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Franz Mehring 19030912 Zum Parteitage

Franz Mehring: Zum Parteitage

12. September 1903

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 211, 12. September 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 611-613]

Wäre nach dem gewaltigen Siege des 16. Juni eine Umfrage unter den Parteigenossen gehalten worden, wie sie sich den Verlauf des nächsten Parteitags dächten, so wäre sicherlich keiner auf die Prophezeiung verfallen, dass in Dresden ein großer Kampf um innere Parteidifferenzen geführt werden würde.1 Wenige Monate nach dem größten Siege, den die Partei je erfochten hat, und zwar dadurch erfochten hat, dass sie in geschlossener Phalanx marschierte, ein innerer Streit, wie er in gleicher Heftigkeit seit den Tagen der Eisenacher und Lassalleaner nicht dagewesen ist – es scheint auf den ersten Blick ein unfassbarer Widerspruch zu sein.

In der Tat wäre es auch ein unfassbarer Widerspruch, wenn diejenigen recht hätten, die da meinen, es sei eigentlich gar nichts vorgefallen, gleichgültige Nebendinge würden aufgebauscht, man solle nicht die kostbare Zeit des Parteitages unnütz vertrödeln, zum Gaudium der Gegner und zum Schaden der Partei; nie dürfe die große Gesamtpartei große Schlachten schlagen um kleine Streitfragen, die sich dieser Parteiführer oder jener Parteischriftsteller in müßigen Stunden ausgeheckt habe. Mit dieser ganzen Argumentation wird der Partei im Grunde das ärgste Armutszeugnis ausgestellt, und ihre Gegner sind denn auch nicht faul zu sagen: Sehet da diese Leute, die eine Welt umwälzen wollen, und nach einem gewaltigen Erfolge, den sie gehabt haben, doch nichts Besseres zu tun wissen, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen!

Wir an unserm Teile denken größer von der Partei und wissen es zu würdigen, dass und weshalb der Dresdner Parteitag trotz des 16. Juni und gerade wegen des 16. Juni zu einer großen Auseinandersetzung innerhalb der Partei führen musste. Nicht als ob wir es vorausgesehen hätten, als ob wir uns in einem wohlfeilen Prophetenruhme sonnen wollten! Wir haben vielmehr, als die Vizepräsidentenfrage zuerst auftauchte, sie als eine harmlose Ergötzlichkeit behandelt und an unserem Teile vorgeschlagen, über diese ewige Revidiererei unserer Parteiprinzipien zur Tagesordnung überzugehen. Nein, kein einzelner und keine einzelnen haben die Bewegung gemacht oder auch nur vorausgesehen, die sich ungestüm aus den Parteimassen selbst erhob und sich in die schlichten Worte kleiden ließ: Wir wollen nicht, dass am Morgen nach einem beispiellosen Siege sofort wieder der alte Hader um die Taktik der Partei beginnt; wir wollen diese Taktik durch einen Beschluss des Parteitags festlegen, wir wollen alle gemeinsam nach gemeinsamem Plane marschieren und kämpfen, gerade um den großen Erfolg vom 16. Juni bis zum letzten Tropfen auszunützen.

Unter diesem Gesichtspunkt erscheint der innere Streit, der den Parteitag beherrschen wird, in dem Lichte, das der Partei durchaus würdig ist. Der Dresdner Tag hat eine so wichtige Aufgabe zu lösen, wie nur je ein Parteitag vor ihm. Möglich, dass es „klägliche Problemchen" sind, an denen er eine große Frage zu entscheiden hat, aber die Entscheidung selbst ist für die Partei wichtiger als irgendein feierliches Geistesturnier, das sich in Dresden unter den erhabensten Formen vollzöge. Dieser Parteitag ist kein Konzil, der diese Grundsätze für heilig oder jene Grundsätze für unheilig erklären soll; er ist ein Kriegsrat, der darüber zu entscheiden hat, ob wir vorwärts marschieren sollen auf den Wegen des Marxismus oder des Millerandismus, ob wir festhalten wollen an der alten revolutionären Taktik, die mit allen Gegnern der modernen Arbeiterbewegung kämpft, um sie alle zu besiegen und die politische Macht zu erobern, die wir besitzen müssen, um die Lohnsklaverei zu zerbrechen, oder ob wir versuchen sollen, durch Bündnisse mit dieser oder jener bürgerlichen Partei, durch Konzessionen und Kompromisse auf den Wegen diplomatischer Kunst einen Anteil an der politischen Macht zu erhandeln, der niemals der entscheidende Anteil sein kann.

So ist die Frage von der Masse der Parteigenossen gestellt worden, und so muss sie in Dresden entschieden werden. Wir sagen: sie muss, denn sosehr wir den Sieg der alten revolutionären Taktik wünschen, so gestehen wir doch, dass der Sieg der entgegengesetzten Richtung uns noch weniger verhängnisvoll erscheinen würde als eine Verkleisterung und Vertuschung der nun einmal von den Parteimassen gestellten Frage. Dadurch würde das innere Leben der Partei auf unabsehbare Zeit vergiftet werden, während eine millerandistische Taktik sich in sehr absehbarer Zeit als unmöglich erweisen und der Partei nur ein paar, freilich kostbare Jahre kosten würde. Wenn wir aber auf eine klare und scharfe Entscheidung drängen, so drängen wir deshalb nicht auf eine Spaltung der Partei. Es handelt sich in Dresden nicht um Prinzip-, das heißt nicht um politische Gewissensfragen; es handelt sich um die Entscheidung einer taktischen Frage, in der sich die Minderheit mit Ehren der Mehrheit unterwerfen kann und nach den bisherigen Überlieferungen unterwerfen muss.

Freie und klare Bahn zu schaffen zum rastlos unermüdlichen Kampfe gegen alle Feinde der Arbeiterbewegung: Das ist die hohe Aufgabe, die der Dresdner Parteitag zu lösen hat und die er, wie wir mit voller Zuversicht hoffen, so lösen wird, dass er sich einen ruhmreichen Denkstein in der Geschichte der Partei errichtet. In der Hauptstadt des roten Königreichs soll die Ernte in die Scheuern gebracht werden, die am 16. Juni geschnitten worden ist, und so heiß der Erntetanz werden mag, die rote Fahne wird höher als je flattern, wenn die Vertreter der Partei nach rühmlich vollbrachtem Tagewerk auseinander gehen.

In dieser Hoffnung senden wir dem Parteitage unsere Glückwünsche und Grüße.

1 Auf dem Dresdener Parteitag von 1903 wurden die Revisionisten scharf zurückgewiesen. August Bebel hielt eine seiner leidenschaftlichsten Reden gegen den Revisionismus und erklärte u. a.: „Die Vertuschung, die Überbrückung der Gegensätze zwischen Proletariat und bürgerlicher Gesellschaft, das ist das Streben, das die Männer, die sich Revisionisten nennen, in der Partei haben. Es ist immer und ewig der alte Kampf, hier links, dort rechts, und dazwischen der Sumpf."

Aber auch auf dem Dresdener Parteitag gab es keinen Bruch mit den Revisionisten, so dass der Opportunismus sein Werk der Zersetzung der Partei fortsetzen konnte.

Mehring hatte auf dem Parteitag eine Untersuchung der gegen ihn erhobenen Angriffe gefordert und seine Tätigkeit für die „Neue Zeit" und die „Leipziger Volkszeitung" bis zur Klärung ruhen lassen. Nach etwa zwei Monaten wurde er Ende November 1903 von der Presskommission der Leipziger Parteiorganisation und vom Parteivorstand aufgefordert, seine Tätigkeit wieder aufzunehmen.

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