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Franz Mehring 19030812 Hunger und Durst

Franz Mehring: Hunger und Durst

12. August 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Zweiter Band, S. 609-612. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 585-588]

Wenn in den Tagen des alten Fritz ein armer Leutnant ein armes Fräulein heiraten wollte, pflegte der preußische Despot seine Genehmigung mit der Begründung zu versagen, dass sonst Hunger und Durst zusammenkommen würden. Man wird daran erinnert durch die Verschmelzung des Nationalsozialen Vereins mit der Freisinnigen Vereinigung, die in den letzten Wochen soviel von sich reden gemacht hat, allerdings wohl mehr, weil es in der stillen Hochsommerzeit an politischem Stoffe mangelt, als weil die Welt sich fürchtete vor dem Bündnis, das Hunger und Durst geschlossen haben, sie zu erobern.

Als die Nationalsozialen sich vor sieben Jahren in Erfurt zusammentaten, in demselben Saale, wo fünf Jahre vorher die Sozialdemokratische Partei ihr Programm beschlossen hatte, sagten wir der neuen Gründung ein trübseliges Ende voraus. Aber wir waren weit entfernt davon anzunehmen, dass dies Ende so trübselig werden würde, wie es nunmehr geworden ist, dass ein Schifflein, das mit wehenden Wimpeln ausfuhr, um die Sozialdemokratie „abzulösen", einmal froh sein würde, sich in einen versandeten Nothafen des Kapitalismus zu retten. Auf der anderen Seite hatten wir den letzten Getreuen, die sich um den Fahnenstummel des Manchestertums scharen, auch zugetraut, dass sie eher mit einiger Haltung zu sterben wissen, als dass sie ein kümmerliches Scheinleben zu fristen versuchen würden durch ein Bündnis mit einer Richtung, die, wenn je eine, der vom manchesterlichen Standpunkt schlimmste Vorwurf trifft, mit dem Sozialismus kokettiert zu haben.

Was an diesem Bündnis zwischen Hunger und Durst interessiert, das ist weit mehr die symptomatische Bedeutung, auf die wir eben hingedeutet haben, als dass es eine historische oder auch nur tagespolitische Bedeutung hätte. Sie werden morgen wieder auseinander gehen, wie sie heute zusammentreten; dafür bürgt schon der Widerstand, den die unnatürliche Kopulation, noch ehe sie endgültig besiegelt ist, in den „Massen", wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, sowohl des Nationalsozialen Vereins als auch der Freisinnigen Vereinigung findet. Diejenigen Nationalsozialen, denen es mit ihren Illusionen Ernst gewesen ist, sträuben sich vor einer Verschmelzung mit dem Liberalismus, dessen historische Verblendung sie so oft und so eindringlich geschildert haben, während die alten Liberalen vom Schlage der „Weserzeitung" nichts von den neuen Bundesbrüdern wissen wollen, an denen sie allerlei unheimliche Reste konservativer Weltanschauung wittern. Den Vorzug der Ehrlichkeit und der Konsequenz haben diese rebellierenden Elemente hüben wie drüben, und so werden sie sehr bald den neuen Bau sprengen, den die „Führer" in ihrer überschlauen Berechnung aufzuführen versuchen.

Worauf beruht nun diese Berufung? Auf nichts anderem als auf dem feinen Plane, das Proletariat mit dem modischen Absolutismus zu versöhnen. Die guten Leute wollen die absolute Staatsgewalt den Händen der Junker entwinden und in die Hände des Kapitalismus spielen. Dazu brauchen sie die Hilfe der Arbeiterklasse, und so predigen sie das Bündnis der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse, um die Macht des Junkertums zu brechen. Aber zugleich sollen die Arbeiter den kapitalfeindlichen Absolutismus unter der Firma der nationalen Machterweiterung mit ungemessenen Militär- und Marinemitteln ausstatten. Für diese dem Kapitalismus geleisteten Dienste werden dem Arbeiter dann so viel Rechte verheißen, als der kapitalistischen Produktionsweise auf der heute erreichten Stufe ihrer Entwicklung gerade bequem und genehm sind. Dies ist in dürren Worten der Pakt, auf den sich die Freisinnige Vereinigung und der Nationalsoziale Verein geeinigt haben, und es ist in der Tat ein verwünscht gescheiter Pakt.

Was den ganzen Bund von vornherein brüchig macht, ist die Tatsache, dass die beiden Teile von ganz entgegengesetzten Gesichtspunkten aus sich gefunden haben. Die Nationalsozialen bringen von ihrem konservativen Ursprung her die Begeisterung für den Militarismus und Marinismus mit, und ebendaher einen gewissen ehrlichen Widerstand gegen den Kapitalismus, eine gewisse aufrichtige Sympathie für die Arbeiterklasse, die unter den Übelständen der kapitalistischen Wirtschaft so schwer zu leiden hat. Umgekehrt bekämpften die liberalen Politiker der Freisinnigen Vereinigung ursprünglich den Militarismus und Marinismus, während sie den Kapitalismus in allen seinen Konsequenzen in der zähesten Weise verteidigten. Man lese doch die Schrift, die Herr Barth, der rührigste und talentvollste Führer der Freisinnigen Vereinigung, unter dem Titel „Der sozialistische Zukunftsstaat" kurz vor dem Erlass des Sozialistengesetzes zum ersten- und unter dem Titel „Die sozialdemokratische Gedankenwelt" gleich nach dem Falle des Sozialistengesetzes zum zweiten Mal herausgegeben hat. Trotz des veränderten Titels haben beide Ausgaben denselben Wortlaut; Herr Barth sagt selbst, er habe im Jahre 1890 dem, was er im Jahre 1878 geschrieben habe, „keine fünfzig Worte hinzuzufügen" gehabt. So spurlos waren selbst die zwölf Jahre des Sozialistengesetzes an seinem kapitalistischen Glauben vorübergegangen. Denn die Schrift ist ein kapitalistisches Glaubensbekenntnis in der krassesten Form; in oberflächlich-törichtem Absprechen über den „sozialistischen Zukunftsstaat" und die „sozialdemokratische Gedankenwelt" steht sie mit den in dieser Beziehung berüchtigtsten Pamphleten des Herrn Eugen Richter durchaus in gleicher Reihe. Nun sind seit ihrer letzten Ausgabe allerdings wieder dreizehn Jahre ins Land gegangen, und es würde Herrn Barth gewiss nur zur Ehre gereichen, wenn er seitdem zur besseren Erkenntnis gelangt wäre. Allein als es ihm kürzlich törichterweise von seinem intimen Feinde Eugen Richter zur Unehre angerechnet wurde, erklärte Herr Barth, dass er zu gar keiner besseren Erkenntnis gelangt sei, sondern theoretisch noch auf dem Standpunkt jener Schrift stände; ihm leuchtet eben nur der praktische Gesichtspunkt ein, dass ein Sieg der Bourgeoisie über das Junkertum nicht möglich ist ohne die Hilfe der Arbeiterklasse.

Auf der anderen Seite näherte sich die Freisinnige Vereinigung der militär- und marinefrommen Auffassung dadurch, dass denen um Barth im Kampfe gegen den Militarismus noch viel früher der Atem ausging als denen um Richter. In dieser Beziehung sind die „freisinnig-vereinigten" Liberalen seit den Tagen der preußischen Konfliktszeit von Stufe zu Stufe gesunken und wesentlich immer Nationalliberale geblieben, wie sie es im ersten Jahrzehnt des Deutschen Reiches, bis zur Umkehr Bismarcks in der Wirtschaftspolitik, bekanntlich auch formell gewesen sind. Darüber ist weiter nichts zu sagen, als was hundertmal über liberale Schwachherzigkeit und Wankelmut gesagt worden ist.

Es zeugt denn auch nur von dem gesunden Instinkt der Massen, dass die Freisinnige Vereinigung und der Nationalsoziale Verein bei den Wahlen immer schlechtere Geschäfte gemacht haben. Die Presse derer um Richter spottet mit Recht: Was hat euch euer „soziales" Kokettieren geholfen? Ihr habt ja noch viel schlechter bei den Wahlen abgeschnitten als wir! Das ist unzweifelhaft richtig und erklärt sich auch keineswegs aus der „Anziehungskraft des großen Körpers", nämlich der Sozialdemokratie, wie Herr Naumann sich einreden möchte. Hat es je einen „großen Körper" gegeben, so war es die Fortschrittspartei vor vierzig Jahren, und hat es je einen noch kleineren Körper gegeben als die Freisinnige Vereinigung und den Nationalsozialen Verein, so war es die deutsche Sozialdemokratie in der ersten Zeit ihres Bestehens. Aber das Gesetz der Anziehungskraft wirkte ganz anders, als der nationalsoziale Führer heute meint. Die Sozialdemokratische Partei vertrat ohne alle Hintergedanken die Interessen der Arbeiterklasse, und deshalb sammelte sie diese Klasse in erst langsamem und dann immer schnellerem Fortschreiten um ihre Fahne, während die Freisinnige Vereinigung und der Nationalsoziale Verein immer mehr zusammengeschmolzen sind, je klarer es sich herausstellte, dass ihre bedingte Arbeiterfreundlichkeit eben keinen anderen Zweck hat, als die Klassenherrschaft unbedingt zu erhalten. Das wird auch nicht anders werden, wenn sich Hunger und Durst zusammentun, um mit vereinten Kräften zu wirken. Im Grunde sind sich so gescheite Leute wie Herr Naumann und Herr Barth darüber auch klar; sie wissen recht gut, dass sie die Massen niemals mit ihrer eigenen Kraft für sich gewinnen können. Die letzte Hoffnung, die sie am Grabe aufpflanzen, ist der Leichenraub an der Sozialdemokratie. Sie suchen die inneren Differenzen der revolutionären Arbeiterpartei zu schüren, zu verhetzen und zu vergiften, in der Hoffnung, damit diese Partei zu sprengen und den abgesprengten Teil unter ihre politische Vormundschaft zu nehmen. Man braucht nur ihre Blätter aufzuschlagen, um jeden Tag neue Beweise für diese edle Tendenz zu finden.

Wir wissen wohl, dass ihre Hoffnung trügerisch ist und dass sie umso trügerischer wird, je offener sie hervortritt. Insofern ist die Verschmelzung der beiden Richtungen immerhin ein Fortschritt, als sie jene Tendenz in ihrer ganzen Nacktheit hervortreten lässt; vereinigt werden beide noch ungefährlicher sein, als sie schon in ihrem getrennten Marschieren gewesen sind. Aber wir haben auch keinen Anlass, mit ihnen schönzutun und uns über ihre Zwecke zu täuschen, weil ihre Handlungen mitunter mit den unseren übereinstimmen. Die Freisinnige Vereinigung hat die Obstruktion gegen den Zolltarif mit der Sozialdemokratischen Partei gemeinsam gemacht, und das verdient an und für sich alle Anerkennung. Aber trotzdem haben die Wähler der Freisinnigen Vereinigung ein ebenso glänzendes Misstrauensvotum wie der Sozialdemokratischen Partei ein glänzendes Vertrauensvotum gegeben, und das hatte auch seinen guten Sinn. Ebenso liegt es mit den Nationalsozialen, denen man nicht abstreiten kann, dass sie in manchen konkreten Fällen ganz energisch für die Arbeiterinteressen eingetreten sind, ohne doch auch nur in bescheidenstem Maße das Vertrauen der Arbeitermassen errungen zu haben.

Der proletarische Emanzipationskampf lässt seiner nicht spotten, und er sagt allen Arbeiterfreunden, selbst wenn sie es in ihrer bürgerlichen Weise ehrlich meinen: Wer nicht für mich ist, der ist wider mich. Er gründet den Felsen, der die Kirche der Zukunft tragen wird, umso fester, je hoffnungsloser der Flugsand der Parteien durcheinander rinnt, die ihn unterminieren wollen.

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