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Franz Mehring 19031205 Zwischen Szylla und Charybdis

Franz Mehring: Zwischen Szylla und Charybdis

5. Dezember 1903

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 281, 5. Dezember 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 617-619]

Das Staatsmannspielen wäre eine so angenehme wie leichte Sache, wenn – ja wenn nur nicht die verdammten Finanzen wären. Daran ist schon mancher elegante Leichtfuß umgekommen, der sich vermaß, so mir nichts dir nichts die Geschicke der Völker leiten zu können; sobald das dunkle Gespenst des Bankrotts am Horizonte auftauchte, hatte seine Stunde geschlagen.

Hieran wird nun auch bald die Feuilletonpolitik glauben müssen, die sich im Deutschen Reiche lange genug durchzuwursteln verstanden hat. Es war ihr Glück, dass sie in die fetten Jahre fiel; jetzt wo die magern Jahre gekommen sind, muss sie sich den Hungerriemen anlegen oder auf ein Ende mit Schrecken gefasst sein. Jenes will sie nicht und kann sie vielleicht auch nicht, denn so wie es der Fluch der großen Industrie ist, sich bei Strafe des Untergangs immer weiter ausdehnen zu müssen und niemals zu einem stabilen Zustande zu gelangen, so ist es auch der Fluch der imperialistischen Politik, die sich in dem großindustriellen Zeitalter entwickelt hat und nur in ihm entwickeln konnte. Sie muss immer neue Luftspiegelungen vor den staunenden Blicken der Mitwelt auftauchen lassen; sobald sie stillsteht und stillstehen muss, ist ihr ganzer Zauber dahin.

Die Vorlage, womit der neue Reichssekretär der Finanzen dem Reichstage seine Karte überreicht hat, ist nun aber ein böses Vorzeichen. Sie erscheint freilich ohne die Morgengabe einer neuen Steuer, und sie rühmt sich dessen als eines entscheidenden Vorzugs vor früheren Anläufen neuer Reichsfinanzreformen, allein wenn sie überhaupt einen Sinn haben soll, so ist ihr Zweck, neue Reichssteuern vorzubereiten, da sie die Einzelstaaten von allen Zuschüssen an das Reich möglichst zu befreien sucht. Die Bedrängnis, die den Finanzen der Einzelstaaten durch die Reichsfinanzwirtschaft geschaffen worden ist, mag dringende Abhilfe erheischen, aber es bedarf nur einer sehr einfachen Überlegung, um zu erkennen, dass diese Bedrängnis aus der Finanznot des Reichs entstanden ist und dass sie nur beseitigt werden kann, indem sich das Reich neue Finanzquellen eröffnet.

Dabei zeichnet sich die Vorlage dadurch aus, dass sie sowohl das Zentrum wie die liberalen Fraktionen des Reichstags vor den Kopf stößt. So verwickelt die finanziellen Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten sind, so bieten sie den Ultramontanen doch „föderative" und den Liberalen „konstitutionelle" Garantien. Mit beiden hat es ein Ende, wenn das Reich sich in neuen indirekten Steuern hinreichende Einnahmequellen schafft, um finanziell auf eignen Füßen zu stehen und völlig unabhängig von Zuschüssen der Einzelstaaten zu sein. So wird der neue Reichsschatzsekretär mit seiner Vorlage im Reichstage einen schweren Stand haben, um aus seinem „Windei", wie die liberalen und ultramontanen Blätter sein erstes Projekt unhöflich genug betiteln, wirklich etwas auszubrüten. Wäre so leicht mit den Finanzkalamitäten im Reich und in den Einzelstaaten fertig zu werden, dann wären sie längst beseitigt worden, und es hätte des Herrn Stengel nicht erst bedurft, um ihnen ein Ziel zu setzen.

Das A und O des ganzen Schadens ist nichts anderes, als dass endlich mit den ewigen Rüstungen innegehalten werden muss. Irgendein anderes Heilmittel der Finanzmisere gibt es nicht. Der Moloch des Militarismus frisst schließlich auch das reichste Volk kahl wie eine Kirchenmaus, wie selbst das satte England schon durch den Burenkrieg erfahren hat. Hier und nirgendwo anders ist der Hebel der Reichsfinanzreform anzusetzen. Solange die Regierung auf dem Standpunkt steht: Vor allem andern muss Molochs unersättlicher Heißhunger gestillt werden, und die Mittel dazu müssen beschafft werden, gleichviel woher, solange ist keine Finanzreform möglich, die diesen Namen in irgendwelchem Sinne verdient. Da können keine noch so genialen Finanzkünste helfen, und wären sie selbst viel sorgsamer ausgeheckt als das „Windei" des Herrn Stengel.

Nun mag die Reichsregierung von dieser einzig richtigen Einsicht noch sehr weit entfernt sein, und gerade die Vorlage des Herrn Stengel zeigt, dass sie wirklich noch weit entfernt davon ist. Aber diese Vorlage zeigt auch, dass der imperialistischen Politik vor ihrer Gottähnlichkeit bange zu werden beginnt. Ihre ängstlich-feierliche Versicherung, dass sie keine neuen Steuern in ihrem Schoße berge, gibt zu denken. Stände der Imperialismus noch in seiner Sünden Blüte, so würde er mit naiver Keckheit alle seine Geheimnisse enthüllen, indem er sagte: Ich brauche so zirka jährlich ein paar Hundert Millionen neuer Steuern, um auch ferner an der Spitze der kapitalistischen Zivilisation zu marschieren. Aber so zu sprechen, hat er doch nicht mehr den Mut, und eine solche Forderung zu bewilligen, würde auch die bürgerliche Mehrheit des Reichstags nicht den Mut haben; dazu liegt ihr der Schrecken des 16. Juni noch zu schwer in allen Gliedern.

So trocken die Thronrede war, womit der Reichskanzler die erste Tagung des neu gewählten Reichstags eröffnete, und so trocken die Finanzvorlage auch ist, die der Volksvertretung als erste Gabe der Regierung zugegangen ist, so lässt sich nicht leugnen, dass dadurch die parlamentarischen Arbeiten in dramatisch-packender Art eröffnet worden sind. Die großsprecherische Politik des Imperialismus steht vor einem argen Dilemma. Entweder zieht sie ihre militaristische und marinistische Kralle ein und verzichtet damit auf das nationale und internationale Prestige, ohne das sie nicht leben kann. Oder sie wälzt einen neuen Berg von Steuern auf die frierenden und hungernden Massen und bereitet einen 16. Juni in zweiter und dreifach verstärkter Auflage vor. Zwischen diesem Szylla und dieser Charybdis treibt der lecke Nachen des Herrn Stengel steuerlos einher.

Die Logik der Dinge beginnt, wie immer in der Geschichte, sich rücksichtslos durchzusetzen. Durch allen Taumel einer Politik, die an lärmenden Worten so reich ist wie arm an fruchtbaren Taten, und es wird unsre Sache sein, das Eisen desto kräftiger zu schmieden, je heißer es wird.

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