Franz Mehring‎ > ‎1903‎ > ‎

Franz Mehring 19030218 Ultramontaner Sozialismus

Franz Mehring: Ultramontaner Sozialismus

18. Februar 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 641-645. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 533-537]

Man darf an die Helden des Hungertarifs keinen allzu hohen Maßstab legen, und so mag man sich alle sittliche Entrüstung darüber sparen, dass sie gegenwärtig jedes demagogische Mittel anwenden, um sich bei den Wählern einigermaßen zu rehabilitieren, ehe der Tag des Gerichts anbricht. Auch sind diese krampfhaften Anstrengungen nicht gerade zu fürchten; die Mache ist zu plump, um selbst in den ostelbischen Hinterwäldern verkannt zu werden.

Immerhin gibt es ein Übermaß von Dreistigkeit, an dem man doch nicht ganz schweigend vorübergehen darf. In diesem Übermaß gefiel sich der ultramontane Abgeordnete Sittart, als er in einer der letzten Reichstagssitzungen die Behauptung aufstellte, dass der katholische Bischof Freiherr v. Ketteler zuerst sozialreformatorische Forderungen aufgestellt habe, die dann lange Jahre später von der Sozialdemokratie als Programmpunkte aufgenommen worden seien. Von stürmischer Heiterkeit der sozialdemokratischen Fraktion unterbrochen, schränkte Herr Sittart seine überraschende Kunde dahin ein, der Freiherr v. Ketteler sei nicht der einzige gewesen, der sich in solcher Weise betätigt habe, aber in der katholischen Bevölkerung sei das Wirken dieses Mannes der Ausgangspunkt für eine neue, sozialistische Wirksamkeit geworden. Das hätte sich schon eher hören lassen, wenn Herr Sittart in seinem frommen Sinne der „sozialistischen Wirksamkeit" hinzugefügt hätte: dass Gott erbarm'!

Über Ketteler pflegt in sozialdemokratischen Kreisen mit einer gewissen Nachsicht geurteilt zu werden, und in einem gewissen Sinne auch nicht ohne Grund. Er war wohl ein ehrlicher Fanatiker, hatte vielleicht auch ein gewisses sentimentales Mitleid mit den Armen und Elenden, besaß jedenfalls Schlauheit genug, instinktiv zu empfinden, dass die katholische Kirche sich mit den Volksbewegungen des neunzehnten Jahrhunderts irgendwie abfinden müsse, wenn sie als Macht fortdauern wolle. So hatte er schon im Jahre 1848 einige wohlwollende Redensarten für die Volksmassen übrig. In ihrem wirklichen Werte freilich wurden diese Redensarten durch die Rede beleuchtet, die Ketteler im September 1848 an den Gräbern des Generals Auerswald und des Fürsten Lichnowsky hielt. Diese beiden Ehrenmänner hatten ihre Würde als Volksvertreter so weit vergessen, dass sie als Spione aus Frankfurt geritten waren, um dem Militär die Bewegungen heranrückender Barrikadenkämpfer zu melden; dabei wurden sie bekanntlich von einem empörten Volkshaufen erschlagen. Es war eine Gewalttat, die in ihren Motiven ungleich milder beurteilt werden muss als die raffinierten Morde, die von den deutschen Regierungen an Blum, Trützschler und wie viel anderen braven Volkskämpfern begangen worden sind; Ketteler aber brachte es fertig, in einer heuchlerischen Grabrede den als Liederjan verrufenen Lichnowsky als einen edelsten Märtyrer zu feiern, seine Tötung als ein übergrausenhaftes Verbrechen zu schildern, wie es die Jahrbücher noch keines Volkes befleckt habe, als die wahrhaft Schuldigen aber die großen Philosophen zu denunzieren, die dem Volke den Glauben an Gott geraubt hätten. Eine gleiche Kapuzinade bekommt heute höchstens noch Stoecker fertig.

Jedoch diese Rede machte des Redners Glück. Ketteler empfahl sich dadurch der Reaktion; im Jahre 1848 ein kleiner westfälischer Pfarrer, wurde er 1849 Probst zu St. Hedwig in Berlin und im Jahre 1850 Bischof von Mainz. Mit dem Siege der Gegenrevolution versiegte die Liebe, die aus seinem oberhirtlichen Herzen zu den Arbeitern floss; im Gegenteil, nirgends trieb es die Reaktion der fünfziger Jahre so arg wie in Hessen-Darmstadt unter der Leitung der „Mainzer Geheimregierung", deren belebende Seele eben Ketteler war. Als sich dann nach dem französisch-österreichischen Kriege von 1859 der Liberalismus in Deutschland wieder zu regen, als mit dem preußischen Militärkonflikt die liberale Bourgeoisie beinahe ernsthaft auszusehen begann, als dann Lassalle die deutsche Arbeiterklasse zum Kampfe für ihre Interessen aufrief, da erwachte in dem braven Ketteler wieder die Liebe zu den Brüdern. Vor einigen Monaten hat August Erdmann in diesen Spalten den anonymen Brief mitgeteilt, womit sich Ketteler, recht wie Nikodemus bei Nacht, zu Lassalle schlich; wenigstens die Anfangssätze dieses Briefes mögen hier wiederholt werden, da sie die Mär des Herrn Sittart, dass die sozialdemokratischen Parteiprogramme den Gedankenreichtum des Bischofs geschmälert haben sollen, sogar herrlich beleuchten. Sie lauten: „Verehrter Herr! Ich wende mich an Sie mit der Bitte um Rat in der Arbeiterangelegenheit. Ich verstehe von dieser Frage nicht mehr, als ich mit gesundem Menschenverstande fassen kann. Tiefere Einsicht fehlt mir, obwohl ich das, was die Tagespresse über diese wichtige Angelegenheit bringt, lese, um mir ein richtiges Urteil zu bilden. Ich stehe nicht ganz auf Ihrem Boden. Ich glaube nicht, dass unbedingte Gewerbefreiheit für diesen Stand zum Heile führt. Auch glaube ich, dass religiöse und moralische Potenzen mitwirken müssen, um diesem Stande zu helfen." Zeigen diese Sätze schon, dass Ketteler nicht einmal verstand, wohinaus Lassalle wollte, so zeigt es der Rest des Briefes noch viel mehr. Lassalle sollte ein Projekt ausarbeiten, um fünf kleine Arbeiterassoziationen in einer kleinen Stadt Mitteldeutschlands zu gründen, wofür Ketteler etwa 50 000 Gulden aufbringen wollte. Es war, als ob ein Neuseeländer sich in Hegels Werken vertiefte.

Lassalle ließ sich auf die anonyme Korrespondenz nicht ein, gab aber seinem Nikodemus den wohlwollenden Rat, lieber das Offene Antwortschreiben als die Tageszeitungen über die Arbeiterfrage zu studieren. Leider hat Ketteler diesen Rat nicht oder doch nur halb befolgt, denn als er bald darauf das Standard work des ultramontanen Sozialismus herausgab, die von Herrn Sittart gepriesene Schrift über die Arbeiterfrage und das Christentum, da offenbarte sich sein Mangel an „tieferer Einsicht" in beklagenswertestem Maße. Er lebte noch immer des holden Glaubens, dass Lassalle für die Gewerbefreiheit schwärme, ebenso wie Schulze-Delitzsch. Den Kampf beider Männer schilderte er in folgender formell wie inhaltlich gleich vollendeten Weise: „Sie gleichen einem angeblichen Freunde, der seinen Freund ins Wasser geworfen hat, und nun am Ufer stehend, alle möglichen Theorien darüber entwickelt, wie dieser ertrinkende Mann gerettet werden könnte, für diese ersprießliche Tätigkeit aber, ohne auch nur daran zu denken, dass er ihn selbst in diese Lage gebracht habe, das Prädikat der humansten Gesinnung und rührender Freundschaft in Anspruch nimmt." Von der historischen Notwendigkeit der Gewerbefreiheit hatte Ketteler nicht eine blasse Ahnung; er bildete sich ein, dass die leitende und die radikale Partei, wie er sich ausdrückt, in gleicher Verblendung auf den unheilvollen Gedanken der Gewerbefreiheit verfallen seien, bloß um das Volk unglücklich zu machen und sich dann als sein patentierter Retter aufzuspielen.

Wir heben gerade diesen Punkt hervor, weil er am klarsten und kürzesten zeigt, mit einer wie naiven Unwissenheit der größte Denker des ultramontanen Sozialismus den sozialen Problemen seiner Zeit gegenüberstand. Es fällt uns nicht ein, Ketteler mit Lassalle oder Marx zu vergleichen; wer sich durchaus mit Herrn Sittart lächerlich machen will, mag sich an diesem Vergleich versuchen. Aber auch nur mit Schulze-Delitzsch verglichen, zieht Ketteler durchaus den Kürzeren. In Schulzes manchesterlichen Traktätchen steckt immerhin noch eine größere Kenntnis der Dinge und namentlich auch ein reelleres Wohlwollen für die arbeitenden Klassen als in Kettelers rein demagogischem Gerede. Man wird nicht leicht wieder einen so krassen Eindruck lallender Impotenz erhalten, als wenn man den braven Kirchenfürsten predigen hört: „Lassalle hat recht gegen Schulze-Delitzsch, Schulze-Delitzsch hat recht gegen Lassalle… Beide haben Recht, wenn sie negieren, beide haben Unrecht, wenn sie affirmieren." Ketteler aber glaubte Recht zu haben, wenn er also delirierte.

Selbst hinter den sonstigen reaktionären Sozialisten der Zeit blieb Ketteler mit seinem bahnbrechenden Meisterwerk weit zurück. Einen solchen Nonsens über die Gewerbefreiheit zusammenzuschreiben, wie ihm gelang, hätten Huber und Wagener nicht fertig gebracht; namentlich Huber hat alles, was auch nur entfernt nach der Zunft roch, nicht minder scharf verurteilt, als Schulze-Delitzsch und Lassalle es getan haben. Wagener wieder hat über staatliche Fabrikaufsicht ganz verständige Ansichten geäußert, wovon in der Schrift Kettelers nichts zu finden ist, trotz des Herrn Sittart, der darin etwas von Verkürzung der Arbeitszeit gelesen haben will. Ketteler, der das Privateigentum mit derselben Notwendigkeit als ein Naturgesetz erkennt, wie das Atemholen, der es nicht als Zufall, sondern als Gottes Weisheit erklärt, ob der eine als Kind des armen Tagelöhners und der andere als Kind des reichen Mannes zur Welt kommt, der die Notwendigkeit eines überirdischen Jenseits gerade aus der für ihn unabänderlichen Tatsache folgert, dass die große Masse der Menschen von den Genüssen des irdischen Diesseits ausgeschlossen werden müsse, dieser Ketteler dachte gar nicht daran, den gottgewollten Profit des Kapitalisten durch eine gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit zu schmälern. Unter den fünf „wahren und praktischen Mitteln, dem Arbeiterstand zu helfen", die er empfahl: Invalidensuppen, christliche Ehe, kirchliche Bildung, katholische Arbeiter- und Gesellenvereine, endlich Produktivassoziationen, die von Bettelpfennigen der reichen Leute gegründet werden sollten, unter diesen wunderbaren Mixturen befand sich der gesetzliche Arbeiterschutz nicht.

So stand Kettelers Schrift noch tief unter den Schriften Hubers und Wageners. Damit ist aber die interessanteste Seite des ultramontanen Sozialismus berührt, die Frage nämlich, weshalb er unter allen Sorten des reaktionären Sozialismus die schäbigste ist? Man sollte eigentlich das Gegenteil annehmen. Die katholische Kirche ist eine mächtige internationale Organisation, in der alle Klassen der modernen bürgerlichen Gesellschaft mit starken Prozentsätzen vertreten sind, die also noch am ehesten sich über die Klassenkämpfe dieser Gesellschaft erheben zu können scheint. Aber eben ihre Stärke ist die Schwäche ihres Sozialismus. Da sie keiner herrschenden Klasse wagen darf auf die Zehen zu treten, so kann sie keiner beherrschten Klasse etwas bieten, und den höheren Standpunkt über den Klassenkämpfen der Gegenwart kann sie nur gewinnen, indem sie die sozialen Ideale der Vergangenheit anbetet, mögen sie auch längst im Kehrichtfass der historischen Entwicklung verrotten. Daher die komischen Kratzfüße des Bischofs Ketteler vor der mittelalterlichen Zunft, daher seine possierliche Einbildung, dass unruhige Köpfe wie Schulze-Delitzsch und Lassalle die Gewerbefreiheit erfunden hätten, um die Völker krank zu machen und dann allerlei Wunderkram an ihnen zu verrichten. In diesem Zusammenhang erklärt sich auch, dass Kettelers in heißer Arbeiterliebe rollendes Auge so beharrlich über den gesetzlichen Arbeiterschutz hinweg glitt. In solchen Dingen versteht die katholische Bourgeoisie so wenig Spaß wie die evangelische oder die heidnische; das haben in den siebziger Jahren die Kapläne Cronenberg, Laaf und Litzinger erfahren, als sie, begeistert von Ketteler, aber einsichtiger als dieser, den Aachener Fabrikarbeitern die Vorteile eines gesetzlichen Arbeitstags klarzumachen suchten.

Sie wurden, natürlich unter dem segnenden Beistand der heiligen Kirche, mit einer Energie abgetan, wie nur je ähnliche Frevler in dem Revier, wo die gottloseste Bourgeoisie herrscht.

Heute freilich prahlen die ultramontanen Helden des Brotwuchers mit ihrem Antrag auf den Zehnstundentag einher. Aber sie mögen uns nicht einreden, dass davon etwas in der heiligen Urkunde ihres Sozialismus zu lesen sei. Sie sollten lieber ehrlich sagen, dass sie Wahlschwindel der zwölften Stunde treiben, um den Wählern gerade noch eine Hand voll Sand in die Augen zu streuen. Ebendeshalb kann man heute nicht ohne eine gewisse Sympathie an den Bischof Ketteler denken, weil er in seiner Art ein aufrichtiger Mann war und in seiner sozialpolitischen Hauptschrift vor aller Welt offenbart hat, dass es in den sozialen Kämpfen unserer Zeit keine hilflosere Verlegenheit gibt als den ultramontanen Sozialismus.

Kommentare