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Franz Mehring 19030306 Ein frischer Luftzug

Franz Mehring: Ein frischer Luftzug

6. März 1903

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 54, 6. März 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 538-540]

In unserer vorgestrigen Nummer haben wir einen Beschluss des Parteivorstandes mitgeteilt, der zwei Grundsätze aufstellt. Erstens erklärt er es mit den Interessen der Partei für unvereinbar, dass Parteigenossen als Redakteure oder Mitarbeiter an bürgerlichen Pressunternehmungen tätig sind, in denen an den sozialdemokratischen gehässige oder hämische Kritik geübt wird. Zweitens erklärt er es für zulässig, dass Parteigenossen Redakteure oder Mitarbeiter eines bürgerlichen Blattes sein können, das keine gehässige oder hämische Haltung gegen die Partei beobachtet, vorausgesetzt, dass der in solcher Stellung befindliche Parteigenosse nicht genötigt wird, gegen die Partei zu schreiben oder gegen dieselbe gerichtete Artikel aufzunehmen. Aber – so fügt dieser zweite Teil des Beschlusses hinzu: Es liegt im Interesse der Partei, wie der in solchen Stellungen befindlichen Parteigenossen, dass diesen keine Vertrauensstellungen übertragen werden, weil solche sie früher oder später in Konflikt mit sich und der Partei bringen müssen.1

Dieser Beschluss des Parteivorstandes hat eine sehr traurige und eine sehr erfreuliche Seite. Eine sehr traurige Seite, insofern als er überhaupt notwendig geworden ist. Wer vor zehn Jahren vorhergesagt hätte, dass ein solcher Beschluss des Parteivorstandes nötig werden würde, der wäre halb mit Heiterkeit und halb mit Entrüstung zurückgewiesen worden. Da aber einmal eine in solchen Dingen ganz unbegreifliche Begriffsverwirrung hie oder da eingerissen ist, so ist es sehr erfreulich, dass der Vorstand, gemäß seiner Pflicht wie seinem Rechte, dagegen einschreitet. Wir glauben, dass seine Erklärung in den weitesten Parteikreisen als ein frischer Luftzug empfunden werden wird, der aufsteigende Nebel verweht.

Auf die konkreten Anstöße, die zu der Erklärung des Vorstands geführt haben, wollen wir einstweilen nicht eingehen, nicht sowohl deshalb nicht, weil diese Anstöße in weiteren Parteischichten bekannt sind, als weil denjenigen Elementen der Partei, für die der Parteivorstand ein warnendes Signal aufgesteckt hat, der nötige Spielraum gelassen werden muss, dies Signal zu beachten. Man muss hoffen, dass der Beschluss des Vorstands das nötige Gehör finden wird; sollte dem bedauerlicherweise nicht so sein, so wird der Parteivorstand selbst zweifellos die weiteren Schritte tun; er hat selbstverständlich nicht seinen Beschluss gefasst, um einen Schlag ins Wasser zu führen. Als Parteiorgan können wir uns vorläufig begnügen, unsere Genugtuung darüber auszusprechen, dass der Parteivorstand die nötigen Maßregeln getroffen hat, um den Schild der Parteipresse rein zu erhalten.

Dagegen veranlassen uns die Kritiker der bürgerlichen Blätter an dem Beschlusse des Parteivorstandes zu einigen Bemerkungen. Diese Kritiken gehen nach zwei ganz verschiedenen Richtungen. Einmal sagen bürgerliche Blätter, das seien ja reizende Zustände in der Sozialdemokratischen Partei, wenn ihren Publizisten erst eingeschärft werden müsste, was sich für jeden anständigen bürgerlichen Publizisten von selbst verstände, nämlich nicht für gegnerische Blätter zu schreiben. Bei dieser Kritik läuft ein gut Teil bürgerlicher Heuchelei mit unter. Der wirkliche Tatbestand ist der, dass sich in der bürgerlichen Presse seit Jahrzehnten unzählige Fälle von Presskorruption gehäuft haben, ohne dass je mit eisernem Besen dazwischengefahren worden wäre, während sich an der sozialdemokratischen Presse nur das erste faule Fleisch zu zeigen beginnt, um sofort mit Eisen und Feuer weggebrannt zu werden. Bei dieser Methode, die unsere Partei immer befolgt hat, ist sie viel zu gut gefahren, um nicht mit wohlwollender Nachsicht die süffisanten Redensarten entgegenzunehmen, die in bürgerlichen Blättern darüber gemacht zu werden pflegen.

Immerhin sind solche süffisanten Redensarten vom Standpunkt der bürgerlichen Presse aus erklärlicher als die andere Richtung bürgerlicher Kritik, die an dem Beschlusse des Parteivorstandes einen Verrat an der Demokratie erblickt. So wirft die „Frankfurter Zeitung" unserem Parteivorstande vor, die demokratischen Grundsätze in der Partei vernachlässigt zu haben – doch lassen wir sie selbst sprechen, da man den Galimathias wörtlich lesen muss, um ihn glaubhaft zu finden. Die „Frankfurter Zeitung" schreibt also zu dem Beschlüsse des Parteivorstandes:

Auch das zeigt, wie tief der Sinn für demokratische Grundsätze in dieser Partei bereits gesunken ist. In der „bürgerlichen" Demokratie betrachtet man es auch nicht als gleichgültig, für welches Blatt ein Mann von freiheitlicher Gesinnung schreibt, aber als oberster Grundsatz wird hier angesehen, dass diese Frage in erster Linie von dem Beteiligten selbst zu entscheiden ist. Andere mögen sich im Einzelfall darüber ein Urteil bilden, ob seine Entscheidung dem Taktgefühl gemäß war oder nicht. Aber ein Hirtenbrief wie dieser, der die Gläubigen vor Schaden an ihrem Seelenheil bewahren will, ist in einer demokratischen Partei unerhört, wenngleich anzuerkennen ist, dass er nicht mit Verweigerung der Absolution; sondern nur mit der Entziehung von Abgeordnetenmandaten droht.

Die „Frankfurter Zeitung" irrt zunächst doppelt in tatsächlicher Beziehung. Im ersten Teil seines „Hirtenbriefs"? um in ihrer angenehmen Sprache zu reden, „droht" der Parteivorstand allerdings mit „Verweigerung der Absolution"; er sagt ohne jede Einschränkung, es sei unvereinbar mit den Parteiinteressen, dass Parteigenossen als Redakteure oder Mitarbeiter an Pressorganen tätig sind, in denen eine gehässige oder hämische Kritik an der Sozialdemokratischen Partei geübt wird. Unter den „Vertrauensstellungen" in dem zweiten Teil des Beschlusses sind aber keineswegs bloß „Abgeordnetenmandate" zu verstehen, sondern auch Redakteur- und Referentenposten usw., genug, alle Mandate zu verstehen, die von den Parteigenossen den Männern ihres Vertrauens übertragen werden.

Zur Sache meint die „Frankfurter Zeitung", für welches Blatt ein Mann von freiheitlicher Gesinnung schreiben wolle, muss seinem Taktgefühl überlassen bleiben. Hierum handelt es sich aber gar nicht, sondern darum, was geschehen solle, wenn dies Taktgefühl im Einzelfall versagt. Dann sollen sich „andere" darüber ein Urteil bilden, aber eine demokratische Partei sollte sich beileibe nicht dagegen wehren dürfen, dass ihr aus mangelndem Taktgefühl einzelner ihrer Mitglieder empfindlicher Schaden zugefügt wird. Wehrt sie sich dennoch dagegen, so begeht sie einen „unerhörten" Verrat an den Grundsätzen der Demokratie. Die „Frankfurter Zeitung" fasst die Demokratie als ein Taubenhaus auf, wohinein jeder fliegen kann, wer will, und es mag ja sein, dass die „bürgerliche" Demokratie es so hält. Die proletarische Demokratie ist aber kein Taubenhaus, sondern sie hält auf Grundsätze, was die „Frankfurter Zeitung" auch seit vierzig Jahren sehr gut weiß.

Wenn sie jedoch so tut, als wisse sie es nicht, so hat diese künstlich fabrizierte Blindheit ihren Grund darin, dass der Beschluss des Parteivorstandes ihr und allen Blättern, denen daran gelegen ist, die Grenze zwischen der Sozialdemokratischen Partei und dem bürgerlichen Parteimischmasch zu versumpfen, ein Dorn im Auge ist. Die verbissene Wut dieser Art bürgerlicher Presse ist der schlagendste Beweis dafür, dass der Beschluss des Parteivorstandes im Interesse unserer Partei lag, im Interesse sowohl ihrer Disziplin wie ihrer Ehre und Würde.

1 Gemeint ist der Beschluss gegen die Mitarbeit von Intellektuellen der revisionistischen Richtung als Redakteure an bürgerlichen Zeitungen. Die Pressefrage war auch ein Hauptdiskussionspunkt auf dem Dresdener Parteitag 1903.

Um von den entscheidenden politischen Streitfragen abzulenken, traten die Revisionisten auf diesem Parteitag mit verleumderischen persönlichen Angriffen gegen Franz Mehring auf. Dazu benutzten sie dessen bereits 20 Jahre zurückliegende Schrift gegen die Sozialdemokratie, die er als bürgerlicher Publizist geschrieben hatte.

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