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Franz Mehring 19030909 Eine Politik der Verzweiflung

Franz Mehring: Eine Politik der Verzweiflung

9. September 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Zweiter Band, S. 745-748. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 603-606]

Wäre uns am Tage nach dem 16. Juni die Preisaufgabe gestellt worden, vorherzusagen, was die Regierung nunmehr zur „Rettung der heiligsten Güter" tun werde, wir hätten vermutlich auf dies oder das, wenn auch in keinem Falle auf etwas Gescheites geraten. Allein wir müssen gestehen, selbst auf die Gefahr hin, unseren prophetischen Gaben das denkbar schlechteste Zeugnis auszustellen, dass wir niemals auf das verfallen wären, was die irdische Vorsehung des neudeutschen Reiches nun wirklich ausgetüftelt hat.

Man kommt immer auf seine erste Liebe zurück, sagt das bekannte französische Wort, und wirklich: Nach den Wahlen von 1903, die der Sozialdemokratie drei Millionen Stimmen eingetragen haben, erneuert die Regierung dieselbe Haupt- und Staatsaktion, auf die sie nach den Wählen von 1874 verfiel, als die Sozialdemokratie nur etwa erst den zehnten Teil der heute erreichten Stimmenzahl gemustert hatte. Wie damals die staatsanwaltliche Handhabung der strafrechtlichen Kautschukparagraphen das Vaterland retten sollte, so auch jetzt, nur mit dem verschönernden Amendement, dass es diesmal in erster Reihe auf die Handhabung des Majestätsbeleidigungsparagraphen abgesehen ist, also desjenigen unter allen Kautschukparagraphen, der sich in den breitesten Volksmassen schon lange, und zwar aus den triftigsten Gründen von der Welt, der ehrlichsten Abneigung erfreut.

Nach einer Meldung unseres Frankfurter Parteiblatts hat der preußische Justizminister an sämtliche Staatsanwälte eine Verfügung erlassen, wonach in der sozialdemokratischen Presse noch eifriger als bisher auf Majestätsbeleidigungen gefahndet und mit rücksichtsloser Schärfe jede Möglichkeit eines Majestätsbeleidigungsprozesses ausgenutzt werden soll. Wo sich aber diese Möglichkeit ergibt, soll die Untersuchungshaft gegen den Beschuldigten bei dem zuständigen Richter beantragt werden, ohne auf eine Prüfung von Fall zu Fall einzugehen, ob Fluchtverdacht begründet sei. Zwar ist die Richtigkeit der Meldung bestritten worden, aber nur von einer ganz unverbindlichen Seite her; ein amtliches Dementi ist zur Zeit, wo diese Zeilen geschrieben werden, noch nicht erfolgt, und selbst wenn es noch erfolgen sollte, so würde damit nicht die Tatsache beseitigt sein, dass praktisch ganz im Sinne einer solchen Verfügung gegen die sozialdemokratische Presse prozediert wird.

Ein Redakteur des „Vorwärts" ist wegen angeblicher Majestätsbeleidigung sofort in Untersuchungshaft genommen worden, obgleich, wie nunmehr das Berliner Kammergericht auf seine Beschwerde erkannt hat, weder Fluchtverdacht vorlag, noch auch nur der dringende Verdacht einer von ihm begangenen Majestätsbeleidigung behauptet werden konnte. In Leipzig befinden sich gar vier Angehörige unserer dortigen Parteizeitungen, drei Redakteure und ein Metteur, als angebliche Majestätsbeleidiger in Untersuchungshaft – wegen einer kleinen Notiz des vermischten Teiles, die gerade fünf Zeilen umfasste, einer Wiener Polizeikorrespondenz halbamtlichen Charakters entnommen und durch eine Menge bürgerlicher Blätter, ja sogar durch amtliche Organe der sächsischen Regierung gelaufen war. Von diesen vier Verhafteten ist inzwischen einer entlassen worden, nicht einmal der Metteur, sondern einer der drei Redakteure, angeblich weil er minder „belastet" sein soll als seine mitangeklagten Genossen.

Wenn sich trotz dieser schlagenden Beweise ein Zweifel an der Richtigkeit der von der „Frankfurter Volksstimme" gebrachten Mitteilung aufdrängt, so aus dem Grunde, weil neben den Majestätsbeleidigungsprozessen, die gegen die Parteipresse anhängig gemacht worden sind, auch ein Zeugniszwangsverfahren gegen sie aufgeboten wird. Dies Verfahren übertrifft an peinlichem Eindruck auf die weitesten Volkskreise beinahe noch die Anklagen wegen der beleidigten Majestät, eröffnet ebendeshalb aber die Möglichkeit, dass die Sozialdemokratie nicht nur mit dieser einen, sondern überhaupt mit jeder Waffe bekämpft werden soll, die geeignet ist, den Glanz der Autorität, der in den Augen unaufgeklärter Volksschichten noch ums Haupt der Regierung schweben mag, bis auf den letzten Schimmer zu vernichten.

Auf die Einzelheiten des Falles brauchen wir hier nicht näher einzugehen, da sie aus der Tagespresse hinlänglich bekannt sind. Genug, dass ein Versuch, militärische Missstände nicht sofort an die große Glocke zu hängen, sondern auf dem von der Regierung selbst so oft angepriesenen Wege zu ihrer vertraulichen Kenntnis zu bringen, auf dass sie aus eigener Initiative die notwendige Abhilfe schaffe, dem militärischen Berichterstatter des „Vorwärts" übel bekommen ist. Man mutet ihm zu, einen entehrenden Vertrauensbruch zu begehen, damit der Militarismus den gepeinigten Soldaten schlachten kann, der seine Qual einem sozialdemokratischen Blatte anvertraut hat. Der Militarismus enthüllt sich hier von einer so ungeheuerlichen Seite, dass selbst die bürgerlichen Blätter verhältnismäßig kräftige Töne des Abscheus finden, dass nur die allerabgehärtetsten Sünder ein schüchternes Wort der Entschuldigung zu stammeln wagen.

Dennoch liegt in diesem Vorgehen des Militarismus eine verzweifelte Logik, die richtig zu erkennen und zu würdigen vielleicht noch mehr am Platze sein mag als jeder noch so gerechtfertigte Ausdruck der Empörung. Über den Eindruck, den das Vorgehen gegen den militärischen Mitarbeiter des „Vorwärts" hervorrufen muss, kann sich keine militärische Instanz im unklaren befunden haben; wenn der Militarismus dennoch solche, seine Schultern zermürbende Last auf sich nahm, so mag er sich vor sich selbst damit rechtfertigen, dass er nicht anders konnte. Die Mittel der militärischen Disziplin gestatten ihm, jede sozialdemokratische Agitation innerhalb des Heeres mit eiserner Strenge zu ersticken, und er weiß auch sehr gut, dass die Sozialdemokratische Partei nicht daran denkt, in das Heer einzudringen. Aber die deutsche Arbeiterbewegung geht nunmehr schon ins zweite Menschenalter, und jeder neue Jahrgang von Rekruten bringt in einem steigenden Prozentsatz jene Blüte der Jugend ins Heer, die von Kindesbeinen an schon in der sozialdemokratischen Gedankenwelt gelebt hat, die gar nicht anders als sozialdemokratisch denken kann. Und diese Gedanken sind unerreichbar für jede Härte der Disziplin, für jede Grausamkeit selbst der Misshandlung. Je klarer der proletarische Rekrut schon aus seinem bürgerlichen Leben das Bewusstsein seiner Klasseninteressen mitbringt, desto leichter weiß er sich mit dem militärischen Zwange abzufinden, und ebendies ist die arge Lage des Militarismus, dass sich ihm von Jahr zu Jahr die Erkenntnis steigert, seine tüchtigsten Soldaten seien seine geschworensten Gegner. Jene Disziplin der Entnervung, die der alte Fritz seinen Soldaten einprügeln ließ, sie hat sich im Laufe der Zeit in eine Disziplin der Selbstbeherrschung verwandelt, die hoch über jedem Korporalstock steht.

Man könnte nun sagen: Wäre dem so, wie töricht würde der Militarismus handeln, durch ein Verfahren, wie er es gegen den militärischen Berichterstatter des „Vorwärts" eingeschlagen hat, die allgemeinste Entrüstung gegen sich wachzurufen! Objektiv ist es gewiss die höchste Torheit, die sich denken lässt, aber subjektiv – ja, was soll der Militarismus machen, wenn er sich nicht willenlos von dem unbarmherzigen Spiele der historischen Dialektik zerreiben lassen will? Er sieht ein unerbittliches Schicksal unaufhaltsam herannahen, und er sträubt sich dagegen mit Händen und Füßen, obgleich es klar ist und obgleich er vielleicht selbst empfindet, dass er seinen Untergang dadurch nur beschleunigt. Es ist die selbstmörderische Politik der Verzweiflung, in der sich historische Erscheinungen immer wieder gefallen, wenn die Uhr der Geschichte aushebt, ihre letzte Stunde zu schlagen.

Nicht anders steht es mit den Majestätsbeleidigungsprozessen. Sie haben sich in der Geschichte immer gehäuft, wenn die monarchische Gesinnung zur Rüste ging. Auch sie sind ohnmächtige Versuche, einen historischen Prozess zu hindern, der sich nicht mehr hindern lässt. Seit dreißig Jahren häufen sich diese Prozesse; sie haben zuzeiten in Deutschland, so gerade vor einem Vierteljahrhundert im Attentatsjahre, eine Ausdehnung genommen, wie noch nie in der Weltgeschichte, und doch ist die monarchische Gesinnung in der gleichen Zeit von Jahr zu Jahr mehr geschwunden. Was an jedem Tage gerade in bürgerlichen Kreisen an den ärgsten Majestätsbeleidigungen geleistet wird, das ist unendlich viel mehr, als seit dreißig Jahren in der sozialdemokratischen Presse nicht nur an wirklichen – denn das wäre eben nicht viel –, sondern selbst an angeblichen Majestätsbeleidigungen geleistet worden ist, und dagegen will man mit Majestätsbeleidigungsprozessen ankämpfen, die jetzt gegen die sozialdemokratische Presse angestrengt werden? Es ist wieder jene Politik der Verzweiflung, die nicht mehr aus noch ein weiß und immer schneller das Schicksal heraufbeschwört, gerade durch die Mittel, die sie anwendet, um es doch noch abzuwenden.

Unter diesen Gesichtspunkten kann man die neuesten Verfolgungen der Partei nicht ohne Genugtuung begrüßen, bei aller aufrichtigen Sympathie mit ihren Opfern. Wir hätten in der Tat nicht geglaubt, dass sich die Regierung des Deutschen Reiches schon auf eine Taktik reduziert fühlt, von der sogar die beschränktesten Philister zu beweisen wissen, dass sie die Entwicklung nur beschleunigt, die sie aufhalten wolle. Zudem liegt es in unserer Hand, den Blutzoll, den sie von uns erheischt, auf ein Nichts zu verkürzen. Vertrauen wir niemals wieder der Loyalität des Militarismus und sparen wir uns jede Kritik der Monarchie. Wo nichts ist, da hat selbst der gewitzteste Staatsanwalt sein Recht verloren, und die monarchische Gesinnung fließt munter fort, auch wenn gute Reden sie nicht begleiten.

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