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Franz Mehring 19030124 Kaiser und Sozialdemokratie

Franz Mehring: Kaiser und Sozialdemokratie

24. Januar 1903

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 19, 24. Januar 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 530-532]

Es ist eine alte Erfahrung, die sich oft genug auch schon auf unsern Parteitagen gezeigt hat, dass parlamentarische Debatten, wenn nicht regelmäßig, so doch sehr häufig einen ganz andern Verlauf nehmen, als alle Welt vorher erwartet hatte. Die diesjährige Generaldebatte des Etats hat sich, was vor acht Tagen von keiner Seite angenommen wurde, zu einer großen Auseinandersetzung zwischen dem Kaiser und der Sozialdemokratie gestaltet, und, dank der meisterhaften, in Form und Inhalt gleich unübertrefflichen Rede Bebels, mit einem vollen Siege der Partei geendet. An dieser Tatsache besteht nirgends auch nur der geringste Zweifel, und wenn es unter den zahllosen Monarchisten in Deutschland, die angeblich bereit sind, ihr Blut für den Thron bis auf den letzten Tropfen zu verspritzen, noch einen geben sollte, der wirklich auf die Gefahr allerhöchster Ungnade hin dem Kaiser den wahren Stand der Dinge vorzutragen den Mut hat, so wird es mit den kaiserlichen Feldzügen gegen die Sozialdemokratie wohl vorbei sein.

Wir wissen nicht, ob Graf Bülow dieser mutige Mann sein wird; einstweilen hat er sich begnügt, auf die zerschmetternde Rede Bebels in mehr als nur schwächlicher Weise zu antworten. Seine Behauptung, dass die starken Ausdrücke des Kaisers durch gleich starke Angriffe der sozialdemokratischen Presse herausgefordert worden seien, hat natürlich nur den Wert einer rhetorischen Figur, und es war sehr gescheit von dem Reichskanzler, dass er sich jeder Beweisführung durch die wohlfeile Bemerkung entzog, er wolle die Beweise nicht „aus dem ‚Vorwärts’ oder gar der ‚Leipziger Volkszeitung'" vorlesen. Umso schlagender ist unser Gegenbeweis. Hätten im „Vorwärts" oder in der „Leipziger Volkszeitung" auch nur entfernt Kritiken des Kaisers gestanden, die sich an Form und Inhalt mit den Kritiken vergleichen ließen, die der Kaiser in Essen und Breslau an der Sozialdemokratie geübt hat, so wären beide Blätter längst wegen Majestätsbeleidigung verurteilt worden. Wenn übrigens der Reichskanzler anzudeuten schien, dass er die „Leipziger Volkszeitung" für das radikalste Blatt der Partei halte, so sind wir ihm für diese schmeichelhafte Meinung sehr verbunden, insoweit als wir aufrichtig bestrebt sind, keinem Parteiblatt an klarer und scharfer Vertretung der Parteiprinzipien nachzustehen, aber wir müssten das Lob des Grafen Bülow ablehnen, wenn damit gesagt sein sollte, dass wir überhitzige Gegner der Monarchie seien oder etwa an dem Falle Krupp eine besondere Freude gehabt hätten.

Wir haben von diesem Falle nur gerade diejenige Notiz genommen, die nötig war, um unsere publizistische Pflicht zu erfüllen und unsere Leser über die Ereignisse des Tages auf dem Laufenden zu erhalten. Wir wären aber durchaus nicht betrübt gewesen, wenn der Fall überhaupt nicht angeschnitten worden wäre, und würden jetzt auch nicht groß jammern, wenn er mitsamt seiner „Geheimgeschichte", seinen „düstern Geheimnissen" und seiner „entsetzensvollen Tragödie" endgültig von der Tagesordnung verschwände. Es ist richtig, dass er in seinen Folgen zu einem großen Siege der Partei geführt hat, zu der herrlichen Rede Bebels, für die kein Wort des Lobes stark genug ist, aber diese Rede wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht auf gegnerischer Seite wahrhaft ungeheuerliche Fehler vorgekommen wären, Fehler, auf die von vornherein nicht zu rechnen war. Ohne diese Fehler wäre der Fall Krupp zu einer empfindlichen Schlappe der Partei geworden. Darüber wird es gut sein, sich keine Illusion zu machen, gemäß der alt erprobten Praxis der Partei, am Tage der Niederlage nicht demütig und am Tage des Sieges nicht übermütig zu sein.

Sowenig wie wir uns für den Fall Krupp erhitzen konnten, sowenig entsprach oder entspricht es unseren Ansichten, uns gegen die Monarchie und ihre augenblicklichen Träger zu erhitzen. Wir bekämpfen die Monarchie, weil wir die Klassenherrschaft bekämpfen, ohne uns je darüber zu täuschen, dass mit der Klassenherrschaft zwar die Monarchie verschwinden muss, aber die Klassenherrschaft keineswegs schon mit der Monarchie verschwindet. Hätte die deutsche Nation denselben normal-historischen Entwicklungsgang gehabt wie die englische und die französische, so würde eine deutsche Monarchie überhaupt nicht mehr existieren oder etwa nur in der schattenhaften Gestalt der englischen Monarchie. Wenn aber die deutsche Bourgeoisie an der „starken" Monarchie festhält, so erspart sie ihr deshalb keineswegs die Frage: Glaubst du, dieser Adler sei dir geschenkt? Sie hat sich der Monarchie unterworfen, um sie als Schild und Schwert gegen die arbeitende Klasse zu gebrauchen, allein sie denkt gar nicht daran, den Absolutismus der spanischen Philippe oder der französischen Ludwige oder der preußischen Friedriche wiederherzustellen. Scheinbar viel schrankenloser als der alte, ist der modische Absolutismus tatsächlich viel ohnmächtiger, da er ohne den mächtigen Geldbeutel der Bourgeoisie auch nicht einen Tag leben könnte.

Man muss anerkennen, dass der gegenwärtige Kaiser mit seinem schneidigen Auftreten gegen die Sozialdemokratie vollkommen wohl den historischen Sinn des modernen Absolutismus begriffen hat. Jedoch geht er für den Geschmack der Bourgeoisie zu schneidig vor; in ihrem täglichen Verkehr mit dem Proletariat weiß die Bourgeoisie die tatsächlichen Wirkungen der kaiserlichen Reden auf die Arbeiterklasse weit richtiger einzuschätzen als der Kaiser selbst. Daher erklärt es sich auch, dass Bebels glänzende Abwehr der kaiserlichen Angriffe in der bürgerlichen Presse mit mehr oder minder offenem Wohlbehagen registriert wird. Selbstverständlich wäre es irrig, daraus zu folgern, dass Bebel etwa die Geschäfte der Bourgeoisie besorgt habe. Er selbst wies mit aller sachlichen Schärfe die kaiserlichen Angriffe zurück, obgleich er nicht ohne guten Grund sagte, dass uns jeder dieser Angriffe hunderttausend neuer Anhänger zuführe. Die Sache hängt vielmehr so zusammen, dass in dem großen weltgeschichtlichen Kampfe unserer Zeit, in dem Kampfe zwischen Bourgeoisie und Proletariat, je nachdem beide Kämpfer sich in dem Interesse begegnen können, überflüssiges und nichts entscheidendes, aber die eigentlichen Richtpunkte der Schlachtlinien verdunkelndes Staubaufwirbeln vermieden zu sehen.

Auf solches Staubaufwirbeln würde es auch hinauslaufen, wenn die sozialdemokratische Parteipresse einen überhitzten Krieg gegen die Monarchie führen wollte. Das liegt uns sehr fern, da es uns weit mehr auf die richtige Strategie und Taktik des proletarischen Emanzipationskampfs als auf kleine Scharmützel ankommt, die, wie gesagt, nichts entscheiden. Für seinen weltgeschichtlichen Kampf braucht das klassenbewusste Proletariat prinzipielle Festigkeit und Klarheit viel mehr als feuilletonistische Sensationen, die wie Feuerwerke aufprasseln, aber auch die unerfreuliche Folge von Feuerwerken haben: nämlich eine Abstumpfung des Blicks für die entscheidenden prinzipiellen Gesichtspunkte des politisch-sozialen Kampfes.

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