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Franz Mehring 19030415 Suprême paresse

Franz Mehring: Suprême paresse

15. April 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Zweiter Band, S. 65-69. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 541-546]

Heute ist der Jubel groß im bürgerlichen Hause: Der Kongress in Bordeaux hat die Ausschließung Millerands abgelehnt, mit einer schwachen Mehrheit freilich nur und gegen den Antrag der Kommission, die zur Vorberatung der Frage niedergesetzt worden war, aber immerhin – Jaurès hat seinen Freund Millerand gerettet; der französische Sozialismus hat, wie ein freisinniges Blatt triumphierend schreibt, die Eierschalen abgestreift, die ihm von seinem Sektenursprung her anhingen; er stellt sich auf den Boden der allgemeinen Demokratie. Natürlich fehlt dann auch nicht die Nutzanwendung: Gehet hin, ihr deutschen Sozialdemokraten, und tuet desgleichen.

Damit hat es denn nun einstweilen gute Wege. Vorläufig handelt es sich erst um die Frage, wie die Entscheidung, die in Bordeaux gefallen ist, auf die französische Arbeiterbewegung wirken werde. Jean Longuet fasst in dem lehrreichen Artikel, den er in der vorigen Nummer unseres Blattes veröffentlicht hat, die Ausschließung Millerands als einen wesentlichen Fortschritt auf und führt dafür triftige Gründe an. Doch wollen wir nicht verhehlen, dass uns schon vor Wochen andere französische Genossen in anderem Sinne schrieben, in dem Sinne nämlich, es sei besser, wenn Jaurès seinen Freund in Bordeaux retten würde; dann würden die proletarischen Elemente, die noch zu der opportunistischen Fraktion gehörten, durch die Gewalt der Dinge zur Sozialrevolutionären Fraktion gedrängt werden. Dagegen, wenn Millerand gehen müsste und Jaurès bliebe, so wäre die unausbleibliche Folge die Verschleppung der schleichenden Krankheit, an der die französische Arbeiterbewegung leide.

Die Tatsachen werden alsbald zeigen, ob diese oder jene taktische Auffassung richtiger ist. Einstweilen wollen wir uns ein wenig mit der Rede beschäftigen, durch die Jaurès in Bordeaux für Millerand eingetreten ist. Jaurès erlaubte sich, die Politik der Sozialrevolutionären Fraktion, das heißt die Politik, die Marx, Engels und Lassalle getrieben haben und die heute noch die deutsche Sozialdemokratie treibt, als eine „Politik der Oberfaulheit (suprême paresse)" zu kennzeichnen, als eine Politik, die von jeder Anstrengung entbinde; er bekundete auch damit seine innere Verwandtschaft mit jenen bürgerlichen Demokraten und Liberalen, die genau mit demselben Vorwurf schon vor vierzig oder sechzig Jahren über die bahnbrechenden Vorkämpfer des modernen Proletariats herfielen. Siehe unter vielem anderen die Diatriben, die Schulze-Delitzsch 1863 in seinem Arbeiterkatechismus gegen Lassalle richtete. Dann führte Jaurès in Bordeaux noch einmal das Scheingefecht auf, das er schon in der „Petite République" mit Millerand geführt hat, um endlich den Schein als Schein zu enthüllen, indem er die Ausschließung Millerands als „zugleich brutal, ungerecht und unpolitisch" verurteilte.

Es ist die dritte große Tat, die Jaurès in diesem Jahre vollbringt, und sie krönt würdig die beiden ersten. Betrachten wir zunächst die neue Kampagne, die er in der Affäre Dreyfus eröffnet hat. Ihrem politischen Kerne nach war die Affäre ein Kampf zwischen der bürgerlichen Demokratie und der klerikal-militaristischen Reaktion. In diesem Kampfe die bürgerliche Demokratie zu unterstützen, im Sinne des kleineren Übels, lag gewiss im Interesse der Arbeiterklasse. Aber es ist nun einmal der Fluch der bürgerlichen Demokratie, ihre eigenen Schlachten niemals auszuschlagen; so baute sie auch in der Dreyfus-Kampagne dem halb besiegten Gegner eine goldene Brücke; mit einer allgemeinen Amnestie schloss man einen schwächlichen und im Grunde nur für die halben Sieger demütigenden Frieden und dachte gar nicht daran, die politischen Konsequenzen der politischen Affäre Dreyfus zu ziehen, es sei denn, dass man den Kampf gegen die Kongregationen als eine demokratische Errungenschaft ausspielen will. Die verrottete Militärjustiz treibt noch immer in ungebrochener Kraft ihr mörderisches Werk, und an dieser Versumpfung der Affäre Dreyfus trägt auch Jaurès seinen Teil der Schuld.

Wollte er nun den Fehler wiedergutmachen, umso besser! Was er dann zu tun hatte, setzt Genosse Kritschewski in einem deutschen Parteiblatt sehr richtig auseinander: Er musste die auf einen toten Punkt gelangte politische Entwicklung der Krise Dreyfus weiter zutreiben, er musste die einst hoch und heilig versprochenen und wirklich möglichen reformerischen Folgen jener Krise zu verwirklichen suchen. Stattdessen, was tat Jaurès? Er machte die für den Sozialismus völlig gleichgültige Frage, ob eines der Opfer, die der Moloch der bürgerlichen oder der militärischen Klassenjustiz tagtäglich verschlingt, ob der amnestierte Dreyfus nicht noch eine gerichtliche Rehabilitierung beanspruchen dürfe, zum Gegenstand einer großen Haupt- und Staatsaktion. Dabei wurden wochenlang geheimnisvolle Andeutungen über unerhörte Enthüllungen in die Welt posaunt, Enthüllungen, die sich schließlich, wie Genosse Kritschewski treffend sagt, als „eine halbe Neuheit und eine neue Andeutung" entpuppten, und; wie selbst die enragiertesten Dreyfusisten der deutschen Presse widerwillig zugeben müssen, dadurch nicht wirksamer wurden, dass Jaurès sie auf der parlamentarischen Tribüne möglichst auseinanderreckte. So verlief die große Haupt- und Staatsaktion wie das Hornberger Schießen; Kammer und Regierung beschlossen in holdem Einvernehmen, dass alles beim alten bleiben solle. Diese Probe „praktischer Politik" endete nicht nur mit einer sehr praktischen Niederlage, sondern auch mit einem moralischen Misserfolge.

Kommen wir zu der letzten oder vielmehr zeitlich ersten der drei großen Taten, die Jaurès in diesem Jahre vollbracht hat, zu der in den Spalten der bürgerlichen Presse hochberühmten „Friedensrede", die unter dem Titel „Deutschland und Frankreich" kürzlich auch von A. Südekum ins Deutsche übersetzt und als Broschüre bei Felix Freudenberger in Würzburg erschienen ist. Es liegt uns gewiss vollkommen fern, den Kampf, den Jaurès gegen die französische Revancheidee führt, an und für sich herabzusetzen, wenn wir auch nicht in die überschwänglichen Lobeshymnen einstimmen können, die ihm deshalb gespendet worden sind. Jaurès tut damit nicht mehr, als was die deutsche Sozialdemokratie seit dreißig Jahren unablässig getan hat, indem sie den nationalen Vorurteilen der deutschen Bourgeoisie entgegentrat und die so genannte Annexion Elsass-Lothringens bei ihrem richtigen, und zwar deutschen Namen nannte. Jedes propagandistisch tätige Mitglied der deutschen Partei hat diesen Standpunkt unter mindestens ebenso schwierigen oder noch weit schwierigeren Verhältnissen vertreten, als ihn Jaurès in Frankreich vertritt. Aber wenn man von den aufgeregten Redensarten absieht, die an die bescheidene Tatsache verschwendet worden sind; dass auch Jaurès mit seiner Opposition gegen die Revancheidee die verdammte Pflicht und Schuldigkeit jedes Sozialdemokraten erfüllt, so darf diese Pflichterfüllung an sich gewiss auch nicht verkleinert werden. Es fragt sich nur, wie Jaurès seine Pflicht erfüllt, und da kann man leider das melancholische Geständnis nicht umgehen, dass die Revancheidee an diesem Gegner nicht umkommen wird.

Man sucht in der „Rede für den Frieden", die Jaurès am 23. Januar dieses Jahres gehalten hat, vergebens auch nur nach der Spur eines sozialistischen Gedankens: Sie hätte, ganz so wie sie ist, von dem ersten besten bürgerlichen Schwärmer für den ewigen Frieden gehalten werden können. Das eigentliche Rückgrat der Rede, der Gedanke, dass der mehr als dreißigjährige Frieden, der nunmehr in Europa bestehe, abgesehen von dem russisch-türkischen Kriege, die allgemeine Friedenssehnsucht beweise, ist wörtlich einem bürgerlichen Friedensschwärmer entlehnt, und zwar dem bekanntesten Historiker des Manchestertums. Es war genau dieselbe Argumentation, einschließlich der einen Ausnahme des russisch-türkischen Krieges, womit Buckle in den fünfziger Jahren des, vorigen Jahrhunderts aus einem fast vierzigjährigen Frieden in Europa folgerte, dass der kriegerische Geist allmählich erlösche. Seitdem ist Buckle unzählige Male wegen dieser kopflosen Beweisführung verspottet worden, die auf ein rein äußerliches Symptom hin den ewigen Frieden verkündete, am Vorabend einer zwanzigjährigen Kriegsära und eines militaristischen Aufschwunges, gegen den die vormärzlichen Rüstungen reines Kinderspielzeug waren. Aber Jaurès macht Buckles verwesten Strohhalm zum Haupttragebalken seiner Friedensrede.

Mit einer Einschränkung immerhin! Jaurès sagt, von 1815 bis 1852 hätte sich Europa nur scheinbar eines allgemeinen Friedens erfreut; man dürfe nicht die unaufhörlichen Aufstände der unterdrückten Völker in Italien, in Spanien, in Polen, in Süddeutschland vergessen; so was habe sich seit 1871 nicht wiederholt; es sei wirklich das erste Mal seit Jahrhunderten, seit der Konstituierung der modernen europäischen Staaten, dass sich eine so lange Friedenszeit in Europa habe entwickeln können. Wirklich? Es ist überaus bezeichnend, dass Jaurès die revolutionären Zuckungen gegen die Verträge von 1815 ausdrücklich hervorhebt, aber den sich in der Zeit von 1871 bis 1903 in ungleich kolossaleren Formen entwickelnden revolutionären Klassenkampf des Proletariats nicht einmal sieht.

Hätte Jaurès ihn gesehen, so würde ihm auch ein erstes Licht über die Frage aufgedämmert sein, weshalb die europäischen Regierungen ängstlich den Frieden behüten, sosehr sie sich in waffenstarrenden Rüstungen überbieten. Nun aber setzt er seine Hoffnungen auf den Dreibund und den Zweibund1, die beiden „großen Bündnissysteme", die „als eine erste Organisierung Europas erscheinen, die eine umfassendere Allianz, die europäische Allianz der Arbeit und des Friedens, anbahnen und einleiten". Das geht selbst noch über die durchschnittliche Fähigkeit eines bürgerlichen Friedensschwärmers hinaus. Zum Preise des Zweibundes führt Jaurès weiter aus, dass, sowenig Frankreich immer eine revolutionäre, Russland immer eine konterrevolutionäre Rolle gespielt. Selbst in der Zeit der Heiligen Allianz2 sei Russland mehr als einmal revolutionär aufgetreten; Metternich habe erklärt, die Sendboten des russischen Illuminismus ebenso sehr zu fürchten wie die des französischen Jakobinismus. Also eine jener unzähligen Angstphrasen Metternichs, über die der preußische Historiker Treitschke den bittersten und verdientesten Spott ergießt, genügt für Jaurès, Väterchens revolutionären Geist bewiesen zu sehen! Über die wirkliche Revolution in Russland sagt er: „Es ist unser Recht, unsere Sympathie für die bewundernswerten Arbeiter und die bewundernswerten Studenten, für den großen und glühenden Tolstoi auszusprechen, die für Russland eine Zukunft konstitutioneller Freiheit herbeiführen." Wir müssten uns sehr täuschen, wenn die revolutionäre Arbeiterklasse in Russland nicht ganz etwas anderes will als „konstitutionelle Freiheit" oder das, was der „große und glühende Tolstoi" anstrebt.

Dann führt Jaurès aus, die bürgerliche Revolution von 1789 sei in ihrem innersten Wesen friedlich gewesen; wenn sie dennoch ein kriegerisches Zeitalter entfesselt habe, so sei das ihrer inneren Schwäche geschuldet gewesen; deshalb habe sie an einem Tage der Verzweiflung den Krieg entfesselt wie ein Glücksritter. Das habe nun eine gute Weile gedauert, aber nach einem Jahrhundert der Stürme und Prüfungen verschwinde das Gift des Krieges, das der Revolution eingeimpft worden sei, und das organische Prinzip des Friedens, das sie in sich trage, werde im Gegenteil immer stärker. „Und wissen Sie, was der Friede, dessen wir uns seit einem Vierteljahrhundert in Europa erfreuen, bedeutet? Er ist uns das Zeichen und der Erfolg des Sieges der Revolution." Es fällt uns nicht ein, über diese Redewendungen auch nur ein Wort zu verlieren; wir begnügen uns festzustellen, dass wer so sprechen kann damit beweist, dass er sich gegenüber der sozialistischen Geschichtsauffassung und Weltanschauung noch im Stande wahrhaft rührender Unschuld befindet.

Nach alledem ergibt es sich von selbst, dass Jaurès von seinen unklaren Voraussetzungen zu keiner klaren Schlussfolgerung kommt, dass er nicht mit dürren Worten sagt: Es gibt keine andere Lösung der elsass-lothringischen Frage, als die Herrschaft des klassenbewussten Proletariats diesseits und jenseits der Vogesen. In einer Flut von Worten deutet er vielmehr an, dass, wenn der ewige Friede „alle menschlichen Gruppen von Finnland bis Irland, von Polen bis zum Elsass" beherrschen werde, die Elsass-Lothringer wieder zu Frankreich zurückkehren würden. Dazu bemerkt eine Stimme „von rechts": „Aber wann? Das ist ein Traum." Dieser Zwischenruf ist das erste und einzige klare Wort in der ganzen Broschüre. Wir haben sicherlich nicht das geringste übrig für die französischen Revanchepolitiker, aber dass sie einen Wechsel auf den ewigen Frieden, der im Gefolge der bürgerlichen Revolution – nun gar der bürgerlichen Revolution, die augenblicklich in Europa herrschen soll – als Segen spendender Genius erscheint, nicht akzeptieren wollen, das kann man ihnen wirklich sosehr übel nicht nehmen.

Mit aller flammenden Beredsamkeit dieser Friedensrede hat Jaurès auch nicht einen einzigen bürgerlichen Politiker bekehrt; vielmehr stimmten unter ihrem frischen Eindruck sämtliche bürgerliche Deputierte für die Resolution des Kriegsministers, wonach man sich bis an die Zähne rüsten müsse, um den Frieden zu erhalten. Der tosende Beifall, den Jaurès einheimste, entsprang also nur der Befriedigung der Bourgeoisie darüber, dass ein sozialistischer Redner sich in bürgerlichen Schwärmereien über den ewigen Frieden erging. Diese Befriedigung lässt sich allerdings verstehen; derartige „Friedensreden" von sozialistischer Seite verwirren die mühsam gewonnene Erkenntnis über das Wesen des Militarismus, die sich endlich im internationalen Proletariat durchgesetzt hatte, und zerstören damit die einzige reelle Bürgschaft des Weltfriedens, die es unter den heutigen Verhältnissen überhaupt gibt. Das ist freilich ein „praktischer Erfolg", und noch dazu was für einer!

Nach solchen gewaltigen Leistungen hat Jaurès sicherlich ein wohl erworbenes Recht, über die „Politik der Oberfaulheit" zu schelten, die von den proletarisch-revolutionären Parteien getrieben werde. Oberfaul in der Tat, aber wer?

1 Dreibund – das zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien am 20. Mai 1882 abgeschlossene, erst 1883 bekannt gewordene und immer erneut, zuletzt 1912 verlängerte Bündnis.

Zweibund – gemeint ist hier die am 20. März 1902 von Russland und Frankreich veröffentlichte Deklaration, eventuell auf Maßnahmen zum Schutz Chinas bedacht zu sein, die gegen den englisch-japanischen Bündnisvertrag vom 30. Januar 1902 gerichtet war, in dem beide Seiten sich gegenseitig das „Recht" einräumten, ihre „Interessen" in China und Korea „wahrzunehmen".

2 Gemeint ist das am 26. September 1815 auf Anregung Alexanders I. von den Monarchen Russlands, Preußens und Österreich-Ungarns unterzeichnete Bündnis zur Niederwerfung aller revolutionären und nationalen Bestrebungen in Europa, das die Restaurationsepoche einleitete. So genannt nach dem Manifest, das sich in schwülstigen religiösen Phrasen erging.

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