoisie in ihr großes Schuldbuch eintragen und alle Kräfte der deutschen Arbeiterklasse anspannen für die große Abrechnung am 16. Juni.

1 Die Niedermetzelung der Hugenotten in Paris in der Nacht zum 24. August (Bartholomäustag) 1572, sechs Tage nach der Hochzeit des vordem protestantischen Henri von Navarra (später Heinrich IV., erster Bourbone auf dem französischen Thron) und der katholischen Margarete von Valois; deshalb auch „Pariser Bluthochzeit" genannt.

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