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Franz Mehring 19030612 Ideale Güter

Franz Mehring: Ideale Güter

12. Juni 1903

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 132, 12. Juni 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 566-568]

Es liegt in der Natur der Dinge und ist auch an sich richtig, dass bei der Agitation für die Wahlen zum Reichstage die Frage der materiellen Interessen obenan steht. Die großen Massen des Volks haben das lebhafteste Interesse daran, dass die Brotwucherer geschlagen werden; der Sieg des ostelbischen Junkertums und der ihm für die Plünderung des Volks verbündeten Sippen würde die Lebenshaltung der arbeitenden Klassen tief herabdrücken, damit aber alle ihre Lebensquellen verschütten, die geistigen und moralischen nicht minder als die materiellen. Es wäre eine verhängnisvolle Selbsttäuschung, wenn die Arbeiter den trügerischen Lockungen der herrschenden Klassen über die „idealen Güter" der Nation, die in den Wahlen zu retten seien, ihr Ohr leihen wollten. Die Höhe der Kulturstufe, die das deutsche Volk im Reigen der Nationen einnimmt, hängt von der Höhe der Kulturstufe ab, die seine arbeitenden Klassen einnehmen; wer dafür kämpft, dass sich das deutsche Proletariat auf der Lebenshaltung zu behaupten vermag, die es in ebenso ruhmvollem wie zähem Ringen erklommen hat, wer dafür kämpft, dass ihm die freie und offene Bahn erhalten bleibt, sich immer höher zu entwickeln, der kämpft tatsächlich für das Glück und die Größe der Nation, trotz alles Geredes über die „idealen Güter", als deren getreue Eckardts die herrschenden Klassen sich aufzuspielen belieben.

Sowenig aber dies Gerede auch nur Pfennigswert zu beanspruchen vermag, sosehr lohnt es sich doch, darauf hinzuweisen, dass, soweit von idealen Gütern der Nation wirklich gesprochen werden kann, soweit es sich nicht um die idealistisch verklärte Profitmacherei, sondern um Kunst und Wissenschaft handelt, diese Güter heute keine treueren, keine zuverlässigeren Beschützer haben als das klassenbewusste Proletariat, dass sie von nichts so sehr in all ihren Lebensinteressen bedroht werden als von einem Siege der Rotte Kardorff. Die letzte Gesetzgebungsperiode des Reichstags hat ihre historische Signatur erhalten, nicht nur durch den Marinismus und den Militarismus, nicht nur durch die gewaltsamen Rechtsbrüche der Brotwucherei und Überzöllner, sondern ebenso durch die berüchtigte lex Heinze, jenen heimtückischen Schlag, der gegen Kunst und Wissenschaft geführt werden sollte. Die Brotwucherermehrheit ist zugleich eine Obskurantenmehrheit; sie ist der Ansicht, die übrigens von ihrem Standpunkt aus auch gar nicht so töricht ist, dass es Nacht sein müsse, wo ihre Sterne strahlen; kehrt sie in den Reichstag zurück, dann kehrt mit ihr auch die lex Heinze wieder, vielleicht in anderer, gewiss in keiner weniger gemeingefährlichen Form.

Das Zentrum will nicht umsonst „maßgebende" Partei sein. Es hat allen Grund zu fürchten, dass es nachgerade selbst seinen geduldigsten Wählern zu viel wird, sich immer neue Lasten aufpacken zu lassen, bloß um den mäßigen Genuss zu haben, dass die Gröber und Roeren und Spahn sich im Reichstag als Männer von Wichtigkeit aufspielen dürfen. Wenn nicht alles täuscht, so rumort es jetzt schon bedenklich in den Kreisen der ultramontanen Wählerschaft; gelangt die schwarze Brigade nochmals ins Reichstagsgebäude, so wird es eine letzte Galgenfrist sein, die ihr gewährt wird, und man darf von ihr ohne jedes Bedenken voraussetzen, dass sie alles daran setzen wird, ihren zelotischen Stempel unseren öffentlichen Einrichtungen aufzudrücken und so ihren noch gläubigen Anhängern den Beweis zu führen, dass sie nicht bloß der geduldige Packesel der Regierung ist, sondern auch für sich noch etwas bedeutet. Sie wird sich umso mehr angetrieben fühlen, wenn sie, wie zu hoffen und zu wünschen steht, schon bei diesen Wahlen einige Einbuße erleidet, die sie fühlbar daran erinnert, dass es mit ihrer parlamentarischen Herrlichkeit zu Rüste geht.

Dieser drohenden Gefahr gegenüber gibt es nur eine Waffe der Abwehr: eine starke Vertretung der Sozialdemokratie im Reichstage. Ihr und ihr allein ist es zu danken, dass die lex Heinze gefallen ist; ohne die geschickte Obstruktion, die von der sozialdemokratischen Fraktion geleitet wurde, wäre das Attentat auf Kunst und Wissenschaft gelungen, und mit dem Essen wäre der Appetit der ebenso kunst- wie volksfeindlichen Rotte Kardorff gewachsen. Es ist wahr, dass die bürgerliche Linke eine halbwegs zuverlässige Bundesgenossin in diesem sozialdemokratischen Feldzuge gewesen ist, dass sie ganz munter die Obstruktion mitgemacht hat, die dann ein so großer Teil von ihr in den Kämpfen um den Zolltarif verraten hat, obgleich die Obstruktion bei dieser Gelegenheit nur ein Schatten der Obstruktion war, über die die lex Heinze in den Papierkorb stolperte. Aber eben dadurch hat die bürgerliche Linke auch wieder ihre Unzuverlässigkeit bewiesen; dass sie bei jenem gemeinsamen Feldzuge, obgleich sie sich für ihre Verhältnisse ganz tapfer hielt, nicht aus eigner Energie und Initiative gehandelt hat, sondern von der proletarischen Linken geführt worden ist, das haben selbst deutsche Professoren anerkannt.

Sicherlich wäre es eine große Anmaßung zu behaupten, dass die Sozialdemokratie Kunst und Wissenschaft gepachtet hätte. Das hat sie sowenig wie eine andre Partei. Kunst und Wissenschaft stehen außerhalb des politischen Parteigetriebes und insofern über ihm1; wer aber diese Stellung erhalten, wer der Kunst und der Wissenschaft die Fähigkeit und Möglichkeit wahren will, sich in voller Freiheit auszuleben und auszuwirken, der wird sich die einzelnen Parteien auf die Garantien ansehen müssen, die sie in dieser Beziehung bieten. Alles, was sich in der Rotte Kardorff vereinigt, hat das dringendste Interesse daran, der Kunst wie der Wissenschaft die Faust im Nacken zu halten, wie der Kampf um die lex Heinze gezeigt hat; die Liberalen haben an und für sich, nach dem ganzen Zusammenhang ihrer Weltanschauung, dies Interesse nicht, aber sie sind weit entfernt, Feuer und Tatkraft an die Verteidigung von idealen Gütern zu setzen, die nichts dazu beitragen können, den Profit zu sichern und zu steigern.

Mit starker Hand behütet diese Güter nur die Sozialdemokratie. Nicht nur, weil sie will, sondern auch, weil sie muss. Das Gelingen des proletarischen Emanzipationskampfes hängt in entscheidender Weise davon ab, dass er alles, was die Zivilisation erworben hat, zu retten und zu mehren weiß; jeder Rückschritt in dieser Richtung ist ein Rückschritt auch in der modernen Arbeiterbewegung, die in ständiger Wechselwirkung die Zivilisation vorantreibt, wie sie von ihr vorangetrieben wird. Jeder echte Jünger der Kunst und Wissenschaft hat in diesem Wahlkampfe nur die Wahl, einen sozialdemokratischen Stimmzettel in die Urne zu werfen.

1 Mehring hat den Klassen- und Parteicharakter der künstlerischen und gesellschaftswissenschaftlichen Anschauungen stets anerkannt, ja in seiner konkreten Erforschung und Begründung liegt eines seiner Hauptverdienste auf dem Gebiet der Literaturgeschichte und -kritik. Offensichtlich wendet er sich hier dagegen, Kunst und Wissenschaft in ein kleinliches bürgerlich-parlamentarisches Parteigezänk hineinzuziehen.

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