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Franz Mehring 19030806 Zur Verwirrung im bürgerlichen Lager

Franz Mehring: Zur Verwirrung im bürgerlichen Lager

6. August 1903

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 180, 6. August 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 579-581]

Im Julihefte der „Preußischen Jahrbücher" veröffentlicht der Herausgeber Hans Delbrück, der bekanntlich Professor der Geschichte an der Berliner Universität ist, eine scharfe und zum Teil wohlbegründete Kritik der drei dicken Wälzer, die Professor Sombart in Breslau über die kapitalistische Wirtschaftsweise herausgegeben hat. Delbrück sagt darin, dass „wer im Denken so wenig geschult und in der Weltgeschichte so wenig zu Hause sei wie Herr Sombart, sich nicht anmaßen dürfe, in dieser Weise philosophische und historische Urteile auszusprechen". In dieser Weise, das heißt in dem hochnäsig herausfordernden Ton, den Herr Sombart sich anzuschlagen erlaubt.

Wir haben über zwei von jenen dicken Wälzern ähnlich geurteilt, als wir sie vor einigen Monaten in unsrer Zeitung ausführlich besprachen. Jedoch in einem wesentlichen Punkte unterscheidet sich Herrn Delbrücks Urteil von dem unsrigen. Wir sahen das tragikomische Pech des Herrn Sombart darin, dass er mit süffisanten Feuilletonmätzchen Marx „überwinden" zu können sich einbildete, während Herr Delbrück das „Unglück" seines Breslauer Kollegen gerade darin sieht, von Marx nicht loskommen zu können. „Wer einmal in die Tretmühle dieses Pseudodenkers hineingeraten ist, der findet sich nicht so leicht zur echten Wissenschaft zurück", meint Herr Delbrück, und um zu zeigen, was diese „echte Wissenschaft" leisten kann, untersucht er in einem andern Artikel seiner Zeitschrift, wie die „sozialdemokratische Gefahr" zu bannen sei.

Herr Delbrück gehört nicht zur Garde der kapitalistischen Scharfmacher, und von neuen Sozialisten- oder Zuchthausgesetzen will er nichts wissen. Er will die Arbeiterklasse gewinnen, indem er die Übelstände aufhebt, unter denen sie leidet. „Es ist ja eine Albernheit zu meinen", so schreibt er, „dass durch bloße demagogische Agitation eine Partei von drei Millionen Wählern zustande gebracht wird, die in andern verwandten Kulturstaaten, z. B. England, nicht existiert. Es müssen große, überaus drückende Beschwerden vorhanden sein: wo sind sie?" Diese Frage, über die sich Herr Delbrück eben aus jedem sozialdemokratischen Wahlflugblatte hätte unterrichten können, macht ihm arges Kopfzerbrechen. Materielle Überlastung mit Steuern? Dies kann so schlimm nicht sein, denn im Ganzen geht es unsern „niedern Klassen" nicht schlechter als anderswo. Die großen Wohltaten der sozialen Versicherungsgesetze werden von ihnen selbst nicht geleugnet. Die beschränkte Teilnahme an der Regierung durch die Klassenwahl wird von den Massen so direkt wenig empfunden. Also was fehlt diesem glückseligen Proletariat? Endlich hat es Herr Delbrück heraus. Es ist die Klassenjustiz. „Das Löbtauer Urteil, das Breslauer Urteil, das Magdeburger Urteil, das Gnesener Urteil, das Flensburger Urteil – es vergeht keine Woche, wo die sozialdemokratische Presse nicht ihren Lesern ein solches Urteil vorführt und in ihrem Sinne kommentiert. Alle Arbeit gegen die Sozialdemokratie, strenge Unterdrückung oder Wohltat, soziale Gesetzgebung und Belehrung, Vaterlandsliebe oder Religion, alles wird keine Wirkung haben, solange nicht ein andrer Geist in unsre Strafkammern eingezogen ist." Hier liegt nach Herrn Delbrück „der eigentliche Knotenpunkt unserer politischen Verwicklung", und er will diesen Knoten lösen, indem ein „gescheiter, vorsichtiger Jurist" als Justizminister angestellt wird, der die einzelnen Fälle der Klassenjustiz nachprüfen und die Gerichte auf die Gefahr dieser Verirrung aufmerksam machen soll. Wenn es einmal wieder heißt: Es gibt Richter in Berlin, dann hat das letzte Stündlein der Sozialdemokratie geschlagen.

Wir haben bei dieser genialen Offenbarung etwas länger verweilt, weil sie eine ergötzliche Probe von der betäubenden Verwirrung gibt, die der sozialdemokratische Wahlsieg in die Reihen der herrschenden Klassen geworfen hat. Die alten Litaneien, wonach die Sozialdemokratie gewaltsam unterdrückt werden müsse oder wonach sie an ihrer inneren Uneinigkeit untergehen werde, wollen nicht mehr ziehen; so jagt man nach neuen „Heilmitteln" des „großen Übels" und verfällt dabei aus einem kompletten Widersinn in den andern. Der Satz, dass zwei mal zwei gleich vier ist, kann nicht klarer sein als der Satz, dass die Klassenjustiz eine notwendige Folge der Klassenherrschaft ist, dass die Klassenjustiz zwar mit der Klassenherrschaft fällt, aber dass sie nie beseitigt werden kann, solange die Klassenherrschaft besteht. Selbst aber wenn sie beseitigt werden könnte, so würden all die andern zahllosen Übel der Klassenherrschaft fortbestehen; der proletarische Klassenkampf würde hier oder da ein wenig mildere Formen annehmen, aber er behielte sonst alle seine Schrecken für die herrschenden Klassen.

Solches Zeug schreibt ein Professor der Geschichte zusammen, der immerhin zu den gescheiteren seiner Zunft gehört und sich in der Tat bis zu einem gewissen Grade von den Vorurteilen seiner Klasse frei gemacht; mitunter sogar ganz verständige Urteile über einzelne Aktionen der Sozialdemokratischen Partei gefällt hat. Wenn sich Herr Sombart revanchieren will, so kann er seinem Kritiker jetzt das Kompliment zurückgeben, dass „wer im Denken so wenig geschult und in der Weltgeschichte so wenig zu Hause sei, wie Herr Delbrück, sich nicht anmaßen dürfe", über die größte Kulturbewegung der Weltgeschichte mitzureden. Aber so geht es den „echten" Denkern, wenn sie ausziehen, den „Pseudodenker" Marx zu entthronen; sie schlagen sich nur gegenseitig die Köpfe ein.

Immerhin soll man sich bemühen, von jedem Gegner zu lernen, und ein Körnlein Salzes enthält auch der Aufsatz des Herrn Delbrück. Er meint, eine sozialdemokratische Reichstagsfraktion von 81 Köpfen sei so sehr schlimm noch nicht, dabei könne der alte Karren noch eine gute Weile weitergehen. Aber drei Millionen sozialdemokratische Wähler, das sei freilich eine sehr brenzlige Sache. Es ist die revolutionäre Bewegung der Massen, die den Gegnern eine so heillose Angst einjagt. Darin liegt ein lehrreicher Fingerzeig auch für uns.

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