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Franz Mehring 19030121 Unverantwortlich!

Franz Mehring: Unverantwortlich!

21. Januar 1903

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 16, 21. Januar 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 526-529]

Der König kann nicht Unrecht tun." Er, der Gesalbte des Herrn, ist von Gottes Gnaden, keinem Sterblichen für sein Tun und Lassen verantwortlich; er ist der Statthalter Gottes in dem Lande, das seiner Hoheit gehorcht, und steht zu Gott in einem ganz besonders nahen, persönlichen, priesterlichen Verhältnis. Das ist die monarchische Idee des spätem Mittelalters und der Periode der Bildung der nationalen Staaten; die heilige katholische Majestät in Madrid und in Wien hatte ebenso religiöse Attribute wie der allerchristlichste König von Frankreich, und in England hat die konstitutionelle Fiktion dem Königtum diese mystische Überweltlichkeit ausdrücklich gerettet. Freilich hatte diese staatsmännische Weisheit den Schalk im Nacken: Wenn der König nichts zu verantworten hat, schloss die englische Bourgeoisie, so hat er auch nichts zu sagen, und umgekehrt sind diejenigen, welche für die Geschäfte allein verantwortlich sind, im Besitze der wirklichen politischen Gewalt. Die Überweltlichkeit, die Unverantwortlichkeit der Krone ist in England als Argument für ihre Machtlosigkeit verwendet worden.

Es ist auch der entgegengesetzte Weg denkbar. Das mystische Gottesgnadentum, die staatsrechtliche Unverantwortlichkeit der Krone kann auch dazu benutzt werden, die Verantwortung für Taten und Reden abzulehnen und die Macht und Einflusssphäre der Krone über die konstitutionellen Grenzen hinaus zu erweitern. Dann lautet die Argumentation dahin, dass, weil der Monarch nach dem Gesetz unverantwortlich ist, alle seine politischen Handlungen seine höchst privaten Angelegenheiten sind, für die er keinem Staubgeborenen Rede zu stehen hat. In diesen widersprechenden Schlussfolgerungen spiegelt sich der tatsächliche Machtkampf zwischen Bourgeoisie und Krone wider, wie er seit mehr als einem Jahrhundert Geschichte geworden ist. Die englische Bourgeoisie hat ihrem Georg III. die politische Macht in langem, heißem Ringen mit der Begründung entwunden, dass er in ihre Staatsgeschäfte nicht dreinzureden habe, weil er ja nicht die Verantwortung dafür trage. Das preußische Königtum Friedrich Wilhelms IV. und Wilhelms I. hat der preußischen Bourgeoisie die faktische Teilnahme an den Regierungsgeschäften mit zäher Hartnäckigkeit verweigert, weil die Macht der preußischen Krone einzig und allein von Gott selbst ausgehe, von dessen Tische die Könige Preußens diese Krone nehmen. Dieser Gedanke ist siegreich geblieben in all den Kämpfen des preußischen Verfassungskonflikts und später im Reich in den Kämpfen um die Ministerverantwortlichkeit. Der jetzige Kaiser hat nur dem tatsächlichen politischen Machtverhältnis Ausdruck gegeben, wenn er in zahlreichen Reden und Aussprüchen seinen persönlichen Willen als das oberste Gesetz proklamiert und z. B. in einer Rede in Koblenz im Jahre 1897 sich auf eine ganz persönliche, allerhöchste Verantwortung berufen hat, „von der kein Minister, kein Parlament, sondern nur Gott allein entbinden kann".

Wir haben also im Deutschen Reich keine „absolutistischen Bestrebungen", sondern wir haben den Absolutismus selbst. Den Absolutismus, gemildert durch einige „moralische Einrichtungen", wie den Reichstag, den Reichskanzler, die verschiedenen Landessouveränitäten mit ihren Gerichtshoheiten; aber alle diese Institutionen haben doch nur so viel positive Bedeutung und wirkliche Macht, als der Absolutismus das erlaubt. Wir haben keine verantwortliche Reichsregierung, sondern nur einen verantwortlichen Reichskanzler, und die Reichsverfassung ist als Verfassung noch weniger wert als sogar die oktroyierte preußische Verfassung vom Jahre 1849. Als die Verfassung des Norddeutschen Bundes zusammengeschneidert wurde, meinte Herr v. Miquel, dieses Ding könne doch höchstens als Notbehelf für die kurzen Jahre eines Übergangs brauchbar sein; später wurde diese norddeutsche Bundesverfassung in der deutschen Reichsverfassung noch weiter verschlechtert, und der „Notbehelf" besteht noch heute! In der liberalen Ära wurde die Diktatur Bismarck als ein Provisorium ertragen, weil Bismarck die Liberalen immer noch mit den Illusionen eines verantwortlichen Reichsministeriums vertröstete. Nach dem Jahr 1878 wurde die Diktatur des Reichskanzlers chronisch, und Bismarck versäumte nie, sich hinter die Souveränität der Krone zu verstecken, wenn sein Hausmeiertum einmal scharf angefasst wurde. Nach Bismarcks Sturz wurde der Kaiser „sein eigener Kanzler", d. h., die einzige verantwortliche Stelle, welche noch zwischen der Krone und der Volksvertretung stand, wurde zu einem einflusslosen Sekretärposten degradiert, der Kaiser war de facto der einzige Herr im Deutschen Reich, und der Reichskanzler und die Staatssekretäre waren nur die Vollstreckungsbeamten seiner Befehle.

Seit gestern hat sich nun auch die letzte Instanz der Reichsinstitutionen, die sich bisher noch einen gewissen Schein von Selbständigkeit gewahrt hatte, dem Absolutismus löblich unterworfen. Der Reichstag hat vor der Unverantwortlichkeit der Krone gekuscht; der Präsident der Mehrheit, Graf Ballestrem, hat entgegen seinen früheren Erklärungen, entgegen dem Brauch des Hauses, in schreiendem Widerspruch mit seiner eigenen Handhabung der Redefreiheit in Sachen des Swinemünder Telegramms1, die Besprechung des Falls Krupp im Reichstag diktatorisch verhindert. Ohne Grund, ohne Begründung, ohne nur auch den Versuch einer Begründung, einfach auf Grund seines persönlichen, diskretionären Ermessens: sic volo, sic jubeo. Es ist rein zufällig und nebensächlich, dass diese präsidiale Willkür gerade beim Fall Krupp sich betätigte; sie hätte nach den Vorgängen bei der lex Kardorff ebenso gut bei jeder anderen Gelegenheit eintreten können. Graf Ballestrem konnte sich darauf verlassen, dass die Mehrheit in diesem Falle die Komplizität des Brotwucherverbrechens nicht verleugnen und ihn nicht im Stiche lassen werde. Er hat recht gerechnet: Die Mehrheit, obwohl anfänglich verdutzt, ließ ihn gewähren; noch mit dem Schmutze der Staatsstreichkampagne befleckt, konnte sie unmöglich der Parteilichkeit ihres Präsidenten in den Arm fallen. Die Reichstagsmehrheit, die den Reichstag zum usurpatorischen Parlament der besitzenden Klassen entwürdigt hat, die ihre Präsidenten zu Geschäftsordnungsbütteln degradiert hat, musste es mit ansehen, wie ihr Präsident als gehorsamer Diener des Absolutismus fungierte. Möglich, dass ihr jetzt ein Seifensieder aufgeht, dass sie begreift, wie der Reichstag mit seiner Politik des parlamentarischen Selbstmordes einzig und allein die Geschäfte der Regierung besorgt hat, dass die Zerstörung der Schranken der Reichsverfassung nur dem Absolutismus zugute kommt.

Doch auch diesen unsauberen Dienst hat der Reichstag dem Prestige der Krone nicht leisten können, ohne diese noch viel schwerer bloßzustellen, als das durch die ausgiebigste und rückhaltloseste Besprechung des Falls Krupp möglich gewesen wäre. Die heillose Angst, mit der man die heikle Affäre der Öffentlichkeit des Gerichtssaals wie des Parlaments entzieht, schreit die unkontrollierbaren Gerüchte über den dunkeln Hintergrund der Affäre in alle Welt hinaus. Das Echo dieses Totschweigens im Reichstag wird gellend aus der ausländischen Presse zurückhallen, und sogar dem deutschen Patrioten wird eine Ahnung davon aufdämmern, dass Banquos Geist ganz andre Leute schrecken mag als die Sozialdemokraten, die ihn ja im Reichstag heraufbeschwören wollten.

Nunmehr hat sich auch die Volksvertretung der Unverantwortlichkeit, der Allmacht des Absolutismus unterworfen. Der Kotau des Reichstags vor der Krone hat jetzt auch einen „Präzedenzfall". Die „Kerls" sind zahm geworden, nachdem sie sich bei der Brotwucherkampagne die Zähne ausgebissen haben, und darum sollen sie jetzt ein kleines Douceur haben, das sie ihren Wählern zeigen können. Und mit rosigem Aufleuchten des speckigen Antlitzes überreicht Exzellenz Bülow dem frommen Parlament die gewünschten Wahlkuverts und öffnet ihm dienstfertig die Türe zum Isolierraum.

1 Telegramm des Kaisers an den Prinzregenten Luitpold vom 10. August 1902, in dem er seine „Entrüstung" über die Mittelverweigerung der Zweiten Bayrischen Kammer (Zentrum) bei der Beratung des Kultusetats und seine „Empörung" über die „schnöde Undankbarkeit" darüber telegrafierte, dass dem Prinzregenten schon geplante Ankäufe für die Staatsgalerie damit unmöglich gemacht wurden. Das Zentrum protestierte, die Depesche würde dem föderalistischen Charakter des Reiches widersprechen und wäre ein Eingriff in die Rechte der Einzelstaaten.

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