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Franz Mehring 19030905 Die wahre Frage

Franz Mehring: Die wahre Frage

5. September 1903

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 205, 5. September 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 600-602]

Der „Vorwärts" hat sich neulich für seine Ansicht, dass der Dresdner Parteitag über die vorhandenen Differenzen in der Partei hinweggehen müsse, auf den Genossen Parvus berufen mit der Bemerkung, dass er sonst nicht oft mit Parvus übereinstimme. Genau mit derselben Bemerkung können wir uns jetzt auf Jaurès berufen, mit dem wir sonst auch nicht oft übereinstimmen, aber dem wir darin vollkommen beistimmen müssen, dass die „wahre Frage", um die es sich bei der an sich elenden Vizepräsidentensache handelt, von „historischer Bedeutung" sei.

Es gibt überhaupt gar keine für die Zukunft der Partei wichtigere Frage der Taktik, als die Frage, ob wir unseren alten revolutionären Weg weiter verfolgen und die politische Macht erobern sollen, indem wir den Klassencharakter der Arbeiterbewegung schroff aufrechterhalten und alle unsere Gegner zu überwinden suchen, oder ob wir danach trachten sollen, Schritt für Schritt, indem wir den proletarisch-revolutionären Charakter der Partei verwischen, allerlei Konzessionen machen und je nach Bedürfnis uns mit bürgerlichen Parteien in ein enges Bündnis einlassen, ein Stückchen politischer Macht nach dem andern zu kapern.

Über die tatsächliche Entscheidung dieser Frage verlieren wir kein Wort mehr, nachdem wir Kautskys überzeugende Ausführungen veröffentlicht haben. Aber für so falsch wir die revisionistische Beantwortung der Frage halten, so erkennen wir doch an, dass sie ungleich klarer und konsequenter ist als derjenige Standpunkt, der hier überhaupt keine Frage sehen will und von „leeren Phrasen" spricht, mit denen die kostbare Zeit des Parteitags nicht totgeschlagen werden dürfe. Seitdem die Partei besteht, hat sie von Anfang an immer ihren proletarisch-revolutionären Charakter aufrechterhalten, und wenn dieser Charakter eine „leere Phrase" sein soll, so haben am Ende auch die bürgerlichen Denker recht, die da behaupten, dass die Partei ihre Anhängerschaft den „leeren Phrasen" verdanke, mit denen sie die Köpfe der leichtgläubigen und unwissenden Massen betäube.

Eher lässt es sich hören, wenn man sagt, was denn bei der Diskussion dieser Frage durch den Parteitag herauskommen solle. Frühere Parteitage hätten sich ebenfalls schon mit revisionistischen Fragen beschäftigt; es seien aber auch schon fünf oder sechs Resolutionen gefasst worden, aber von denen wisse heute kein Mensch mehr, und so solle sich der Parteitag mit nützlicheren Dingen beschäftigen; er solle Rat pflegen, wie das Dreimillionenmandat für das Wohl des Volkes auszuüben sei. Ja, wenn nur dies „Ratpflegen" nicht gerade mitten in das Herz der „wahren Frage" führen würde, es sei denn, man wolle sich mit einem akademischen Gerede über alle und noch einige Dinge begnügen, das noch viel schneller vergessen sein würde als jene Resolutionen früherer Parteitage. Jede Debatte über die künftigen Aufgaben der Partei, wenn sie mit logischem Ernst gepflogen werden soll, muss in fünf Minuten bei der „wahren Frage" landen, selbst wenn alle Teilnehmer sich bei Beginn der Verhandlung feierlich verpflichtet hätten, nicht an diese Frage zu rühren.

Von den früheren Parteitagen, auf deren angeblich wirkungslose Resolutionen angespielt wird, unterscheidet sich der jetzige in entscheidenden Beziehungen. Damals galt es, prinzipielle Stellung zu den revisionistischen Bestrebungen zu nehmen, wobei mehr oder minder der Gedanke mit unterlief, solchen Bestrebungen durch eine klare Präzisierung der Parteigrundsätze überhaupt den Boden abgraben zu können. Dieser Gedanke war eine Illusion, und insofern, aber auch nur insofern haben sich seine früheren Resolutionen als Schläge ins Wasser erwiesen; sonst haben sie sehr wohl ihre Wirkung getan und, indem sie das proletarisch-revolutionäre Bewusstsein der Parteimassen frisch erhielten, an ihrem Teil auch zu dem großen Triumphe des 16. Juni beigetragen.

Diesmal denkt nun aber gar kein Mensch daran, dass in Dresden eine Resolution gefasst werden soll, um den Revisionismus aus der Welt zu schaffen. Wir selbst haben schon vor vierzehn Tagen an dieser Stelle ausgesprochen, dass der Revisionismus nach Dresden fortdauern werde, wie er nach Stuttgart, Hannover, Lübeck fortgedauert habe. Von diesen frühern Parteitagen unterscheidet sich der jetzige gerade dadurch, dass er keine prinzipielle Klärung über die Parteigrundsätze schaffen, sondern die praktische Aufgabe lösen soll, wie die Wahlerfolge der Partei zu verwerten seien, dass er zwischen den beiden auseinander gehenden Ansichten entscheiden soll, die darüber in der Partei bestehen. Diese Aufgabe des Parteitages erwächst ihm aus den Dingen selbst und ist ihm zudem von einer großen Zahl von Parteiversammlungen gestellt worden, so dass er sich ihrer Lösung gar nicht entziehen kann, wenn er nicht zu einer bloßen prahlerischen Schauvorstellung werden soll, wie etwa die Katholikentage sind.

Entscheidet die Partei die „wahre Frage", sei es nun in diesem oder jenem Sinne, so kann ein klarer und sicherer Kurs in der Parteipolitik innegehalten werden. Bleiben die Dinge dagegen in der gegenwärtigen Schwebe und dauert der Zustand, wie er in den letzten Monaten geherrscht hat, auch nur noch ein Jahr fort, so kann daraus schon leicht eine innere Zerrüttung der Partei entstehen. In diesem Sinne bestätigt sich einmal wieder, dass die unberufenen Friedensprediger die gefährlichsten Ruhestörer sind. Wären alle innern Differenzen in der Partei dadurch aus der Welt zu schaffen, dass man ihnen den Rücken kehrt und die unruhigen Köpfe verdonnert, die immer neuen Unfrieden säen, so hätten wir es allerdings bequemer in der Welt, als wir es leider haben. Aber so wie nun einmal die historischen Lebensbedingungen der Partei sind, wird sie immer am klügsten handeln und am schnellsten vorwärts kommen, wenn sie die Probleme, die ihr Wachstum immer wieder aufwirft, in ehrlicher und klarer Auseinandersetzung zu lösen sucht.

Wir bedauern fast, dass der Dresdner Parteitag sich der „wahren Frage" gar nicht einmal entziehen kann. Es erscheint dann als Resultat eines Zwanges, was als Resultat seines Willens nicht minder klar hervortreten würde. Indessen bleibt ihm ein weiter Spielraum, um in der Art, wie er seine wichtige Aufgabe löst, zu zeigen, dass er sich seinen Vorgängern würdig anreiht.

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