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Franz Mehring 19030617 Ein Tag des Triumphes

Franz Mehring: Ein Tag des Triumphes

17. Juni 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Zweiter Band, S. 353-356. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 559-563]

Zum dreizehnten Mal hat gestern das allgemeine Stimmrecht seines Amtes auf deutschem Boden gewaltet, abgesehen von den Revolutionsjahren, und jedes Mal – mit der einzigen scheinbaren Ausnahme von 1878 und 1881 – hat die Sozialdemokratische Partei einen mehr oder minder gewaltigen Zuwachs an Stimmen zu verzeichnen gehabt. Aber in dieser Reihe ununterbrochener Erfolge treten doch drei Tage als die Tage eines entscheidenden Triumphes hervor: der 27. Oktober 1881, an dem die Partei zwar einen Ausfall an Stimmen erlitt, aber unter dem härtesten Drucke des Sozialistengesetzes immer noch über 300000 Stimmen aufbrachte und damit ihre unverwüstliche Lebenskraft bewährte, dann der 20. Februar 1890, an dem sie fast die fünffache Anzahl von Stimmen gewann, nahe an anderthalb Millionen, an dem sie einen größeren Heerbann aufbot als irgendeine bürgerliche Partei und den allmächtigen Hausmeier Bismarck stürzte, endlich der gestrige Tag, an dem sie ihre Stimmenzahl seit 1881 ziemlich verzehnfacht und an die dritte Million gestreift haben wird.

Es ist ein überwältigender Erfolg, der in dieser, aus dem tiefsten Innern der Volksmassen quellenden Kraft kaum im eigenen Lager erwartet worden ist. Wohl war die Hoffnung auf einen großen Zuwachs an Stimmen berechtigt, und nicht zum wenigsten bestätigte die Sorge der Gegner diese Hoffnung, aber es wäre verwegen gewesen, im Voraus auf ein so urwüchsiges Hervorbrechen elementarer Gewalten zu vertrauen und mit dem zu rechnen, was nunmehr glorreiche Tatsache geworden ist, mit der Tatsache, dass die Partei im ersten Anlauf dieselbe Zahl von Mandaten erobern würde, die sie bisher im Reichstag besessen hat. Selbst Optimisten in unseren Reihen rechneten nur mit etwa einem Dutzend neuer Sitze; nun aber dürfen wir aus den mehr als hundert Stichwahlen, an denen die Partei beteiligt ist, einen beträchtlich höheren Gewinn erwarten. Im neuen Reichstag wird die Partei in einer Stärke vertreten sein, die nicht allzu weit hinter der Stimmzahl des Zentrums zurückbleibt; sagte Graf Caprivi vor zehn Jahren, dass die Regierung keinen Gesetzentwurf einbringe, bei dem sie nicht seine etwaige Wirkung auf die Sozialdemokratie erwäge, so wird Graf Bülow keinen Gesetzentwurf mehr einbringen können, ohne zu prüfen, wie ihn die Sozialdemokratie aufnehmen werde. Auf jenes dreiste Junkerwort, wonach die Sozialdemokratische Partei nur noch ein Objekt der Gesetzgebung sein dürfe, hat diese Partei die schlagendste Antwort gegeben, indem sie sich zu einem Subjekt der Gesetzgebung gemacht hat, an dem auch die „stärkste" Regierung nicht gleichmütig vorübergehen darf.

Jedes Wort des Lobes versagt gegenüber den unvergleichlichen Lorbeeren, die das deutsche Proletariat in dieser Wahlschlacht erworben hat. Kein Kreis des Reiches, worin sich die Arbeiter nicht wacker gehalten haben. Es ist nur um ihrer symptomatischen Bedeutung willen, wenn die sozialdemokratischen Wahlerfolge in Berlin und seinen Vororten sowie namentlich im Königreich Sachsen besonders hervorgehoben werden. Über der Hauptstadt des Deutschen Reiches weht jetzt die rote Fahne, siegreich und unerreichbar für jeden Griff der Feinde; nur eng gedrängt um das Hohenzollernschloss und auch schon umzingelt von der andrängenden Wucht der Arbeiter hält sich ein letzter Trupp bunt gemischter Ordnungshelden. Möglich, dass ihn auch schon die Welle am 25. Juni wegspülen wird, aber selbst wenn er noch einmal dem Verhängnis entrinnen sollte, so ist er doch nicht mehr als nach dem Worte des Dichters: verlorener Schwimmer in der Brandung Schwelle. Noch symptomatischer erscheint der sozialdemokratische Wahlsieg in dem Königreich Sachsen, dem industriellsten der deutschen Staaten, wo sich aller bürgerliche Parteiunterschied längst aufgelöst hat in ein Angst- und Wutkartell, das vor keinem Rechtsbruch, vor keiner noch so schmählichen Waffe der Unterdrückung und Verfolgung zurückbebt, um das bedrohte Eigentum zu retten: Mit einem Schlage hat der Zorn der Massen aus achtzehn sächsischen Wahlkreisen das Kartell gefegt und in den übrigen fünf die Bedränger in Stichwahlen zurückgedrängt, in denen sie selbst die arg Bedrängten sind. In diesem Mikrokosmos mag die bürgerliche Gesellschaft des Deutschen Reiches ihr Schicksal sehen, wie es mit ehernen und unaufhaltsamen Schritten herannaht.

Der sozialdemokratische Wahlerfolg ist so mächtig hervorgetreten, dass er auch von den bürgerlichen Parteien nicht bestritten werden kann. Wie sie den Wahlkampf geführt haben mit den alten Redensarten, die jedem gebildeten Geschmack, jedem auch nur halbwegs unterrichteten Menschen unüberwindlichen Ekel erregen müssen, so suchen sie sich jetzt über den Triumphtag der Sozialdemokratie hinwegzuhelfen mit jener anderen Garnitur alter Redensarten, von der sich nichts Besseres sagen lässt. Es sind noch die verhältnismäßig wohlwollendsten Stimmen, die der siegreichen Partei raten, nunmehr ihre republikanischen Gesinnungen möglichst ab-, dagegen Kniehosen und Wadlstrümpfe anzutun, genug, sich auf die Wege zu verirren, auf denen der deutsche Liberalismus untergegangen ist. So unsinnig der Vorschlag ist, so bekundet er doch eine Art guten Willens. Von diesem guten Willen ist eben ganz und gar nichts zu spüren in dem abgetanen Schlagworte, dass der Sieg der Sozialdemokratie die Reaktion stärke, zumal da dies Schlagwort kaum je so schlagend durch Tatsachen und Ziffern widerlegt wird wie bei den gegenwärtigen Wahlen.

Tritt in den sozialdemokratischen Erfolgen in erster Reihe der ungestüme Protest der Massen gegen den Brotwucher hervor, so nicht minder in der argen Schlappe, die der Bund der Landwirte erlitten hat. Seine Führer sind entweder durchgefallen oder stehen in ungünstiger Stichwahl. Hat die Regierung darauf spekuliert, als sie den gouvernementalen Wahlapparat wenigstens offiziell nicht spielen ließ, so hat sie insoweit ihre Rechnung gefunden, wenn auch nur in einer Weise, die den Bülow und Posadowsky den Schmerzensruf entlocken wird: O weh, wir haben gewonnen. Denn die sozialdemokratische Wahlbewegung hat sich keineswegs begnügt, den Brotwucher zu bekämpfen, soweit er der Regierung unbequem ist, sondern sie ist ihm auch auf den Leib gerückt, soweit er in der Regierung eine Helfershelferin hatte. Zu den symptomatischen Erfolgen der Sozialdemokratie gehört auch ihr Eindringen in rein ländliche Wahlkreise ; von den Sitzen, die sie diesmal neu gewonnen hat, sind zwölf mehr oder minder verschämten Brotwucherern, und nur drei den freisinnigen Fraktionen abgewonnen worden. Ähnlich ist das Verhältnis bei den Stichwahlen, soweit die bisher vorliegenden Ziffern darüber ein Urteil gestatten. Während die Sozialdemokratie in diesen Wahlen mit etwa fünfzig Konservativen, Nationalliberalen und Ultramontanen zu kämpfen hat, ist sie nur an etwa fünfzehn Stichwahlen mit freisinnigen Kandidaten beteiligt.

Das törichte Gerede, wonach die Sozialdemokratie ihren Hauptkampf gegen den Freisinn richte und dadurch der Reaktion zum Siege verhelfe, ist dadurch aber und abermals widerlegt. Hat die bürgerliche Linke bei diesen Wahlen wieder besonders schlecht abgeschnitten, wie nicht bestritten werden kann, so hat sie das unerfreuliche Ergebnis einzig und allein sich selbst zu danken, ihrer Lässigkeit und Trägheit, ihrer politischen Kurzsichtigkeit und Unzuverlässigkeit. Keiner ihrer drei Schattierungen, weder der Freisinnigen Volkspartei noch der Freisinnigen Vereinigung, noch der Deutschen Volkspartei ist am 16. Juni auch nur ein Mandat zugefallen, und was sie noch in den Stichwahlen zu erwarten haben, das hängt nicht zuletzt von der sozialdemokratischen Unterstützung ab, auf die sie sich verlassen und nach allen bisherigen Erfahrungen sich auch verlassen dürfen.

Um so mehr sollten sie veranlasst sein, ihrerseits die sozialdemokratischen Kandidaten gegenüber den Brotwucherern zu unterstützen. Nicht um der schönen Augen der Sozialdemokratie willen, nicht auch aus Dank für deren Unterstützung bei den Stichwahlen – zu diesem Danke sind sie gewiss nicht verpflichtet, da die sozialdemokratischen Wähler auch nicht für die schönen Augen der freisinnigen Fraktionen stimmen – sondern in ihrem eigensten Interesse. Sosehr der Bund der Landwirte aufs Haupt geschlagen ist, so droht doch immer noch die Gefahr, dass der Brotwucher der „mittleren Linie" eine Mehrheit im Reichstag findet. Das Zentrum hat sich, wenn die noch lückenhaften Nachrichten nicht trügen, leidlich im Wahlkampf gehalten; zwar hat auch ihm der sozialdemokratische Ansturm in mehr als einem Wahlkreis breiten Boden entrissen, aber einen wesentlichen Verlust an Mandaten wird die schwarze Brigade schwerlich erleiden; dieser böse Pfahl bleibt im Leibe des neuen Reichstags stecken. Umso wichtiger ist es, die konservativen und nationalliberalen Überzöllner zurückzudrängen, und in dieser Beziehung könnten die freisinnigen Wähler noch manches Gute schaffen, wenn sie bei den Stichwahlen dieselbe antireaktionäre Politik befolgen wie die sozialdemokratischen Wähler.

Leider ist die freisinnige Presse sehr weit entfernt davon, die einzige Möglichkeit auszunutzen, wodurch ihre Fraktionen die schwere Niederlage, die sie in den Wahlen erlitten haben, einigermaßen ausgleichen können. Diese Leute, die nicht genug darüber zu jammern wissen, dass sich die sozialdemokratischen Wähler bei den Hauptwahlen nicht zum Helotendienst für die liberale Bourgeoisie hergegeben haben, denken jetzt gar nicht daran, für ein durchaus ehrliches und gesundes, ebenso mögliches wie nützliches Bündnis zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse einzutreten. Sie verlangen nach einer „Reform des Freisinns an Haupt und Gliedern", was immer das heißen soll, und können sich nicht genug daran tun, die „Führung" des Herr Eugen Richter herunterzureißen, die alles Unheil des Liberalismus verschuldet haben soll. Wäre aber die „Reform" des Freisinns mit solchen Vorsätzen zu machen, wie sie nach dem Sprichwort den Weg zur Hölle pflastern, so wäre sie wirklich schon längst erfolgt, und was Herrn Eugen Richter anbetrifft, so ist er sicherlich ein politischer Schädling allerersten Ranges, dessen jammervoller Ausgang ein erfreuliches Beispiel dafür ist, dass die Nemesis nicht immer bloß die Toten, sondern mitunter auch die Lebenden zu packen weiß, aber gegen die Vorwürfe, die jetzt aus seinem eigenen Lager auf ihn nieder regnen, hat er sozusagen doch sein historisches Recht. Seine freisinnigen Kritiker feinden ihn aus keinem anderen Grunde an, als weil er der in seiner Art klassische und konsequente Typus ihrer eigenen Borniertheit ist; es ist ein Verhältnis, wie es ein freisinniger Politiker schon vor Jahren einmal in die scheinbar paradoxen, aber tatsächlich ganz richtigen Worte gekleidet hat: „Die Partei kommt an dem Manne um, aber ohne ihn könnte sie nicht einen Tag bestehen; er ist für sie ebenso unentbehrlich wie verhängnisvoll." Jede Partei hat eben genau den oder die Führer, die sie verdient, und der Freisinn täte viel klüger daran, bei seinem eigenen Stumpfsinn reuige Einkehr zu halten, als auf den Götzen loszuschlagen, den er sich nach seinem eigenen Bilde geformt hat und den er jetzt nur züchtigt, weil dieser Götze kein Gott ist, der Wunder wirken kann.

So ist die Hoffnung gering, dass die Bourgeoisie dieses Mal von dem Verrat absehen wird, den sie bisher noch bei allen Stichwahlen am Proletariat geübt hat. Umso mehr werden die Arbeiter selbst noch einmal ihre ganze Kraft anspannen, um am 25. Juni den Tag ihres Triumphes zu krönen. Der unversiegliche Brunnen, aus dem die Sozialdemokratische Partei ihre Kraft schöpft, ist das Vertrauen der Massen, und das Vertrauen wird in demselben Masse wachsen, worin sich zeigt, dass auf sie allein unter allen Parteien immer und überall sicherer Verlass ist.

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