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Franz Mehring 19030603 Zur Wahltaktik des Proletariats

Franz Mehring: Zur Wahltaktik des Proletariats

3. Juni 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Zweiter Band, S. 289-292. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 561-565]

Die Frage, die wir vor acht Tagen an dieser Stelle behandelt haben, ist inzwischen dadurch kompliziert worden, dass die liberalen Blätter mit einer angeblichen Äußerung krebsen, die Genosse Vollmar in München und in Darmstadt getan haben soll. Darnach wäre es falsch, wenn sich die Sozialdemokratische Partei von vornherein gegen Handelsverträge festlegen würde, die der Arbeiterklasse die Arbeits- und Lebensmöglichkeit kürzten; sie hätte nach Möglichkeit gegen eine Verschlechterung der bisherigen Handelsverträge zu kämpfen, aber ihren endgültigen Beschluss müsse sie sich vorbehalten.

Wir wissen nicht, ob Genosse Vollmar wirklich so gesprochen hat. Die Behauptungen liberaler Blätter sind noch lange keine Beweise; auch ist es sehr unwahrscheinlich, dass Genosse Vollmar sich in offenkundigen Widerspruch mit dem sozialdemokratischen Wahlaufruf gesetzt haben sollte, den er selbst mit unterzeichnet hat. Allerdings spricht dieser Wahlaufruf nur von einer „entschiedensten Bekämpfung" solcher Handelsverträge, die, auf Grund des neuen Zolltarifs, unsere Handelsbeziehungen mit dem Ausland und die Lebenshaltung der großen Masse der Bevölkerung verschlechtern, aber Vorlagen, die man „aufs entschiedenste bekämpft" hat, schließlich doch zu bewilligen, war bisher nicht sozialdemokratische, sondern nationalliberale Art. Die entsprechenden Sätze des sozialdemokratischen Wahlaufrufs sind deshalb sowohl in der eigenen Partei als auch von den Gegnern so aufgefasst worden, dass die Sozialdemokratie keinem Handelsvertrag zustimmen werde, der die Arbeitsmöglichkeit oder die Lebenshaltung des Proletariats verkümmern würde. In diesem Sinne hatten sich auch die Genossen Bebel und Singer in ihren Wahlreden ausgesprochen, und eben gegen Singer soll Vollmar polemisiert haben mit der Bemerkung, Singer könne unmöglich der Meinung gewesen sein, dass die Partei unter keinen Umständen für Handelsverträge stimmen würde, die jene Folgen hätten. Singer hat sich inzwischen schon beeilt zu erklären, er bleibe dabei; dass die sozialdemokratische Fraktion für keinen Handelsvertrag stimmen könne, durch den Lebenshaltung sowie Arbeitsgelegenheit für die Arbeiterklasse verschlechtert oder verringert werde.

Vom Genossen Vollmar liegt noch keine beglaubigte Kundgebung darüber vor, ob er so gesprochen hat, wie er nach der Behauptung der liberalen Presse gesprochen haben soll. Selbstverständlich liegt es uns durchaus fern, auf Grund unbeglaubigter Äußerungen gegen ihn zu polemisieren, aber da diese Äußerungen von den gegnerischen Parteien ausgebeutet werden, um Zwietracht in die geschlossenen Reihen der Partei zu tragen, so halten wir es für notwendig, die Frage selbst klarzustellen. Darin hat die liberale Presse ja recht, dass Genosse Vollmar, falls er so gesprochen hat, wie er gesprochen haben soll, die Taktik gebilligt haben würde, die von der Bourgeoisie der Arbeiterklasse in dem gegenwärtigen Wahlkampf aufzudrängen versucht wird; hieraus allein erklärt sich schon das einschneidende und tief greifende Interesse, das eine völlige Klärung dieser Frage für sich geltend machen kann.

Der hauptsächlichste und verhältnismäßig auch rationellste Vorwurf, den die liberale Presse an die Adresse der Sozialdemokratischen Partei richtet, ist der, dass unsere Partei die besonderen Klasseninteressen des Proletariats den allgemeinen Interessen oder, genauer gesprochen, der historischen Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte voranstellt. Darauf könnte man zwar erwidern, dass die Arbeiterklasse damit nichts anderes täte, als die herrschenden Klassen auch tun, als das Junkertum tut, indem es Brotwucher treibt, oder als die Bourgeoisie tut, indem sie mit dem Brotwucher paktiert. Allein wenn die liberale Presse meint, dass die Arbeiterklasse eben von höheren Gesichtspunkten aus Politik zu treiben habe als die herrschenden Klassen, so müssen wir für die gute Meinung schon dankbar sein und erkennen sie im übrigen auch gern als richtig an. Die Arbeiterklasse darf nie eine Politik von der Hand in den Mund treiben; sie darf nie so kurzsichtig sein, sich von Augenblicksinteressen auf Kosten ihrer dauernden Interessen blenden zu lassen, und ihre dauernden Interessen fallen allerdings mit der steigenden Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zusammen. Die deutsche Arbeiterklasse hat auch oft genug bewiesen, dass sie in solchen Dingen sehr genau zu unterscheiden weiß; jeder Appell, der in dieser Beziehung an ihre bessere Einsicht gerichtet wird, findet bei ihr offene Ohren.

Jedoch in jener historischen Dialektik, deren unglückliches Opfer die deutsche Bourgeoisie ist, schlägt ihr verhältnismäßig rationellster Einwand gegen die sozialdemokratische Taktik vielmehr in den unwiderleglichsten Grund für diese Taktik um. Nicht, oder nicht nur, nach sozialdemokratischer, sondern auch, und gerade, nach liberaler Auffassung sind die Minimalzölle des neuen Zolltarifs schwere Hindernisse für die höhere Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte; indem die Arbeiterklasse sich weigert, irgendeine Verschlechterung ihrer Arbeitsgelegenheit oder Lebenshaltung in den Kauf zu nehmen, vertritt sie nicht ein besonderes Klassen-, sondern ein allgemeines Interesse der bürgerlichen Gesellschaft, das von deren geschworenem Gegner, dem rückständigen und überlebten Junkertum, in gemeingefährlicher Weise bedroht wird. Das ist auch durchaus kein Geheimnis für die Bourgeoisie; es ist im Gegenteil ihre allertrivialste Weisheit, die man in jedem ihrer volkswirtschaftlichen Kompendien nachschlagen kann. Wenn sie also sagt, die Sozialdemokratie stelle die besonderen Klasseninteressen der Arbeiter dadurch über das Allgemeinwohl, dass sie keine Handelsverträge mit den Minimalzöllen bewilligen wolle, so täuscht sie sich geflissentlich selbst, um andere Leute desto besser täuschen zu können. Vor sechzig Jahren bekämpften die Bright und Cobden die englischen Kornzölle, angeblich, um die Lebenshaltung der Arbeiter zu erhöhen, und tatsächlich, um die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft schneller zu entfalten. Heute werden die deutschen Arbeiter wegen ihres Widerstandes gegen höhere Kornzölle von den Barth und Sonnemann bekämpft, angeblich weil sich in diesem Widerstand ein proletarisches Sonderinteresse verkörpert, während er tatsächlich eine reaktionäre Verkrüppelung der gesellschaftlichen Produktivkräfte verhindern soll. Man muss gestehen, dass die deutsche Bourgeoisie in diesem Vexierspiegel ausnehmend schön erscheint.

Wenn nun aber ihr Scheingrund gegen die sozialdemokratische Taktik verhältnismäßig rationell ist, so entbehrt ihr wirklicher Grund jeder Ratio, jeder Vernunft. Er besteht nämlich in der Tatsache, dass, um mit der „Frankfurter Zeitung" zu sprechen, „der Antrag Kardorff einstweilen geltendes Recht von sehr bedenklicher und gefährlicher Natur ist". Wir brauchen unsern Lesern nicht ausführlich darzulegen, wie der Antrag Kardorff „geltendes Recht" geworden ist: mit Gewalt und Lug und Trug, mit schnödester Niedertretung des parlamentarischen Rechtes. Man sollte denken, dass der bloße Name des Antrags Kardorff genügen müsste, um in jedem Liberalen oder nun gar Demokraten den zornigen Entschluss zu reifen, mit aller Kraft diesem „geltenden Recht", das heißt diesem formell wie materiell gleich hinfälligen Unrecht, das Messer an die Kehle zu setzen, - zumal da wirklich nur ein bescheidener Aufwand von Heldenmut dazu gehören würde. Der Antrag Kardorff ist ein Popanz, vor dem seinen eigenen Urhebern graut und mit dem zu regieren sich selbst ein Bülow und Posadowsky nicht getrauen. Nur die Bourgeoisie empfindet Schauer und Ehrfurcht vor diesem „geltenden Recht", indem sie den Arbeitern sagt:

Was euch der Antrag Kardorff nimmt, das lasst euch ruhig genommen sein, dagegen helft mir, damit ich im Interesse meines Profits das „geltende Recht" ein wenig revidiere.

Wir haben schon vor acht Tagen auf die unheimliche Ähnlichkeit dieser Situation mit der Situation des preußischen Verfassungskonflikts hingewiesen. Wie heute die „Frankfurter Zeitung", so erklärte damals Herr von Unruh im Namen der Bourgeoisie: Ja, das Dreiklassenwahlsystem ist freilich mit Gewalt und Lug und Trug oktroyiert worden, aber nachdem es Seine Majestät beschworen hat, ist es geltendes Recht, und ihr Arbeiter habt euch darein zu finden, dagegen müsst ihr uns helfen, das geltende Recht so zurechtzustutzen, dass wir Bourgeois dabei halbwegs zu unserem Profit kommen. Wie damals die Bourgeoisie schrie: Eine bürgerliche Verfassung um jeden Preis, mögen dabei auch die der Arbeiterklasse geraubten Rechte für immer im Abgrund verschwinden, so schreit sie heute: Handelsverträge um jeden Preis, möge dabei auch die Erhöhung der Lebenshaltung, die sich die Arbeiterklasse in jahrzehntelangem Ringen erkämpft hat, ein für allemal kassiert werden. Allein sowenig wie die deutschen Arbeiter vor vierzig Jahren auf so verräterische Rufe gehört haben, sowenig werden sie es heute tun.

Vor dem Popanze des Antrags Kardorff brauchen sie sich nicht zu fürchten, denn die Kunst, mit diesem Antrag zu regieren, soll noch erst erfunden werden. Soweit er eine wirkliche Gefahr werden kann, wird er es allein durch die Mutlosigkeit der Bourgeoisie, die schon kapituliert, ehe der Kampf begonnen hat. Fügte sich das Proletariat dieser Mutlosigkeit, nähme es auch die Parole auf: Handelsverträge um jeden Preis, selbst um den Preis der Minimalzölle!, so lüde es von vornherein freiwillig auf sich, was ihm im schlimmsten Falle bei Fortsetzung seines Kampfes zustoßen kann. Es wäre eine so schmähliche Kapitulation vor der Schlacht, wie sie zwar in der Geschichte des deutschen Liberalismus unzählige Male, in der Geschichte der Sozialdemokratie aber noch nie zu verzeichnen gewesen ist. Man kann nicht einmal von dem Verhandeln des Erstgeburtsrechtes um ein Linsengericht reden, denn wer bildet sich ein, dass die Bourgeoisie auch nur noch den kleinen Finger für die Interessen der Arbeiterklasse rühren würde, wenn diese Klasse sich von vornherein bereit erklärte, auf ihre Interessen zugunsten des Kapitalprofits zu verzichten? Es handelt sich vielmehr darum, ob das Proletariat, aus eingebildeter Angst vor der Gespenstermalerei der Bourgeoisie, ein kaudinisches Joch passieren oder seinen gerechten Kampf fortsetzen will, auf die Gefahr hin, durch den Verrat der Bourgeoisie in der Tat das zu verlieren, was es jetzt auf ihr Verlangen freiwillig preisgeben soll. In jenem Falle würde es seine politische Ehre wie seine politische Zukunft mit opfern, in diesem Falle aber beide gerettet haben.

Im Übrigen ist die Fortsetzung des Kampfes trotz des „geltenden Rechtes" keineswegs aussichtslos. Innerhalb zweier Wochen werden an die drei Millionen sozialdemokratische Wahlstimmen abgegeben worden sein, und sie fallen schwer genug in die Waagschale, um manchen Popanz in die Höhe zu schnellen. Dem entschlossenen Willen solcher Massen, wenn er sich anders nicht in kleinen Kniffen und Pfiffen, im Ausbeugen und Ausweichen verzettelt, sondern mit geschlossener Kraft auf ein Ziel richtet, das die historische Entwicklung gebieterisch erheischt, widersteht auf die Dauer keine Macht der Welt. Er wächst umso kräftiger empor, je eigensinniger und törichter der Widerstand ist, auf den er trifft.

Die Bourgeoisie scheint des sonderbaren Glaubens zu leben, dass die Arbeiterklasse darum kämpft, unter möglichst erträglichen oder richtiger: unter möglichst wenig unerträglichen Bedingungen ausgebeutet zu werden. Allein darin irrt sie. Die Arbeiterklasse kämpft darum, sich von aller Ausbeutung zu befreien, und deshalb kann sie, wie Genosse Singer treffend gesagt hat, keinem Handelsvertrag zustimmen, durch den die Lebenshaltung sowie Arbeitsgelegenheit für die Arbeiterklasse verschlechtert und verringert werden.

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