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Franz Mehring 19030114 Konzessionsschulzes

Franz Mehring: Konzessionsschulzes

14. Januar 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 481-484. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 518-522]

In einem Wochenblatt der Bourgeoisie lesen wir: „Kein denkender Mensch verkauft sich einer Partei mit Haut und Haaren. Einzelne Programmsätze hält jeder für nebensächlich, vielleicht sogar für falsch. Aber höher als das Wort steht ihm der Geist. Ist solche reservatio mentalis schon Lüge? Ich glaube: Nein." Der Parteiführer „erstickt und streicht gar nichts von seinem Wesen, sondern bedenkt nur, dass die Parteigänger eben erst aus der Masse kamen und die Spur solcher Herkunft noch an sich tragen; mit vollem Bewusstsein richtet er darnach seine Reden und sein Verschweigen. Auch unreifen Kindern verschweigen Eltern und Lehrer manches, schildern sie, schon um es zu vereinfachen, manches anders, als sie es in der Wirklichkeit sehen, und niemand schilt sie deshalb Lügner. Der politische Pädagoge muss damit rechnen, dass die Mehrheit seiner Parteiherde noch in den vom Massenempfinden geschaffenen Vorstellungen lebt, in einem Kindheitsstadium, und dass diese Mehrheit für den Kampf nicht zu entbehren ist." So geht es noch eine ganze Strecke weiter in einem Artikel, der nach seinem Titel über „Parteimoral" handeln soll und die schöne Theorie entwickelt, dass die Massen von „dunkeln Trieben" beseelt wären und deshalb von dem „bewussteren Sinne" der „einzelnen als Lenker ihrer Geschicke" geführt oder je nachdem auch genasführt werden müssten.

Es mag kaum nötig sein zu sagen, dass es die „Zukunft" des Herrn Harden ist, der wir die vorstehenden Sätze entnehmen. Was darin als „Parteimoral" gepredigt wird, das ist die Moral des Herrn Harden und ähnlicher Geschäftsjournalisten. „Jenseits von Gut und Böse", sind diese Karikaturen Nietzsches die „Alleinflieger", die mit erhabenem Grinsen auf die „Vielzuvielen" herabsehen. Politische Gesinnungslosigkeit ist die stickige Atmosphäre, worin sie leben und weben. Herr Harden hat zur selben Zeit, wo er das nahrhafte, wenn auch nicht saubere Geschäft betrieb, die schmutzigen Stiefel Bismarcks zu putzen, hinterrücks den Säkularmenschen elend hereingeholt. Eben noch polnischer Jude, kämpft Herr Harden mit dem christlichen Taufzettel und dem germanischen Trutze des Cheruskers

Armin für Thron und Altar, um dann wieder den Freiheitshelden und Freidenker zu spielen, der allein noch in dem geknechteten Deutschland ein freies Wort wage. Immerhin zeigen sich in seinen literarischen Gaukeleien gewisse Triebe, so „dunkel", wie nur immer die Triebe der Massen sein mögen, aber doch deutlich: eine gierige Begeisterung für alle Gewalt- und Raubpolitik, wie sie Bismarck trieb und wie sie die große Bourgeoisie, wie sie namentlich das ostelbische Junkertum treibt, das Herr Harden, ein grundstürzender Revolutionär auf ökonomischem Gebiet, als den „Werte schaffenden Stand" feiert; dann perverse Geschlechtsinstinkte, die namentlich in allen fürstlichen und sonst „vornehmen" Betten schnüffeln und endlich, entsprechend diesen Neigungen, eine wilde, unbezähmbare Wut auf die Sozialdemokratie. Diese Triebe haben aus der „Zukunft" das Lieblingsorgan jenes verfaultesten Pöbels gemacht, der sich in der kapitalistischen Klasse als vornehme Gesellschaft aufspielt.

Man braucht nur die neuesten Nummern der „Zukunft" zu durchblättern, um Proben von alledem zu finden. Am 22. November vorigen Jahres behandelte Herr Harden die Kämpfe, die im Reichstag um den Zolltarif geführt wurden; in überschwänglicher Weise verherrlichte er den Hungertarif und den Vater dieser Missgeburt, den Grafen Posadowsky, „dessen nie rastender Fleiß, dessen gewissenhafte Sachlichkeit und sittlicher Ernst nicht oft und nicht laut genug gerühmt werden können". Dagegen wurden der Sozialdemokratie folgende lautere Beweggründe untergeschoben für ihre Absicht, „unter dem hehren Zeichen des Brotwuchers" auf das Wahlschlachtfeld zu marschieren: „Erstens: weil die bürgerlich Radikalen sie dann nicht bekämpfen können. Zweitens: weil solche Parole ihnen die Nötigung ersparen würde, das von den ‚Revisionisten' der Bernsteinfärbung zerbröckelte Programm zu entschleiern. Drittens: weil sie – die letzten, unsäglich öden Parteitage lehrten es – gerade jetzt kein anderes wirksames Feldgeschrei habe, als dieses billigste, das schnell selbst ins leerste Demagogenhirn zu hämmern ist." Folgen noch einige schnodderige Redensarten über den „recht alten Herrn Bebel", ähnlich wie Herr Harden früher den „alten Herrn" Liebknecht anzuulken pflegte; Männer, die im Dienste eines großen Prinzips alt geworden sind, werden von den Tausendsassas der Geschäftsjournalistik natürlich am liebsten verunglimpft. Am 29. November beginnt dann Herr Harden einen Artikel über Krupp mit der gegen die Partei gerichteten Lüge: „Den Kanonenkönig hat eine Papierwespe getötet", und darnach ergeht er sich auf dem Gebiet perverser Geschlechtsneigung mit einer Sachkenntnis, von der uns Mediziner sagen, dass sie bewundernswert sei.

Nach solchen Leistungen hat Herr Harden das begreifliche Bedürfnis, sich selbst womöglich zu übertrumpfen, und man kann nicht leugnen, dass ihm das in der Nummer der „Zukunft" vom 10. dieses Monats in der Tat gelungen ist. In der Form eines albernen Kolportageromans toben sich im Leitartikel perverse Instinkte bis zur gänzlichen Erschöpfung aus; der infamste Hofklatsch des Dresdener Schlosses wird hier unter lüsternen Zuckungen zusammengefegt, Herr Harden schämt sich selbst nicht, einer flüchtigen, wehrlosen Frau in unfassbaren, aber deshalb nur um so widerlich aufdringlicheren Anspielungen nachzuraunen, dass weder ihr Gatte noch ihr Geliebter das Kind gezeugt habe, das sie unter dem Herzen trage. Dann aber meint Herr Harden, der von ihm so bitter gehassten Sozialdemokratie den schwersten Tort dadurch antun zu können, dass er seine verseuchte Moral durch einen leibhaftigen Sozialdemokraten vortragen lässt, und wir sind aufrichtig genug, anzuerkennen, dass unseres Wissens der Geschäftsjournalistik ein gleich raffinierter Coup noch nicht gelungen ist.

Wirklich hat ein eingeschriebenes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei den Artikel über „Parteimoral" in dem neuesten Hefte der „Zukunft" verfasst. Die Sätze, womit wir heute begannen, sind aus sozialdemokratischer Feder geflossen. Wer diese Feder führt, kann hier gleichgültig sein, wo es nicht auf den Namen, sondern auf die Sache ankommt. Heiße er Schulze oder Müller, gleichviel. Ja, er heißt sogar Schulze, und zwar – zum Unterschied von seinen zahlreichen Namensgenossen – Konzessionsschulze. Die Frage, ob sozialdemokratische Schriftsteller an bürgerlichen Blättern mitarbeiten dürfen, war früher verhältnismäßig leicht zu entscheiden. Bei literarischen und wissenschaftlichen Organen, wenn sie sonst nur auf Sauberkeit und Würde hielten, lag je nachdem gar kein Hindernis vor; bei politischen Blättern, das heißt bei Blättern, die noch ein politisches Rückgrat hatten, war die Sache dagegen von selbst ausgeschlossen. Kein sozialdemokratischer Schriftsteller konnte an eine Mitarbeit bei der „Kreuz-Zeitung" oder „Germania" oder „National-Zeitung" oder „Freisinnigen Zeitung" denken; keines dieser Blätter hatte auch das geringste Bedürfnis nach sozialdemokratischen Mitarbeitern. Das wurde anders, als die so genannte parteilose Presse aufkam, Wochenblätter, wie die „Zukunft", oder Tageblätter, wie der „Lokalanzeiger" und die „Morgenpost". Als Seuchenherde der politischen Gesinnungslosigkeit sind sie viel gefährlichere Gegner der Massenaufklärung als die ehrlichen und offenen Organe der bürgerlichen Parteien, aber sie brauchen gleichwohl sozialdemokratische Mitarbeiter, um sagen zu können, dass sie allen politischen Richtungen einen Sprechsaal gewährten, um die Massen darüber zu täuschen, dass ihre so genannte Unparteilichkeit gerade die schlimmste Blüte am Giftbaum des Kapitalismus sei. Sie brauchen ihre Konzessionsschulzes nach Analogie des preußischen Militarismus, der, um die Junkerherrschaft im Offizierskorps zu verbergen, möglichst in jedem Regiment einen bürgerlichen Leutnant Schulze anstellt. Die Harden, Ullstein, Scherl und wie diese hehren Träger moderner Kultur sonst noch heißen, zwinkern ihrer kapitalistischen Nährmutter zu: Nur nicht ängstlich! Wenn wir Sozialdemokraten in unseren Buden schreiben lassen, so werden wir dafür sorgen, dass sie kein Unheil anrichten; wir brauchen sie unter allen Umständen, um die Massen zu vergiften.

Herr Harden, immer der Unverfrorenste unter seinesgleichen, wollte bei der Gründung der „Zukunft" selbst Männer wie Engels, Liebknecht, Bebel zu Konzessionsschulzes werben; natürlich fiel er bei ihnen gründlich ab und rächte sich dafür durch wütende Schmähungen an ihnen und der Sozialdemokratischen Partei überhaupt. Dennoch wurde er in seinem Seelenfischfang nicht müde und hat auch mehr als einen Konzessionsschulze eingefangen. Einer gedieh sogar zum stellvertretenden Redakteur des Herrn Harden, den er namentlich im Schmähen der Sozialdemokratischen Partei ebenbürtig ersetzte, ohne bisher seine Parteizugehörigkeit verloren zu haben. Einen anderen haben wir eben die Jesuitenmoral predigen hören, dass man die Massen wie „unreife Kinder" behandeln müsse, denen man nicht die Wahrheit zu sagen brauche, dass man ihnen als „politischer Pädagoge" der Himmel weiß, welchen Humbug vormachen dürfe, eine „Parteimoral", die den Parteigrundsätzen und Parteiüberlieferungen von vierzig Jahren mit geballter Faust ins Gesicht schlägt. Ein erschütterndes Bild in der Tat! Vor sechs Wochen erklärte Herr Harden feierlich, die Partei treibe handgreiflichen Schwindel mit ihrem Kampfe gegen den Brotwucher, und heute bestätigt ein sozialdemokratischer Schriftsteller in dem Blatte des Herrn Harden: Handgreiflichen Schwindel zu treiben, ist die Moral der Partei.

Wir haben diesen neuesten Fall auch deshalb aufgespießt, weil er sehr gut die Entschuldigung beleuchtet, womit sich die Konzessionsschulzes herauszureden belieben. Sie pflegen zu sagen: Wir sind so ängstliche Seelen nicht, um nur im Parteipferch unsere Meinung zu sagen; wir tragen das Banner der Partei vielmehr ins feindliche Lager und lassen es hier hoch in den Lüften flattern. Es gibt sogar manchen Achilles unter ihnen, der nur im Lager der Feinde, in der „Zukunft", in der „Morgenpost" und wo sonst noch, das Heldenschwert blitzen lässt und im „Parteipferch" höchstens einmal erscheint, um naserümpfende Bemerkungen über die Unzulänglichkeit der freilich nicht kapitalkräftigen Parteipresse zu machen. Es ist nun zwar von vornherein klar, dass die Konzessionsschulzes an der Strippe der Harden, Scherl, Ullstein und so weiter tanzen, nicht aber umgekehrt, allein ein Fall, wie der vorliegende, wo ein Parteischriftsteller im Blatte des Herrn Harden nicht die politische Moral der Partei, sondern die gerade entgegengesetzte Moral des Herrn Harden predigt, kommt in dieser blanken Offenherzigkeit immerhin nicht alle Tage vor. Sonst pflegen die Konzessionsschulzes etwas besser das Dekorum zu wahren, wodurch sie gewiss nicht erträglicher werden.

Im Übrigen missgönnen wir dem vornehmen Lesepöbel der „Zukunft" nicht allzu sehr den Spaß, einmal durch eine sozialdemokratische Stimme bestätigt zu hören, dass die Arbeiterklasse eine ebenso brüchige Moral habe wie die Bande der Brotwucherer. Es wird schon rechtzeitig für ein jähes Erwachen aus dem holden Traum gesorgt werden, dass die Massen „unreife Kinder", dass sie eine „Parteiherde" seien, der von den „politischen Pädagogen" des Kapitalismus, einschließlich aller Konzessionsschulzes, ein X für U gemacht werden könne.

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